Abstract
In the age of digital editions, editorial commentary needs to be discussed anew, especially since in practice the classical commentary on a particular passage appears to be a weak point of digital editions. The expected achievements of digital edition commentary (internal and external networking of the knowledge presented in the commentary; linking with standardised data; subsequent use of older, printed commentaries) are measured against the potential of letter commenting, i. e. the fact that letters comment each other; the connection of paradigmatic lemmas, emerging from registers, with syntagmatic lemmas, readable along the sequence of characters, with a favouring of the former option. While previous digital editions of letters were largely based on a print edition that had appeared either in parallel or in advance, future letter commentaries will further open the boundaries between intra- and extramural knowledge. In this context, Georg Vogeler’s concept of the ‘Semantic Digital Edition’ is discussed at the end.
I. Editorischer Kommentar
Theorie[1] und Praxis des editorischen Kommentars gründen auf der Auslegungsbedürftigkeit des künstlerischen Texts, die – bleiben wir bei der Neueren deutschen Literatur – dem Werk nachgeordnete Korrespondenz galt und gilt hingegen selbst vielfach als Kommentar oder als wertvolles Reservoir für einen solchen. Zugleich also Supplement des Werks und Meta-Werk, ließen sich Briefkorpora und einzelne Briefe dennoch auch als auszulegende Texte[2] oder besser: einem Verstehen durch Kontextualisieren zuzuführende Objekte begreifen. Das geschah, seit Goethe seinen Briefwechsel mit Schiller herausgegeben und Heinrich Düntzer ihn kommentiert hatte,[3] immer häufiger. Anhand von Ingeborg Bachmanns Briefwechsel mit Paul Celan könnte der Übergang von editorischer Kommentierung zu Erforschung beobachtet werden.[4]
Kommentare sind zweckhaft, sie wollen „dem Leser eine fließende Lektüre […] ermöglichen“ – doch wer wollte heute die Kriterien hierfür zweifelsfrei benennen? –,[5] sie stiften Ordnung und speichern Wissen[6] – beide Begriffe tragen im Jahr 2025 andere Konnotationen als eine Generation zuvor: Ordnungen beginnen sich einmal mehr als brüchig zu erweisen; als Ort und zugleich als Speicher des Wissens hat sich das Digitale empfohlen und unentbehrlich gemacht – doch ist es mittlerweile nicht mehr naiv, also ohne zugleich daten- wie auch ideologiekritische Reflexion, nutzbar.[7] Dennoch: Hinter das Internet als für jeden zugängliche und längst von jedem genutzte Quelle kann die Kommentierung einer digitalen Edition nicht mehr zurückgehen. Bei aller Kritik trifft heute noch viel mehr als im Jahr 2003 zu, dass, wie damals Hans Ulrich Gumbrecht schrieb, das Internet sich zu einem „elektronisch produzierten fortlaufenden Welt-Kommentar entwickelt“ habe.[8] Daraus folgt sehr grundlegend, dass nicht jede leicht recherchierbare Information in einem digitalen Kommentar verdoppelt werden muss.
Die Rede ist hier von ‚Kommentierung‘, nicht von einem ‚Kommentar‘ (weiter unten auch von ‚Kommentarmodulen‘). Umkreist wird ein Vorgang, aber auch ein Ergebnis, das seinen Entstehungsprozess nicht verleugnet. Die Forschung der letzten Jahre betont, dass die aus der Tradition Lachmann’scher Textkritik heraus geführten Debatten um die Legitimität des editorischen Kommentars beendet oder doch in den Hintergrund getreten seien.[9] Es besteht allerdings auch kein Konsens oder besser: kein Standard (geschweige denn eine ‚Norm‘) hinsichtlich der Inhalte des editorischen Kommentars. Bodo Plachtas zutreffende Forderung, zu kommentieren seien die „sprachlichen und sachlichen Details, die wir zum Verständnis eines Texts als notwendig erachten“,[10] müsste von Fall zu Fall präzisiert werden. Welchem hermeneutischen Credo verpflichteten wir uns, wenn wir Hermetische Lyrik so kommentieren wollten, dass ein Gedicht ‚verstanden‘ wird? Zwei in den Debatten um den Kommentar häufig begegnende Denkfiguren scheinen hier auf: die der Unbegrenzbarkeit und die der Überforderung. Kontexte sind – mit Jacques Derrida – grundsätzlich unbegrenzbar: „Der gesamte Kontext […] ist weder prinzipiell noch in der Praxis beherrschbar. Bedeutung ist kontextgebunden, der Kontext jedoch ist unbegrenzt“.[11] Die Lektürepraxis des Verstehens von literarischen Texten kann niemals auf Vollständigkeit und Endgültigkeit abstellen.[12] Dies maßt sich schon lange keine Textlektüre mehr an, ebenso wenig kann ein Kommentar behaupten, finales Wissen zu bieten. Das Hohelied des unendlichen Kommentars sang, noch im Fahrwasser der Postmoderne, der Romanist Hans Ulrich Gumbrecht – Offenheit, Unendlichkeit, das Enzyklopädische daran, die tendenzielle Anonymität und damit die kollektive, langfristige Entstehung waren ihm wesentliche Pluspunkte.[13] Konnte ein solcher Rekurs auf philologische Ideale leichthin zu umfangreichen Kommentaren führen, so bauten digitale Editionen in der Wirklichkeit eher ihre Quellenreservoirs quantitativ aus, als dass sie ausgerechnet große Kommentierungsleistungen erbracht hätten. Das Arbeiten im Digitalen schwankt zwischen einer Hoffnung auf ‘Linked Open Data’ und der Angst vor Abschaltung und toten Links. Da sich die für Standardisierung zuständige ‘Task Area Editions’ des NFDI-Konsortiums Text+ mit Empfehlungen zu editorischen Kommentaren bedeckt hält,[14] muss die bislang ergebnisoffene Debatte um Kommentierungsstandards fortgeführt werden.
Einige von Plachtas Beobachtungen vermögen optimistisch zu stimmen und sind Anreize zum Weiterdenken unter sich radikal verändernden Bedingungen, erstens die der „Pluralität von Kommentierungsverfahren“,[15] die als vorsichtige Antwort auf die Kommentarabstinenz der großen Historisch-kritischen Ausgaben des 19. Jahrhunderts seit Lachmann gewertet werden kann, zweitens die der Entwicklung „zu einer dynamischen Form fortlaufender Kommentierung“.[16] Dies ist kein Phänomen unserer Tage. Für Gumbrecht ist „Kommentieren eine Tätigkeit und ein Diskurs, bei dem die Unabgeschlossenheit im Wesen der Sache liegt“,[17] Karlheinz Stierle nennt ‚Kommentar‘ die Objektivation dessen, was er als ‚Studium‘ begreift, die wiederholte langsame Lektüre klassischer Texte.[18] Drittens sei noch die Option eines Kommentars als selbstständiger Untersuchung genannt, somit im besten Falle als für sich lesbaren Fließtexts, im Unterschied zur dominanten Form des Stellenkommentars.[19] Mit einer zunehmenden Variabilität von Konzepten der Textpräsentation ergeben sich auch variable Konzepte des Kommentars. Plachta wertet diese doch chancenreiche Öffnung als Kehrseite eines Autoritätsverlustes: „Editionen und Kommentare beanspruchen nicht mehr die Dignität und Autorität, wie es früher einmal der Fall war.“[20] Diese Diagnose ist nichts weniger als beunruhigend, fordert sie doch gegenwärtige Editoren auf, zweckmäßige Kommentierungsverfahren neu zu bedenken, ohne in Abrede zu stellen, dass auch der Kommentator von heute nicht selten auf den Schultern von Riesen steht.
Ein Faktum ist die Verschlankung oder gar das Verschwinden des Kommentars aus der Edition,[21] insbesondere der heutigen digitalen Edition. In seiner empirisch angelegten Studie von 2024 beklagt Christian von Zimmermann diesen in den allermeisten digitalen Editionen anzutreffenden Verlust.[22] Somit wäre die Debatte um den Kommentar zeitgleich mit seinem Rückzug aus der editorischen Praxis erloschen, eine Kreisbewegung zurück zu Lachmann wäre daran abzulesen.
II. Zur Medialität der digitalen Edition
Normierungsversuche für die digitale Edition (also für solche Editionen, die als kritische Repräsentationen von Dokumenten gelten können, indem sie dem digitalen Paradigma verpflichtet sind)[23] stecken implizit in den weit aufgefächerten Rezensionskriterien von RIDE, also der Rezensionszeitschrift des Instituts für Dokumentologie und Editorik.[24] Der Kommentar wird kursorisch abgehandelt, an zwei von drei Stellen in Aufzählungen. Einmal wird gefragt: “What kinds of indexing, commentary and description of the documents and texts are applied?” Einmal wird nach der Qualität des ‚Inhalts‘ (“content”) gefragt, wozu “images, texts, indexing, commentary, context information” zählen. Und nur einmal wird ‚Kommentar‘ näher bestimmt, nämlich als “critical commentary on the textual tradition or the interpretation of texts”. Zwei Konzepte von ‚Kommentar‘ werden also unterschieden: Informationen zur Überlieferung sowie zur Editionsgeschichte und Ansätze zur Textinterpretation. So selbstverständlich das Erstere, so global und anspruchsvoll das Letztere: Liefern Kommentare tatsächlich ‚Interpretationen‘?
Bezogen auf den Umfang der Rezensionskriterien ist der Kommentar eine Lappalie. Wolfgang Straub äußert 2021 im KONDE Weißbuch lakonisch: „Nur ein kleiner Teil Digitaler Editionen weist Inhalte auf, die expressis verbis eine Kommentarfunktion ausweisen“.[25] Ein erweiterter Kommentarbegriff – der in etwa dem Begriff der Metadaten entspricht – schließt „Hyperlink-Materialien, Kontaktmöglichkeiten oder Social Input“ ein, aber auch das gewählte Datenmodell. Eine Minimaldifferenz besteht zwischen Text und Markup, wobei Letzteres bereits „einen interpretativen Ansatz dazu bildet“, also eigentlich bereits ‚Kommentar‘ sei.[26] Von der Wiedergabe einer Unterstreichung über die Metadaten bis zum TEI-Header eines Datensatzes wäre dann alles Kommentar. Knüpft man die Lesbarkeit des edierten Texts an die Beigabe jeglichen editorischen Metatexts, dann ergibt sich zweifellos die nicht triviale Erkenntnis, alle digitalen wie auch alle analogen Editionen enthielten Kommentare. Andererseits liefern die Anreicherung mit Normdaten und die Verlinkung zu externen Wissensquellen tatsächlich wertvolle Informationen.
Solcherlei Proto-Kommentierung unterscheidet sich im Ergebnis – Personen, Werke, Orte, Periodika, Körperschaften u. a. werden zweifelsfrei identifiziert – nicht zwingend von Informationen, die, wie bis dato üblich, auf Recherchen der Editoren beruhen. Sie unterscheidet sich hingegen deutlich vom Anspruch auf einen „literaturwissenschaftliche[n] Vollkommentar“, wie er mit der Düsseldorfer Heine-Ausgabe in Verbindung gebracht wird.[27] Zwar ist die digitale Vernetzung von Wissen ausschließlich an technische Bedingungen geknüpft, doch beruht sie zugleich auf einem doppelten ökonomischen Bonus, den der ‘low hanging fruit’ und dem Prinzip der ‘Linked Open Data’, das Vernetzung als epistemischen Gabentausch zum Nutzen aller Beteiligten verspricht. Der wissenschaftliche Vollkommentar ist hingegen an eine ganz andere ökonomische Bedingung geknüpft, die eines langfristig institutionalisierten Editionsprojekts. Auf beide Ermöglichungskonfigurationen wird zurückzukommen sein.
Die wichtigsten Leistungen des Kommentars in der digitalen Edition dürften stichwortartig wie folgt zu umreißen sein:
Kommentar als Prozess;
Präsentation vernetzten Wissens (interne/externe Informationen, Import/Export, d. h. es gibt ein ‚Innen‘ und ein ‚Außen‘ der Edition, Austausch in beide Richtungen ist erwünscht);
Nachnutzung älterer Kommentare und Nachnutzbarkeit der neu hinzukommenden;
Komplementarität von editorischem Kommentar und Internetrecherche (Google, KI): Kommentiert wird, was nicht durch einfache Suche sofort auffindbar ist;
Vernetzung der Kommentarelemente in der Edition selbst (Querverweise; Registersuchen);
Auffindbarkeit der kommentierenden Ressourcen sichern: Nutzerorientierung bei der Navigation,[28] Begleitung aller wahrscheinlichen Leserichtungen (etwa punktuelle Lektüre, syntagmatische oder paradigmatisch registerbezogene Lektüre).
III. Der Brief als Objekttyp; Briefkommentierung
Briefe zu edieren heißt den Besonderheiten dieser Kommunikationsform, dieses Medien- und Objekttyps Rechnung zu tragen.[29] Die für Überlieferung und Edition übliche Referenzgröße ist nicht der Einzelbrief, sondern das Korpus oder der Cluster. Die Überlieferung eines für eine Edition zusammengestellten Korpus ist häufig fragmentarisch, d. h. grundsätzlich ist mit einem großen Dunkelfeld verschollener Briefe oder nicht (mehr) zugänglicher Briefe zu rechnen. Teils die Verfasserschaft, häufiger die Adressierung und sehr häufig das Absendedatum sind unklar. Ein solches Korpus, etwa sämtliche Briefe eines Absenders, alle zwischen zwei Personen gewechselten Briefe, die Korrespondenz eines Unternehmens, einer Gruppe von Personen usw., bildet niemals ein ‚Ganzes‘, also einen vollständigen Text. Immer werden weitere Briefe derselben oder anderer Personen tangiert, häufig werden einzelne oder viele Briefe des definierten Korpus bereits ediert sein. Mit den Besonderheiten bei der Erhebung von Metadaten – sie definieren einen Brief eineindeutig[30] – hat sich die COST-Action Reassembling the Republic of Letters befasst,[31] die vielleicht höchstmögliche Komplexitätsstufe für die Auszeichnung von Briefen haben die Guidelines der TEI-SIG ‘Correspondence’ erreicht.[32] Es liegt nahe, dass Adressierung oder Datierung ebenso häufig die Praktiken bestimmen wie etwa Versuche, Überlieferungslücken durch das Erschließen unzugänglicher Briefe bis zu einem gewissen Grad zu füllen.[33]
Damit sind zahlreiche Aufgaben des Briefeditors bezeichnet, die im weiteren Sinne auch kommentierende Aufgaben sind. Dass eine Wechselwirkung besteht zwischen dem Erschließen (etwa in Gestalt von Registereinträgen und der Erhebung von Kopfdaten wie Absender, Adressat, Orte, Datum, Provenienz) sowie Kommentieren (etwa in Gestalt erläuternder Stellen- oder Globalkommentare) des Brieftextes, liegt auf der Hand. Zwischen dem Erschließen und dem Kommentieren von Briefen gibt es keine scharfe Trennlinie.
Hierfür ist eine weitere Besonderheit dieses Objekttyps verantwortlich. Privatbriefe sind weder Objekte, die der Schreiber allein für sich erstellt, noch sind sie an eine Öffentlichkeit gerichtet, der ein gewisses allgemeines Vorwissen zugetraut wird. Sie haben vielmehr Teil an einer besonderen Ausprägung primärer Dunkelheit,[34] nämlich dem Wissenshorizont, der Absender und Adressat, und nur diesen beiden sowie möglicherweise noch einem erweiterten Adressatenkreis, gemeinsam ist. Hinweise auf die Entbergung von Hintergrundwissen, das zur fließenden Lektüre der Briefe durch heutige Dritte nötig ist, sind etwa dem weiteren Briefwechsel von Absender und Adressat oder Kontextinformationen zu entnehmen. Damit ist eine Hauptaufgabe der Briefedition bezeichnet, die vermutlich nicht leicht an ein Ende käme, denn der den beiden Korrespondenten gemeinsame Weltausschnitt und damit die die beiden verbindenden Textweltsegmente müssen Dritten gegenüber, zumal bei einer zeitlichen Differenz von Jahrhunderten, nach Möglichkeit als kommentierendes ‘Backgrounding’ rekonstruiert werden.[35] Vollständiges Verstehen durch totalisierendes Kontextualisieren wäre hier eine hehre, zugleich eine müßige editorische Zielsetzung. Die Verstehenslücken der nachgeborenen Leserinnen und Leser werden also niemals auf null zu reduzieren sein. Es ist kaum verwunderlich, dass die Forschung darauf hinweist, dass Briefe ganz besonders intensiv kommentiert werden müssten.[36]
Der Objekttyp Brief verbietet also in der Edition einerseits reine Textwiedergabe, andererseits aber auch weitreichende Kommentierung – es bleibt die Verpflichtung, einen gangbaren Mittelweg nach epistemischen wie pragmatischen Kriterien zu wählen. Gumbrechts These, „daß die Form und die diskursive Anordnung des zu kommentierenden Texts in der einen oder anderen Weise die materielle Form und die diskursive Anordnung des Kommentars prägen“,[37] trifft auch auf den Brief zu und stellt Anforderungen an seine Kommentierung: Der einzelne Brief vermag vielerlei Themen anzuschneiden, die Nennung von Namen oder Werktiteln ins Werk zu setzen, mittels Illokutionen Bekenntnisse, Bewertungen, Handeln, Emotionen auf knappstem Raum auszudrücken und dabei ein umfassendes und dabei implizit bleibendes ‘Backgrounding’ zu betreiben.
Konstitutiv für Briefkommentierungen ist oder sollte sein, dass der Brief als Objekt und Kommunikationsform in mehr als nur intertextuellen Beziehungen zu Vorgänger und Nachfolger beschrieben wird, dass er insbesondere kein Einzelobjekt oder Einzeltext ist und in der Regel auch nicht so überliefert ist. Der einzelne Brief ist potenziell Element, Dokumentation und Artikulation zahlreicher Kommunikationsvorgänge, Knoten in einem Netzwerk vieler Beziehungen. Man könnte zur Rekonstruktion dieser Beziehungen auf der Ebene der individuellen Aussage im Brief beispielsweise illokutionäre Verben wählen wie: grüßen; zum Handeln auffordern; wünschen; ermutigen; (z. B. Gefühle) bekennen; bekräftigen; erklären (deklarativ verstanden).
Folgende Kategorien eines Briefkommentars sind denkbar:
Erhellung von Entstehung und Überlieferung der Handschriften, einzelbrief- und korpusbezogen, also etwa die Umstände des Schreibens, Versendens, Empfangens, Aufbewahrens und Sammelns, zwischenzeitliche Weiterverwertungsprozesse, wie sie die Geschichte der Sammlung Varnhagen[38] exemplarisch kennzeichnen, sowie die für die Edition ausschlaggebende Korpusbildung selbst. Da einzelne Briefe durch vielerlei Relationen miteinander verbunden sein können, sind für die editorische Korpusbildung andere Kriterien denkbar als ‚Briefe als Appendix zum Werk‘ oder ‚alle zwischen zwei Personen getauschten Briefe‘. Für eine kluge, sammlungsbezogene Korpusbildung steht etwa das Projekt Schriftstellerinnen aus der Sammlung Varnhagen. Briefe – Werke – Relationen.[39]
Erhellung sekundärer Dunkelheiten,[40] die auf die Kultur der Entstehungszeit verweisen, also Sprach- und Sacherläuterungen. Kern Letzterer dürfte in der Regel ein Registereintrag sein (Person, Werk, Ort, Periodikum, Körperschaft, ggf. Themen/‚Sachen‘). Nicht selten zählen zu den erwähnten Werken die des Absenders oder die des Adressaten. Ein ausführlicher Briefkommentar liefert (werk-)biographische Erläuterungen. Gemäß dieser dienenden Funktion nehmen in der Editionspraxis Briefe bis heute häufig sekundären und sekundierenden Rang ein. Brigitte Leuschner übte bereits 1994 Kritik an allein punktuellen Anmerkungen zugunsten der „Bündelung oder Summenanmerkung“,[41] gar der „Sammel- oder Gesamtanmerkung“.[42] Zumal das Register als „wichtiges Instrument zur Entlastung des Stellenkommentars und zur Vermeidung von Wiederholungen“[43] hebt sie hervor wie übrigens auch bereits die Problematik der Anordnung von Text und Register aufgrund der Gebundenheit des Layouts an die Vorgaben des Mediums Buch.
Erhellung primärer Dunkelheiten, die auf dem übereinstimmenden Vorwissen der Korrespondenzpartner beruhen,[44] sei es im Rahmen der Korrespondenz (Querverweise), sei es insulär, allein auf eine Textpassage bezogen. Derartige Kommentartexte erfordern oft umfangreiche Recherchen. Diese Kategorie könnte die Königsdisziplin der Briefkommentierung sein, es ist aber auch die in der Praxis am schwersten zu leistende. Praktikabel dürfte vor allem das Anlegen von Querverweisen sein, denn Briefe kommentieren einander – aus heutiger Sicht – gegenseitig, wie Brigitte Leuschner zutreffend festhielt: Briefkommentierung bestehe folglich häufig in Verweisungen, auch auf „Umfeldbriefe“, die dem Editor bekannt, aber nicht Gegenstand der Edition sind oder bereits andernorts publiziert sind.[45]
Ist 1. brief- bzw. korpusbezogen zu bearbeiten, so zeichnen sich bei 2. und 3. zwei Arbeits- und Leserichtungen ab: eine syntagmatische, der Zeichenfolge entsprechend und an einzelnen Stellen den Lesefluss durch eine aufschließende Erläuterung unterbrechend, sowie eine paradigmatische, die einer Verweisstruktur folgt, welche dem Prinzip der Identität oder der Ähnlichkeit folgt oder dem chronologischen Prinzip der Entwicklung. Traditionell entspräche dem eine Registersuche in einem chronologisch geordneten Gesamttext.[46]
Briefkommentare sollten aus den genannten Gründen eher Relationen als Einzelstellen fokussieren. Es entstehen somit Verweisketten und globalere, sich auf mehr als eine Stelle beziehende kommentierende Texte. Zwei Gefahren der intensiven Lokalanmerkungen können damit vermieden werden: die im Grunde unaufhörliche Unterbrechung des Leseflusses bei demjenigen User, der sich ernsthaft auf den Kommentar einlässt, sowie die punktuelle Auslegung von Einzeltextstellen durch den Editor, in summa ein hermeneutisches Überangebot.
Bei einer Unterscheidung zwischen paradigmatischem und syntagmatischem Kommentar ist dem zuerst genannten der Vorzug zu geben. Die Kommentierung geht von Registereinträgen aus, das kann im Einzelfall auch ein Thesaurus mit einem kontrollierten Vokabular aus Sachbegriffen sein.
Entscheidend ist die mutmaßliche Leserichtung der Nutzer, denn es ist kaum je ein ‚ganzes‘ Brief-Werk überliefert, das linear gelesen werden müsste, von einem linearen Kommentar begleitet. Dem Steinbruchcharakter von Briefen korrespondiert das Suchinteresse des Lesers; Briefkommentierungen sollten Suchfunktionen unterstützen und damit wahrscheinliche Leserichtungen begleiten. Sie können aber auch eine chronologische ‚Lesebuch‘-Leserichtung begleiten oder besser noch: vorbereiten, also etwa durch Bereitstellung von Lebenschroniken oder Bandeinleitungen.
Briefe kommentieren erkennbar (bei dichter Überlieferung!) einander, indem Brief B auf Brief A antwortet, häufiger aber, indem Brief C ein Thema aufgreift, auf einer Aussage aufruht, die wir aus Brief A kennen. Das mögen z. B. Informationen sein, über die die Verfasser von A und B sowieso verfügen und die daher vorausgesetzt werden. Briefe, die einem semantisch und pragmatisch dichten Cluster entstammen, lassen sich durch Querverweise erschließen. Unausgesprochene, auch dem Adressaten vorenthaltene Sachverhalte sind auf diese Weise kommentierbar, vielleicht mehr noch als Namen, Werktitel, Orte, sprachliche Eigentümlichkeiten, die explizit sind. Schwelende Auseinandersetzungen zwischen den Korrespondenzpartnern beispielsweise oder auch solche unter Beteiligung Dritter sind also durch Querverweise als primäre Dunkelheiten zu ermitteln. Das einer primären Dunkelheit (z. B. „Konflikt“) gewidmete System von Querverweisen entspricht auf der Ebene der sekundären Dunkelheiten den ebenfalls miteinander verbundenen Registereinträgen. Zwei Gruppen von Commentanda finden die Aufmerksamkeit der Nutzer mittels paradigmatischer Verknüpfung. Zweierlei sollte geboten werden: ein erläuternder Text, der im Idealfall die Bedeutung der im Registereintrag genannten Entität für die Korrespondenten erklärt, sowie das Verweissystem selbst, das den Volltext auf andere Einträge des Paradigmas leicht transparent macht. Eine einschränkende Bemerkung drängt sich hier sofort auf: Bei beispielsweise derzeit fast 12 000 Registereinträgen in der Digitalen Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels (KAWS)[47] kann nur eine kleine Auswahl mit Erläuterungen versehen werden.
Den Blick auf die Register zu richten zeugt keineswegs von einer Oberflächlichkeit, die „eher digitale Archive als kritische bzw. historisch-kritische Editionen“ beträfe.[48] Vielmehr waren Register, so viel Sorgfalt bei ihrer Erstellung doch aufgewendet wurde, stets marginale Bestandteile der Edition, nicht zuletzt weil sie Eigengewächse des jeweiligen Projekts waren und zwar nach dem Textinneren hin rückverwiesen, aber an der Grenze des gedruckten Buches ins Leere liefen. Immer schon hätten sich Leserinnen und Leser dicker Briefbände perfekte Register und Kommentare mit maximalen Querverweisen gewünscht. Der Kommentarband zu Josef Körners Krisenjahre der Frühromantik beispielsweise zollt diesem Bedürfnis in hohem Maß Tribut: Das Kleingedruckte ist ein riesiger Zettelkatalog, der Leser des Kommentars kommt aus dem Blättern nicht heraus.[49] Die im Analogen erschwerte und doch so fruchtbare ‚Verlinkung‘ hätte noch dichter sein müssen, damit auch der Leser eines in der Mitte der Edition angeordneten Briefclusters das nötige Vor- und Kontextwissen hätte erwerben können.
Die ‚Machbarkeit‘ des Kommentars, der zum nicht geringsten Teil das von den Editoren für die Herstellung des Texts ohnehin benötigte Wissen objektiviert und den Nutzern zugänglich macht, hängt mehr als das textkritische Kerngeschäft von ökonomischen Ressourcen ab. Eine Auswahl aus dem Möglichen, die die technischen Gegebenheiten bestmöglichem Nutzen zuführt, ist also unabdingbar. Sie wäre es im Analogen ebenso, wie sie es im Digitalen ist, nur waren die Grenzen der Machbarkeit in quantitativer Hinsicht angesichts eines buchhändlerisch zu verwertenden Endprodukts eng gesetzt.
IV. Kommentierung in der digitalen Briefedition
Dem besagten Steinbruchcharakter von Briefen entspricht in der Regel die Nutzung von vielbändigen Briefeditionen. Volltextsuche und die digitalen Darstellungsmöglichkeiten vielfältiger Vernetzungen brieflicher Informationen kommen für die wissenschaftliche Arbeit mit Briefen wie gerufen. Wir entfernen uns mit dieser Überlegung aber nicht grundsätzlich von jenen nicht wissenschaftlichen Leserkreisen, auf die Christian von Zimmermann zu Recht hinweist, wenn er reklamiert, dass Editionen „immer auf die Nutzung durch Studierende, durch Lehrpersonen und Schüler*innen berechnet sein und unter Wahrung philologischer Standards ihre Inhalte auch vermitteln wollen“.[50] Stabile Weboberflächen werden von Studierenden erfahrungsgemäß intensiver genutzt als die von den Bibliotheken immer zögerlicher angeschafften gedruckten Bücher.
Einige der frei im Netz zugänglichen Briefeditionen begleiten uns nun schon seit deutlich mehr als einem Jahrzehnt. Es fällt auf, dass Umfang und Zuverlässigkeit ihres Angebots von der Vorgeschichte des digitalen Projekts abhängen: Immer noch erweisen sich viele Projekte als Effekt von Retrodigitalisierungen oder mehr oder weniger hybriden Projektkonstellationen, oft mit einer klaren Präferenz der Verantwortlichen für die Buchausgabe. Dies ist nicht zu bewerten, erklärt aber auch Defizite der digitalen Variante, der weniger Aufmerksamkeit zuteilwurde oder die sich als kostenloses Derivat der Buchausgabe zu erkennen gibt, obgleich technisch das Gegenteil der Fall ist. Weiterhin ist erkennbar, dass die Größe des Projekts – etwa: Anzahl an Briefen und ggf. Umfang weiterer edierter Texte – und damit die Opulenz des Kommentars von der Prominenz der institutionellen Anbindung – also: Finanzierung – abhängt. Sprich: An Akademien angesiedelte Langzeitprojekte liefern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch profunde Kommentare. Hierzu fügt sich Stefan Dumonts Erkenntnis, die auf der Analyse mehrerer digitaler Briefeditionen beruht: Der Kommentar werde durch Register „entlastet und ergänzt“, Register wiederum würden durch „Vernetzung mit anderen digitalen Editionen und Publikationen entlastet“. Und: „Der klassische Stellenkommentar nimmt anscheinend in einigen digitalen Editionen gegenüber vorangehenden, gedruckten Ausgaben tatsächlich ab.“[51]
Es geht hier nicht um die Bewertung von Online-Editionen,[52] sondern um Erkenntnisse zur Konfiguration digitaler Briefeditionen unter drei Aspekten: (1) (gedruckte) Vorläuferedition bzw. parallel erscheinende Print-Version der Edition; (2) Akademieprojekt, also Langfristvorhaben, oder andere Förderung; (3) Kommentierung (deren Art und Umfang). Berücksichtigt wurden Briefeditionen zu Carl Maria von Weber, Friedrich Heinrich Jacobi, Ludwig von Ficker, Jean Paul, Alexander von Humboldt, Heinrich Bullinger, Johann Caspar Lavater, Ferdinand Gregorovius, Alfred Escher, Briefwechsel August Sauer – Bernhard Seuffert, Conrad Ferdinand Meyer, Briefwechsel Johann Wolfgang von Goethe – Friedrich Wilhelm Riemer, Schriftstellerinnen aus der Sammlung Varnhagen.[53]
Im Rahmen oder im Umfeld von Akademieprojekten sind entstanden Ausgaben zu Weber, Jacobi, Alexander von Humboldt, Lavater (SNF-Langzeitprojekt), Schnitzler. Mit Stiftungsmitteln wurden Escher und Bullinger gefördert, letzteres Projekt auch unterstützt durch ‘Citizen-Science’-Anteile,[54] DFG-, SNF- oder FWF-Förderung erhielten Ficker, Jean Paul, Gregorovius, Sauer-Seuffert, Meyer, Goethe-Riemer, Sammlung Varnhagen (DFG/NCN). Keine dieser Editionen entstand abseits von Projektförderung, damit sind alle an konkrete Antragsszenarien und Finanzierungszusagen gebunden. Fast alle Projekte setzen auf Print oder kommen von Printausgaben her – nutzen also bereits vorhandene Editionen digital nach. Dies trifft nur eingeschränkt zu auf Ficker, Jean Paul (die ‚Umfeldbriefe‘),[55] Humboldt, Gregorovius, Schnitzler, Sauer/Seuffert, Sammlung Varnhagen. Eine umfangreichere, teils auch methodisch ehrgeizige Kommentierung bieten vor allem Langzeitprojekte (Jacobi, Lavater, Escher, Schnitzler, Meyer), daneben eine prototypische Einzelbriefedition mit einer reichen philologischen Kultur im Hintergrund (Goethe/Riemer). Das Varnhagen-Projekt ist rein digital. Es sind, bis auf die sparsam Themenkommentare bietende Weber-Edition, kleinere und weniger langfristig geförderte Projekte, die dennoch große Textkorpora zu Tage gefördert haben, deren Kommentierung eher knapp ausfällt (Ficker, Jean Paul, Bullinger, Gregorovius, Sauer-Seuffert, opulenter das Varnhagen-Projekt). Ausgerechnet einige dieser Projekte verlinken auf externe Quellen wie die GND-Normdateien der Deutschen Nationalbibliothek,[56] nämlich Bullinger (bietet auch externe Biographica), Gregorovius, Meyer, Schnitzler und Varnhagen (beide: Personen und Orte). Themenkommentare bieten neben Weber vor allem Jacobi – in Gestalt eines ausführlichen philosophischen Begriffswörterbuches, also veritabler Forschung – und Escher (Einführungen aus den gedruckten Bänden). Ein anspruchsvoller Begriffskommentar zu Lavater ist in Vorbereitung. Originell und auch aufgrund des Webseiten-Layouts sehr gut mit der Brieflektüre zu verbinden sind die ‚Themenlinien‘ bei Sauer-Seuffert, welche in die großen Debatten in diesem 1200 Schreiben zählenden Briefwechsel einführen. Es bliebe hier zu ergänzen, dass nicht alle Projekte TEI- oder gar JSON-Export anbieten, wie man das von einer digitalen Edition allerdings erwartet.
Fazit: Die Kommentierung orientiert sich häufig an den Vorzügen der Print-Edition, die marginal oder sublinear punktuelle Erläuterungen privilegiert zuungunsten paradigmatisch angeordneter Commentanda. Erstaunlich wenige Editionen haben zudem einen Pfad zu externen Informationen angelegt. Diese beiden technisch bedingten Merkmale (interne und externe Vernetzung) sind die Türöffner für die Stärken digitaler Kommentierung. In je höherem Maß die digitale Edition vom Buch her gedacht ist, desto weniger bemächtigt sie sich dieser Stärken.
Da weder der Einzelbrief noch das editionswürdige Korpus oder Cluster ein geschlossenes Ganzes bildet, ist auch kein Verstehen eines Textganzen im Sinn der Hermeneutik möglich. Es bleibt also lediglich ein sozusagen „hermeneutische[r] Kommentar, welcher den Sinn einer Textpassage syntaktisch, paradigmatisch und kontextuell einordnete und über den historischen Abstand hin verständlich hielte“[57] – es ginge um Teile, die zu einem Ganzen nicht finden wollen; der hohe Anspruch würde durch Mikrokommentare eingelöst, und an die Stelle einer kommentierenden Briefinterpretation träte eine mikrologische Philologie, wie sie das 19. Jahrhundert erstmals gekannt hatte. Das Ergebnis könnte sich gleichwohl sehen lassen – sofern die Stellenkommentare durch Querverweise und externe Informationen angereichert würden, also weder bei der Einzelpassage stehenblieben noch den Anspruch der Interpretation erhöben.
Die beiden Kommentartypen, die hier in Rede stehen (syntagmatisch-hermeneutisch-historisch und paradigmatisch-klassifikatorisch), hat Michel Foucault in Les mots et les choses beschrieben. Die klassische Episteme der Repräsentation habe in ihrer „Sorge um Klassifikation“ Ordnung als Ontologie gestiftet, ihrer „Idee der ungetrübten Repräsentierbarkeit der Welt im System“ gehuldigt. Erst für das 19. Jahrhundert setzt Foucault bekanntlich den Menschen und seine Geschichtlichkeit an.[58] Den Begriff des Kommentars lässt er für die Episteme der Ähnlichkeit in der Renaissance sowie die der Geschichte im 19. Jahrhundert gelten – die Klassik wolle nur das Funktionieren der Systeme untersuchen und ihre Verknüpfungsregeln ermitteln. Insofern ist sie an Ontologien interessiert, weniger an Stellenkommentaren.[59] Foucaults Entscheidung gegen den Kommentarbegriff für die Zeit der Klassik – er spricht hier von ‚Kritik‘ – hat Jürgen Fohrmann wiederum konterkariert mit der Ableitung eines erweiterten Kommentarbegriffs, der Relationen statt nur die ‹énoncés› in ihrem Nacheinander betrachtet, der „ihre Formierung zu analysieren versucht“,[60] statt Tiefenhermeneutik zu betreiben. Für Fohrmann ist alles Kommentar, auch die Klassifikationen der Klassik. Ein solcher Kommentar „realisiert Bedeutung, […] ist Ordnung und stellt zugleich Ordnung her, wenn er klassifikatorisch (Gattungen…), temporal (Epochen…) oder personal (Autor, Werk…) zuschreibt“.[61] Mit der in diversen Metadatenkategorien vollzogenen Klassifikationsleistung ist die Ausgangsbasis für einen vernetzten digitalen Kommentar geschaffen: Kopf- und Registerdaten, möglicherweise bis hin zu einer thematischen Erschließung, beschreiben den Brief bis zu einem gewissen Grad – summarische erläuternde Texte führen vom Begriff wieder hin zu den Briefstellen, die ihm zugeordnet sind, und nach Möglichkeit auch aus dem Brief selbst hinaus. Vermieden wird ein Kommentar, der zur Interpretation wird, Text zu paraphrasieren droht und Bedeutungsüberschuss erzeugt, zugunsten eines, laut Stierle, antipodischen Modells, dessen Aufgabe lautet “removing the veil from the work itself”.[62]
Syntagma und Paradigma als Kommentar – beides muss im digitalen Kommentar nebeneinander und miteinander geschehen, auch wenn er die besten technischen Voraussetzungen für die Darstellung alles Paradigmatischen bietet. Freilich wird man von keiner der klassifikatorischen Bemühungen erwarten dürfen, dass sie die symbolische Sprache der Literatur, Ambiguität und polyseme Strukturen repräsentieren. Ontologien und auf ihnen gründende Thesauri zu einzelnen Klassen werden ästhetische Effekte, die durch rhetorische Phänomene wie Ironie oder Paradoxie entstehen oder gar komplexere Schreibweisen wie durch Intertextualität oder Schreibweisen der Übertreibung generierte Mehrdeutigkeit nicht einfangen können. Doch auch Stellenkommentare sind nicht der Ort für Interpretationen, die die Literarizität von Briefen der Romantik oder der Klassischen Moderne ein für alle Mal ‚abklären‘ wollten.
Als Kommentar gelesen knüpfte z. B. das Werkregister an ein durchaus vormodernes, systemisches Verständnis von Enzyklopädie[63] an, es trägt bei zu einer Ontologie, die möglichst viele Merkmale eines Briefkorpus relational beschreibt.[64] Lassen sich diese Kommentierungsaufgaben listenförmig abarbeiten, so erfordern die Querverweise ein netzförmiges Arbeiten, bei dem das Briefumfeld – wie wir es von der Jean-Paul-Edition her kennen[65] – ebenfalls Beachtung finden muss.[66] Zur Wechselseitigkeit des Kommentierens tragen neben ‚Umfeldbriefen‘ auch Briefbeilagen[67] sowie als Platzhalter ‚edierte‘ erschlossene Briefe bei.
Auch eine Kommentierung von ‚Themen‘, Auseinandersetzungen, Debatten, die in Briefen mitgeteilt, erläutert und auch mittels Sprechakten ausagiert werden, lässt sich aus einem Register gewinnen, aus einem – in der Sprache der digitalen Geisteswissenschaften – weniger ‚kontrollierten‘[68] Vokabular, nämlich aus einem Sachregister. Sind die genannten Register gleichsam kontrollierte Vokabulare, insofern wir anstreben, alle Personennamen, alle Werktitel etc. eineindeutig zu benennen, so kann uns dies nicht, weder mit qualitativer Lektüre noch mit quantitativen Mitteln, bei den Sachen, den Themen gelingen. Auswahl, Erschließungsverfahren sowie Versprachlichungs- und Präsentationsmodi müssen individuell begründet werden. Im Unterschied zu œuvrebezogenen Handbüchern und Lexika stehen ausschließlich die Briefe und ihre Lesbarkeit im Mittelpunkt, nicht die Erklärung der Werke oder die Biographien der Personen.
V. Kommentierungsaufgaben und Kommentarmodule
Briefe könnten ‚anders‘ als in der analogen Welt und differenzierter ausgezeichnet werden, so nennt der Ergebnisband des EU-Projekts Reassembling the Republic of Letters “Agents and Events”.[69] Welche Ereignisse sind mit Briefen verbunden, wer handelt oder soll handeln und was soll geschehen? Das Markup steht zunächst aus technischen Gründen im Zentrum der Arbeit an digitalen Editionen, die Unterscheidung von Text und Markup ist konstitutiv für sie.
Die Aufgabe des Auszeichnens von Text reicht von der Markierung von Unterstreichungen über Kopf-, Registerdaten und den Header der jeweiligen Datei bis hin zu langen, etwa kommentierenden Fließtexten. Indem Text und Markup einander gegenüberstehen, das Markup aber grundsätzlich seriell zu füllende Kategorien einführt, von ‘linebreak’ bis zu Verweisen auf das Personenregister, kommt die Arbeit im Digitalen einem paradigmatischen Edieren entgegen. Wiederholung (Kopie) und Zitat sind nun einmal Kennzeichen des digitalen Texts. Einer Kombination aus Zeichen ‹en masse› und schematisierten Metadaten kann sich das digitale Edieren kaum verweigern, sie ist ihm sozusagen eingeboren. Wenn es um Briefe geht, bedeutet dies, dass die oben skizzierten Eigenheiten der vielfältigen Vernetzung des einzelnen Briefs und seiner Daten nicht zuletzt mit anderen Briefen nun vorrangig Beachtung finden sollten, dass wir uns also, wie bislang noch nicht sehr häufig geschehen, von der Personaledition abwenden. Ein frühes, auf ein kleineres Korpus begrenztes Beispiel hierfür ist die Edition Berliner Intellektuelle um 1800.[70]
Mit der Unterscheidung zwischen Text und Markup geraten plötzlich die Register ins Visier. Mit dem Wunsch nach Standardisierung und Nachnutzung scheint es so, als hielte, insbesondere in Verbindung mit Normdaten, eine weitgehende Schematisierung von Sprache Einzug, wohingegen der ‚klassische‘ Kommentar eine große Bandbreite an Artikulationsmöglichkeiten bietet.[71] Da sich Briefe besonders gut durch anschlussfähige Metadaten erschließen lassen, ist die Versuchung groß, weitestgehend vom Korpus, einem großen Korpus, auszugehen und Arbeit am Kommentar einzusparen. Man könnte zudem so argumentieren, dass digitale Editionen unweigerlich als menschen- und maschinenlesbare Zeichenketten nicht allein für die menschliche Lektüre gemacht sind, sondern auch für maschinelle Auswertungen, das, was Franco Moretti ironisch ‘distant reading’[72] nannte und in der Forschungspraxis mit ‘Close Reading’ oszilliert.[73]
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass nicht der, sondern ein Kommentar erarbeitet wird, möglicherweise aufgesplittet in Module, die mehr dem genannten paradigmatischen Prinzip folgen als dem syntagmatischen individualisierten Stellenkommentar. ‚Erschließung‘ und ‚Kommentierung‘ sind dabei nicht klar zu trennen,[74] sie unterscheiden sich lediglich graduell. ‚Modulförmigkeit‘ kann heißen, dass auf der Vergabe von Kopf- und Registerdaten nach vorgegebenen Prioritäten aufgebaut wird:
Am Anfang stehen Kurzbiographien zu sämtlichen Korrespondentinnen und Korrespondenten und deren brieflichen Beziehungen zueinander,
es folgt eine tiefere Erschließung von erwähnten Personen und Werken. Das Projekt Korrespondenzen der Frühromantik unterbreitet den Vorschlag, nach dem Muster ‚A grüßt B‘ Subjekt-Prädikat-Objekt-Strukturen aufzubauen, sogenannte „Konnexionen“, die Subjekt (meist den Absender) und Objekt (eine Person, ein Werk, ein Periodikum oder eine Körperschaft) mittels eines kontrollierten Vokabulars aus Illokutionen und Propositionen (Verb plus erläuterndes Substantiv) zu verknüpfen und auf diese Weise an den Registern orientierte standardisierte Aussagen aus den Briefen zu gewinnen, die menschen- wie auch maschinenlesbar sind.[75]
Weitere Module können sich zunächst Aufgaben paradigmatischen Edierens zuwenden, also Registereinträge mit Erläuterungen versehen,
Themenkommentare mit Querverweisen und über das Briefkorpus hinausgehenden Erläuterungen erstellen,
Informationen zur Entstehungs-, Sammlungs- und Editionsgeschichte einzelner Cluster mitteilen,
umgekehrt die externe Nachnutzung der eigenen Forschungsdaten gewährleisten (durch TEI-Download),
verschollene Briefe sowie Briefbeilagen erschließen und dokumentieren.
Ein mehr global auf Einzelbriefe denn lokal auf Briefstellen zielendes Verschlankungsinstrument ist der Themenkommentar, der mit einem Lemma auf zahlreiche Briefe referiert. ‚Themen‘ können aus allen Registern gewonnen werden: Eine erwähnte und natürlich auch eine schreibende oder adressierte Person kann ebenso wie ein Werk, eine Zeitschrift oder eine Institution Thema vieler Briefe sein. Grundsätzlich entsteht so ein Nachschlagewerk, das auch unabhängig von der Edition Bestand haben kann. Es wird sich Gelegenheit bieten, von der Forschung Vernachlässigtes stärker zu erschließen, etwa: Familie und Privatleben, Informationen zu Frauen, Kindern und Dienstboten; Geldangelegenheiten, generell Alltägliches.[79]
Mitunter könnte von einem Brief ausgegangen und es könnten dessen Vorlauf und Nachgeschichte dargestellt werden. Diese Artikel sollten nicht nur der Verhandlung des Themas in der Korrespondenz folgen, sondern auch externe Information aufnehmen, kurz einführen und mit bibliographischen Verweisen schließen. Gewinn eines solchen Verfahrens für den Nutzer einer digitalen Briefausgabe ist, dass er vom Kommentartext aus die einschlägigen Briefstellen aufsuchen kann, die für ihn nun in Beziehung zueinander gesetzt sind, und umgekehrt. Der Themenkommentar ist keine Errungenschaft der digitalen Edition, erzielt aber im digitalen Medium besondere Effekte, nicht zuletzt die des mühelosen Oszillierens zwischen Brief und Metatext.
Zu Recht beklagt wurde in den letzten Jahren „die nicht unproblematische Tendenz, hochindividualisiertes Wissen durch standardisierte Information zu ersetzen“.[80] Allerdings stehen wir am Scheideweg zwischen individualisierter und stärker standardisierter Kommentierung: Im digitalen Medium ist Letzteres unverzichtbar, ob am Ersteren ‹malgré tout› festzuhalten wäre, entscheiden vor allem Umfang, Schwierigkeitsgrad und institutionelle Rahmung, d. h. die Frage, wie plausibel unter institutionell vorgegebenen Bedingungen die Fertigstellung der jeweiligen Edition ist, wenn intensiv kommentiert würde. Ein ‚Sachverhalt‘ oder die Bedeutung einer erwähnten Person oder eines Werks kann oft aus der Korrespondenz selbst heraus erläutert werden, eine umfassende Rekonstruktion des auf oft viele verschiedene Thematiken bezogenen sprachlichen Handelns in einem Brief erforderte einen Kommentarumfang, der den des Briefs mindestens erreicht. Er hätte z. B. von einer Paraphrase der zentralen Aussagen in einer Abfolge Subjekt – Proposition – illokutionäres Verb (Prädikat) – Objekt auszugehen. Dieser Satz wäre oft weiter zu erläutern, da an sprachlichen Handlungen wie ‚Manuskriptabschluss fordern‘, ‚Autorschaftsattribution vorschlagen‘, ‚Gerücht anzweifeln‘, ‚Werk oder Person negativ bewerten‘, ‚literarischen Skandal beklagen‘, ‚Diskretion erbitten‘ mehrere Akteure, Vorgänge, Texte beteiligt sind: Zu erläutern wären die Entstehungsumstände einer Publikation, das Rätselraten um die Autorschaft eines anonym oder pseudonym erschienenen Texts, die Debatte um politische oder literarisch-publizistische ‹On-dits›, Bewertungen gelesener Texte vor dem Hintergrund der allgemeinen Rezeption dieser Texte. Es bedarf keiner Begründung, dass ‚Skandale‘ oder die Erwartung von ‚Diskretion‘ kommunikativ hochkomplexe Vorgänge sind, im Zuge derer Parteibildungen und langwierige Fehden an der Tagesordnung waren. Dennoch ist Patricia Zihlmann-Märki grundsätzlich Recht zu geben, wenn sie fordert: „Dokumentation, Erschließung, Kommentierung im engeren Sinn, bestmögliche Vernetzung und Bereitstellung verschiedener Nutzungsfunktionalitäten gehören zu einer zeitgemäßen digitalen historisch-kritischen Edition.“[81]
Ist die Nachnutzbarkeit von Forschungsdaten ein zentrales Thema in der digitalen Edition, so gilt dies nicht nur für Metadaten generell, sondern auch für Kommentare im engeren Sinn. So moniert Plachta, dass aus Kostengründen veraltete Kommentare oft nicht revidiert worden seien, alternativ seien ältere Kommentare häufig „ausgebeutet“ worden. Plachta empfiehlt die Nutzung und Ergänzung alter Kommentare mit der Maßgabe einer gewissen „Offenheit“.[82] Zu den Aufgaben der digitalen Briefedition zählt die Sichtung und dokumentarische Nachnutzung älterer, viel genutzter Kommentare, selbst wenn sie stellenweise überholt sein sollten. ‚Nachnutzung‘ bedeutet hier, Kommentarstellen für den heutigen Leser an der richtigen Stelle explizit und problemlos zugänglich zu machen. Das digitale Medium „unterstützt […] gerade die Offenheit der Textsorte Kommentar und schafft damit die Voraussetzung für eine größere Akzeptanz beim Benutzer“.[83]
VI. ‘Semantic digital edition’ als Antwort auf das Problem der Nachhaltigkeit
Die Kommentierung und die maschinell durch Netzwerkforschung, Stilometrie, ‘Topic Modeling’ oder andere Verfahren erfolgende Analyse von Kopf- und Registerdaten sind in der digitalen Briefedition nicht scharf zu trennen. Auch die Grenzen zwischen editionsinterner und -externer Information werden zugunsten der Nutzung überschritten. Leicht zu haben sind nach dem Aufbau eines Knowledge-Graphen Netzwerkanalysen zu allen Annotationen, aber auch zu den Volltexten, oder weitere Visualisierungen wie Karten oder Timelines. Im besten Sinne bewahrheitet sich Plachtas Diagnose einer Tendenz zur „reinen Textdokumentation“, damit auch zu „variablere[n] Kommentarkonzepte[n]“.[84] Eingeschlossen ist in diese Aussage die Problematik der Nachhaltigkeit, die allein durch die Verdatung der Edition in Maßen lösbar erscheint: Auch wenn Netztechnologien andere Lebenszyklen haben als Editionen, so bleiben doch die Forschungsdaten der Editionen erhalten und sind unbegrenzt nachnutzbar.[85] Das von vielen beklagte (Un-)Wesen der Annotation schafft, so Isabel Langkabel erfrischend deutlich, „ein nützliches Informationssystem“ für die Forschung.[86]
Aus der Summe der Informationen über die Briefe einer Edition – also alles außer den Textdaten selbst – kann eine (wiederum in Teilen nachnutzbare) Ontologie entstehen, also ein „formale[s] Begriffssystem[ ] zur Modellierung von Wissen“[87] zwecks maschineller Verarbeitung, das aus Klassen wie Absender, Adressat, erwähnte Person, Datum (in die die annotierten Werte eingeordnet werden können) besteht, aus den Attributen der Klassen und ihren Relationen.[88] Die bei der Erhebung von Kopfdaten, bei der Erschließung der Briefe mittels Registerdaten sowie bei der Kommentierung (Themen- oder Stellenkommentare) gewonnenen standardisierbaren Daten fließen in eine solche Ontologie ein.[89] Graphentheoretisches Instrument der Verknüpfung diverser Klassen von Daten ist der ‘Knowledge Graph’.[90] Ein derartiges semantisches Netzwerk vermag Entitäten und die Beziehungen zwischen ihnen darzustellen. Auch wenn an der Formulierungsfreiheit bei jeglichem kommentierenden Fließtext festgehalten werden sollte, muss es gleichwohl das Ziel sein, möglichst viel Information standardisiert zu formulieren, um damit das ‘Semantic Web’ im Gegenstandsbereich der jeweiligen Edition voranzubringen und den Austausch mit anderen Projekten zu suchen.
Entitäten des Projekts sollten nicht „mit unkontrollierten Onlineressourcen“[91] verknüpft werden, doch ist Christian von Zimmermann auch darin Recht zu geben, dass gegenwärtige digitale Editionen weder die Möglichkeit interner Verlinkung über Register (und über Kommentarpassagen) noch „externe biografische oder bibliografische Datenressourcen sinnvoll nutzen“.[92] In der Tat: Die Grenzen zwischen ‘Open-Access’-Edition und dem ‘World Wide Web’ müssen noch stärker geöffnet werden als bisher, ein Datenfluss in beide Richtungen muss in Gang gesetzt werden. Erst dann wird die digitale Edition aufhören, sich an den Beschränkungen des Mediums Buch festzuklammern und das technisch Mögliche realisieren. Der damit vielleicht verbundene Wagemut wächst mit jedem Projekt, das auf Printkomponenten gänzlich verzichtet.
Die Vision der automatischen Extrahierbarkeit jener Daten, die die aus einer Edition zu gewinnenden Informationen repräsentieren, hat Georg Vogeler mit dem Begriff der ‘assertive edition’ verbunden.[93] Als Historiker räumt er ein, dass ihn die eindeutigen Informationen seiner Quellen interessieren, weniger die arbiträre sprachliche Gestaltung. Die Literaturwissenschaft wird diese Auffassung niemals zur Gänze teilen und nie allein mit strukturierten Daten arbeiten wollen, doch ist auch sie mit primär informationshaltigen Textsorten wie namentlich der Kommunikationsform Brief einerseits, Lexika, Handbüchern, Registern, Listen andererseits befasst.[94] Briefeditoren (und vielleicht alle Editoren) sind immer auch Historiker. ‘Assertive edition’ umfasst neben der graphischen Benutzeroberfläche Datenstrukturen, die versuchen den edierten Text mit einer Datenbank aus Aussagen zu verbinden.[95]
Das gegenwärtig entstehende DFG-Projekt Korrespondenzen der Frühromantik schließt hier an, da es bis auf editorische Lückenschlüsse und die Erschließung verschollener Briefe vor allem gedruckte Briefeditionen nachnutzt, dabei konsequent annotiert (auch mit einer semantischen Komponente),[96] die Daten einer Auswertung durch Netzwerkforschung zuführt sowie externe Daten nutzt wie auch die Nachnutzung der eigenen Daten empfiehlt, zunächst durch correspSearch.[97]
Da das Projekt um das ‘Semantic Web’ herum konzipiert ist und dem ‘Linked-Open-Data’-Gedanken folgt, ist das Etikett ‘Semantic Scholarly Digital Edition’ angemessen. Der u. a. von Elena Spadini[98] diskutierte Begriff geht auf die Bologneser Edition des Notizbuchs des italienischen Politikers Paolo Bufalini zurück:
In order to represent and enhance the complex network of relationships among the texts and the authors of the notebook, the research team decided to produce a digital scholarly edition that exploits Semantic Web technologies. The result is an edition based entirely on linked open data which:
uses persistent URIs to identify resources and the relationships between them […]
uses existing ontologies for the organization of information […]
serves data through content negotiation and makes them searchable through a SPARQL endpoint equipped with a graphical interface.[99]
Im ersten und zweiten Punkt folgt das Projekt Korrespondenzen der Frühromantik diesem Konzept, einfache Recherchen und der Download von TEI-Dateien sind über die Benutzeroberfläche bereits möglich. Zum ‘Semantic Web’ trägt das Projekt neben dem bereits aufgesetzten (und ab 2025 für den Export angebotenen) Knowledge-Graphen aktiv bei, indem es Werktitel, die nicht in der GND vorhanden sind, bei Wikidata einstellt und, soweit möglich, gleich auch mit Volltexten verlinkt.[100] Unsere Weboberfläche macht also keine isolierte Text- oder Datensammlung zugänglich. Das Ergebnis des Projekts genügt den Anforderungen an eine ‘Semantic Edition’ allerdings mit einer Einschränkung, aus der Sicht konventionellen Edierens: Seine Quellen sind weitgehend selbst Editionen, die nun, allerdings Brief für Brief, nicht statisch Edition für Edition, für Maschinen und Menschen lesbar gemacht worden sind.
Im Sinne Vogelers, Spadinis oder der Arbeitsgruppe um Marilena Daquino basiert das Projekt auf einem sehr weitgefassten Begriff von Edition, der sich von einem monadischen Konzept ‚der Text und sein Editor‘ entfernt hat. Die gemeinhin als dominant gewertete editorische Leistung (kritische Textkonstitution) ist im Vergleich zu einer vor allem technisch verstandenen Kontextualisierungsleistung als Interoperabilität etwas in den Hintergrund getreten. Doch zugleich nähert sich das Projekt in der Praxis des Erschließens von Text traditionellen Konzepten von ‚Kommentar‘ wiederum an. Hatte sich namentlich die Briefedition, angeregt etwa durch Klaus Hurlebusch,[101] von einer Textzentrierung zu einer Dokumentzentrierung hin entwickelt, so könnte der Weg nun zu einer stärkeren Datenzentriertheit führen. Der menschliche Leser wird hingegen daraus eine Trias der Perspektiven gewinnen und den Brief als Werk, als Dokument (und materiales Objekt) sowie als Informationsträger lesen:
[I]n semantic editions, documents are still the starting point for editors, but the final product can be far from them, both for editors and for users. This is probably confusing in a world where most digital editions are documentary […]. Fortunately, one advantage of semantic technologies is that they have the potential to complement any editorial approach.[102]
VII. Schluss
Ein im Februar 2025 an der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt veranstalteter Workshop mit dem Titel Briefe im Labor. Auswertungen digitaler Briefdatensammlungen[103] gebraucht den Begriff ‚Datensammlung‘ als Hyperonym für unterschiedlichste Quellen- und Projekttypen, denen die Erzeugung und damit die Auswertbarkeit von Forschungsdaten gemeinsam ist: Von zwei an der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur angesiedelten (‘Born-Digital’-)Briefeditionsprojekten (mit DFG-Förderung der Briefwechsel des Theologen Matthias Flacius,[104] im Akademienprogramm die Korrespondenz des Religionsphilosophen Martin Buber)[105] über den Datenaggregator correspSearch, das groß angelegte Retrodigitalisierungsprojekt PDB18 zu gedruckten deutschsprachigen Briefen des 18. Jahrhunderts[106] bis hin zu dem hybriden Editions- und Annotationsprojekt Korrespondenzen der Frühromantik lassen die übergeordneten Ziele der Standardisierung und Vernetzung die gravierenden Unterschiede in den Hintergrund treten.
Dass die Projekte höchst unterschiedliche Nutzungsszenarien adressieren, steht auf einem anderen Blatt. Projektindividualität ist vom Material und von der Nutzerorientierung her zu denken; genuine Editionsprojekte bedürfen der Kommentierung, um überhaupt Benutzbarkeit zu erzielen. Auch der Kommentar kann als Element einer ‚Datensammlung‘ modelliert werden – alle Registereinträge und damit auch alle Kommentardaten erhalten zwecks Auffindbarkeit auch außerhalb des Projektzusammenhangs eine URI. Doch die im Fließtext gegebene Formulierungsfreiheit diesseits jeglicher Datennormierung muss auch in der Welt digitalen Edierens erhalten bleiben.
© 2025 the author(s), published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Was, wie und für wen wollen wir in Zukunft (noch) edieren?
- Einmal alles, bitte!
- Unfeste Buchstaben
- Was ist ein philosophischer Kommentar?
- Über Transformationen bei der Edition von Musik des 18. Jahrhunderts am Beispiel der Telemann-Edition
- Integration als Aufgabe der Goethe-Edition
- Die HKA als Wissensspeicher: Von der analogen zur digitalen Marburger Büchner-Ausgabe – Ausblick und Rückblick
- Mikrogenese in der digitalen Edition
- Edition ohne Transkription, oder: Wie wollen wir künftig große Briefkorpora erschließen?
- Kommentierung als Aufgabe der digitalen Briefedition
- Von der Forschung zur Vermittlung: Die digitale Franz und Franziska Jägerstätter Edition
- Kants Anteil an der Drucklegung der ‚Streitschrift gegen Eberhard‘ (1790, 1791)
- Berichte
- Textual Scholarship, Artificial Intelligence, Corpora and Intelligent Editions (ESTS 2024). Tagung an der Eötvös Loránd University, Budapest, 2.–4. Oktober 2024
- Textkritik, Metrik und Paläographie im Leben und Werk von Paul Maas. Tagung an der Georg-August-Universität Göttingen, 19. November 2024
- Editionen frühneuzeitlicher Texte im 21. Jahrhundert – Herausforderungen und Möglichkeiten. Workshop an der Universität Heidelberg, 20./21. Februar 2025
- Der wissenschaftliche Ort des Editorischen. Disziplinäre, interdisziplinäre und transdisziplinäre Perspektiven auf die Editionswissenschaft(en). Tagung an der Bergischen Universität Wuppertal, 25.–27. Februar 2025
- Lücken-Texte. Editorische Erschließung verschollener Briefe. Internationale Tagung am Brenner-Archiv der Universität Innsbruck, 19.–21. März 2025
- Digitale Quelleneditionen und KI: Aktuelle Tendenzen, Herausforderungen und Probleme. Workshop an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 10./11. April 2025
- Rezensionen
- Sophia Victoria Krebs: Briefe lesen. Semiotik, Materialität und Praxeologie im deutschen Brief von Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 2024, 588 S.
- Provenienz. Materialgeschichte(n) der Literatur. Hrsg. von Sarah Gaber, Stefan Höppner und Stefanie Hundehege. Göttingen: Wallstein 2024 (Kulturen des Sammelns. Akteure – Objekte – Medien. 9), 375 S., auch digital im ‘open access’ zugänglich: https://doi.org/10.15499/kds-009.
- Andreas Gerards: Dichten und Denken – Der „Gang“ ins Wirkliche. Studien zur Poetologie von Ernst Meisters Metapoesie. Baden-Baden: Rombach 2023, 553 S.
- Anschriften
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- Formblatt zur Einrichtung satzfertiger Manuskripte
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