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Was ist ein philosophischer Kommentar?

  • Gerald Hartung EMAIL logo
Published/Copyright: September 27, 2025
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Abstract

The question is what a commentary is in a general, non-text-genre-specific sense, and how much attention this question should claim for editing. To address this question, a sketch of a history of the practice of commentary and an analysis of the functions of commentary are outlined. Finally, theses concerning the characteristics of commentary in general and the specifics of a commentary on philosophical texts are discussed.

Der Beitrag wird mit dem Eingeständnis eröffnet, dass die im Titel angezeigte Doppeldeutigkeit Schwierigkeiten bereitet. Nehmen wir einmal an, dass die Funktion eines Kommentars ganz allgemein definiert sei, dann bleiben doch die Fragen, was einen Kommentar zu philosophischen Texten im Besonderen auszeichnet und ob es darüber hinaus so etwas wie einen genuin philosophischen Kommentar zu Texten, die der Philosophie zugerechnet werden, geben kann. Wir könnten uns auch fragen, was einen Kommentar (nicht nur im Genre philosophischer Texte) zu einem genuin philosophischen Kommentar macht.

Diese Ambiguität soll zu Beginn keineswegs aufgelöst, sondern produktiv genutzt werden. Dafür sind vier Argumentationsschritte gangbar. Zuerst ist in systematischer Absicht danach zu fragen, was in einem allgemeinen, nicht textgenrespezifischen Sinne, ein Kommentar ist. Eine Verständigung über dieses Thema scheint keineswegs trivial. Anschließend wird stichpunkthaft in die Geschichte des Kommentars eingetaucht, besser gesagt: in die Geschichte einer Praxis des Kommentierens. Drittens wird gefragt, was die Funktionen des Kommentars in allgemeiner, wiederum nicht textgenrespezifischer Hinsicht sind, um abschließend auf die Eingangsfrage zurückzukommen und nach den Spezifika eines philosophischen Kommentars zu suchen.

1. Was ist in einem allgemeinen, nicht textgenre-spezifischen Sinne ein Kommentar?

Grob gesagt sprechen wir bei der Praxis des Kommentierens von Verfahren des Erläuterns oder Paraphrasierens eines Textes, des intertextuellen Verweisens und manchmal auch von einer direkten Interpretationshilfe.[1] Darüber hinaus fehlt eine Definition dessen, was ein Kommentar ist oder sein sollte.[2] So viel ist klar: Ein Kommentar ist der Annotation und Erläuterung verwandt – Stichwort: philologischer Kommentar – und er kommt auch der Interpretation nah – Stichwort: Vollkommentar. Aber er markiert zwischen diesen beiden Grenzen eine eigenständige Praxis, die eine prekäre Existenz führt.

Versuchen wir es mit einigen Begriffsklärungen, denen unterschiedliche Praktiken entsprechen, und beginnen mit der Unterscheidung von Kommentar und Interpretation. Wenn wir einen Text interpretieren, dann wollen wir in der Regel eine Deutung festlegen und das Verstehen normieren. Prägnant ausgedrückt finden wir diese These in Friedrich Nietzsches berühmten Diktum: „In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden“.[3]

Wenn wir hingegen einen Text kommentieren, dann wollen wir Verständnismöglichkeiten eröffnen, indem wir Wissensräume betreten und Wissensbestände bereitstellen. Die vielen Bände der Commentaria ad Aristotelem Graecam, an der Berliner Akademie der Wissenschaften realisiert, sind ein bekanntes Beispiel dafür.[4] Der Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, den Hans Vaihinger in den 1880er Jahren vorgelegt hat, strebt das Ziel eines Vollkommentars an.[5] Der Nietzsche-Kommentar, den die Heidelberger Akademie der Wissenschaften seit vielen Jahren verantwortet und der fortwährend bis in unsere Zeit erscheint, steht ebenfalls in dieser Tradition: Neben einem „Einzelstellenkommentar“ wird hier ein „Überblickskommentar“ gegeben, der die Entstehung des Werkes, die Struktur des jeweiligen Werkes, seine Stellung im Gesamtwerk darstellt und einen Ausblick auf die Wirkungsgeschichte gibt.[6]

Dieser Dopplung der Kommentarpraxis entspricht in der Editionspraxis die Unterscheidung zwischen Kommentar und Erläuterung. Die Sacherläuterung enthält philologische Hinweise zu abweichenden Textbefunden (in Manuskripten oder gedruckten Schriften), eventuell auch Druckfehlern, manchmal werden auch fremdsprachliche Zitate übersetzt usw. Der Kommentar geht darüber hinaus: Er schafft Querverweise im literarischen oder wissenschaftlichen Werk, fügt Hinweise aus Paratexten (Briefen, Tagebüchern usw.) hinzu und eröffnet gegebenenfalls Denkräume, wenn beispielsweise die Termini ‚Methode‘ bei Descartes, ‚Vernunft‘ bei Kant oder ‚Wissenschaft‘ bei Nietzsche kontextualisiert werden. Es hat immer wieder Perioden des Interesses an dieser Unterscheidung und an der Praxis des Kommentierens gegeben, sodass wir von einem „Kommentardiskurs“ sprechen können.[7]

Ich werde weiter unten auf die Genre-Geschichte zurückkommen. Vorher möchte ich noch einige Bemerkungen zum Ort des Kommentars hinzufügen. Aufgrund seiner Verknüpfung mit dem Text kommt es auf die räumliche Nähe an. Ein Mitlesen, also ein Parallellesen von Text und Kommentar soll möglich sein. In der Antike sehen wir jedoch lange Zeit aus technischen Gründen eine Trennung von Text und Kommentar auf verschiedenen Schriftrollen, die nebeneinandergelegt wurden. Erst ab dem 4. Jahrhundert kommen beide an einem Ort zusammen: im ‚Kodex‘, beispielsweise im großen Rechtsbuch der Spätantike, dem Codex Iustiniani. Allmählich ändert sich die Freiheit der Zuordnung: Text und Glosse, Text und Scholie, Text und Kommentar rücken räumlich zusammen, sie werden systematisch und optisch aufeinander bezogen.[8]

Diese Bindung hat über Jahrhunderte die Lektürepraktiken dominiert und ist mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in den verschiedenen Disziplinen – Theologie, Jurisprudenz, Medizin, in den Philologien und der Philosophie – seit der Frühen Neuzeit wieder aufgelöst worden. Dieser Auflösungsprozess hängt mit der Geschichte des Buchdrucks zusammen, es gibt aber neben technischen und ökonomischen Erwägungen auch andere Gründe, die mit dem Verlust an Kanonizität der überlieferten Dokumente als Traditionsbeständen zusammenhängt.

Jan Assmann hat in Text und Kommentar (1995) das Zusammenspiel von Kommentierung und Kanonisierung von Texten in den europäischen Kulturen behandelt. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, Assmanns umfassenden Überlegungen nachzugehen, zumal es ihm und seinen Ko-Autorinnen und -Autoren um eine Archäologie der literarischen Kommunikation in mehreren Bänden geht. Aber so viel sei gesagt: Assmann gibt einen Überblick der Kanonisierungsstrategien und Kommentierungsregeln in den frühen Schriftkulturen Europas und des Orients, den er in eine großangelegte kulturphilosophische These einbaut: Es geht um den Übergang einer sozial- und kulturpolitischen Orientierung an Sachverhalten zu Sprachverhalten in Kommunikationssituationen, der einhergeht mit den Möglichkeiten einer räumlichen und zeitlichen Differenzierung von Sprecher und Empfänger und mit der Entdeckung der Schrift ein Medium der Speicherung von Informationen aufbaut, das seine eigene Logik kultureller Praktiken entwickelt. Hierzu gehört die Öffnung eines Raumes kultureller Kontinuität, der einerseits durch hermeneutische Verfahren der Auslegung, Exegese, Deutungen, institutionalisierte Lern-Lehrsituationen und andererseits durch kommentierende Verfahren der Textproduktion und -sicherung, der Intertextualität, des professionalisierten Umgangs mit Texten und vieles mehr ausstaffiert wird. Beide Verfahren stützen die Formativität und Normativität der zu behandelnden Texte, die zur Stabilisierung kultureller Verhältnisse im Prozess der Überlieferung in ihrer materiellen und immateriellen Einheit abgesichert werden. So werden aus Texten, die angereichert und überarbeitet werden können, kulturelle Texte mit einer normativen und formativen, mit einer sinn- und identitätssichernden Verbindlichkeit.[9] Sobald die Anforderungen an die Verbindlichkeiten gesteigert werden, können kulturelle Texte zu heiligen Texten werden, an denen kein Iota geändert werden darf. Assmann zitiert mehrfach die Kanonformel „Füge nichts hinzu, stell nichts um und nimm nichts weg“, die den Eingang in die Welt des Kommentars weist. Denn obwohl der Text unveränderbar ist und gerade weil er für nachfolgende Generationen von Leserinnen und Lesern ein Verstehensproblem aufweist, muss der Text erläutert, kommentiert und interpretiert werden:

Der Kommentar ist eine besondere Form solcher Textarbeit. Seine Besonderheit besteht darin, nicht in und mit dem Text zu reden, sondern sich einen eigenen Text, wenn auch minderen Ranges, neben bzw. unter den Text zu stellen. Er ist ein Text, der über einen anderen Text handelt, und in diesem Sinne ein Metatext. Er ist ein Text, der wegeweisend und begleitend neben einen anderen tritt, also ein Paratext.[10]

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Kommentar als vornehmstes Instrument von Schriftgelehrten gilt, um die Kanonizität eines Textes zu befördern. Über den Kommentar und die inszenierte Kanonizität eines Textes konstituieren sich ‘textual communities’ (Brian Stock).[11] Aber auch der Kommentar kann kanonisch werden. Es gibt berühmte Fälle, in denen sich Text und Kommentar auf eine Weise ineinanderschieben, dass der Kommentar selbst wiederum zu einem kommentierungsbedürftigen Text werden kann. Beispiele sind die Schriften von Montaigne und Lipsius und die großen ‹Dictionnaires› und Enzyklopädien des 17. und 18. Jahrhunderts.[12]

Gershom Scholem hat einmal über Walter Benjamin bemerkt, dass dieser „Texte von kanonischer Bedeutung [brauche], um an ihrer Kommentierung seine philosophischen Gedanken in adäquater Weise zu entwickeln“.[13] Es ist keine allzu gewagte Behauptung zu sagen, dass auch die Gegenprobe stimmt, denn es braucht eine ausgreifende Kommentierungspraxis, um kanonische Texte festzuschreiben, die dann wiederum im Verfahren ‚Kommentierung‘ neue Texte generieren, die Kanonizität beanspruchen können. Der Kommentar schwimmt sich frei und wird zu einem kanonischen Text, der wiederum kommentierungsbedürftig wird.[14] Das ist der Fall in der Kommentarliteratur zur Thora und den Evangelien, zu den Werken Platons, Aristoteles und Ciceros, dann auch im Augustinismus, Cartesianismus und Kantianismus. Es gibt innerhalb der Philosophie das Bonmot von Alfred North Whitehead, dass “the safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists in a series of footnotes to Plato”.[15] Weniger apodiktisch meint dieser Satz, dass die philosophische Tradition Europas aus einer Wiederaufnahme grundlegender philosophischer Fragen besteht, die wir bereits in einer anderen Form in der Philosophie Platons wiederfinden können.

Für das Verhältnis von Text, Kommentierungsverfahren und Kanonbildung oder Absicherung einer Tradition lenkt uns diese These in eine Richtung, die es uns ermöglicht, die Rede von der Funktion des Kommentars präziser zu fassen:

Der Kommentar sichert dem Text seine privilegierte Position und seinen kulturellen Status, indem er ihm in der jeweiligen Wissensgesellschaft immer wieder von Neuem die Türen zu seiner Rezeption öffnet, ihm ein interessiertes, ja verständiges Publikum verschafft und ihm im günstigsten Fall sogar zu kanonischer Autorität verhilft.[16]

Von diesem Punkt können wir auf das Diktum Nietzsches zurückkommen. Es ist unabweislich, dass der Kommentar ein Instrument der Interpretation ist und durch den Kommentar das Verhältnis von Text und Leser kontrolliert werden kann. Die Rede vom Kommentar als Kontrollinstanz für die Leserin oder den Leser hat denn auch in den 1960er Jahren zu einer Revolte gegen die Kanonizität einer bestimmten Textkultur geführt. Mit Susan Sonntags Essay Against Interpretation (1964) artikuliert sich eine Bewegung, die die Texterschließung aus den Händen professioneller Editorinnen bzw. Editoren und Kommentatorinnen bzw. Kommentatoren in die Verantwortung der Leserin bzw. des Lesers geben will.[17] Nichts soll uns vom Text trennen, schon gar nicht die Bindungskräfte einer Tradition, ihre eigentümlichen Praktiken und Rituale – und auch nicht ihre stabilen Vorurteile.[18] Wir stehen vor der Aufgabe, die den Prinzipien einer modernen, aufgeklärten, demokratischen und dem Anspruch nach egalitären Gesellschaft gerecht werden will, müssen jede Brücke in Textkulturen selber bauen. Die Konstanzer Folgen dieser Initiative sind bekannt, denn besonders wirkmächtig wurden sie bei Wolfgang Iser[19] und in der Konstanzer Schule zur Wirkungsästhetik herausgearbeitet. Der Trend ist hier, die Entprofessionalisierung und Demokratisierung der Text-Leserin/Leser-Beziehung voranzutreiben. Der Kommentar wird als Zeuge einer vergangenen, hierarchisch strukturierten Distanzkultur diskreditiert, Verfahren der Kommentierung werden als Umwege durch das Dickicht von Traditionen deklariert, die uns direkte Zugänge zu Texten erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Es wird eine Situation beschrieben, die derjenigen in Kafkas Roman Der Process gleichkommt: ‚Du suchst zu viel fremde Hilfe‘, so lautet die Mahnung.

Bevor wir diese Situation bewerten wollen, sollten wir uns genauer anschauen, was den Kommentar als kulturelle Praxis in seiner historischen Tiefendimension ausmacht. Die theorie- und kulturgeschichtlichen Motive seiner Diskreditierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind sicherlich vielschichtig. Es hängt vor allem mit den Erfahrungsräumen einer Generation von Gelehrten und Historikern, Denkerinnen, Philologen und Philosophinnen zusammen, denen deutlich geworden ist, dass eine Berufung auf Traditionsbestände keine Versicherung gegen Inhumanität ist. Traditionsverlust und ideologisch motivierte Mobilisierung von Tradition führen in eine aporetische Situation, die Theodor W. Adorno in seinem Essay Über Tradition prägnant markiert hat, insofern uns „Tradition heute vor einen unauflöslichen Widerspruch [stellt]. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit.“[20]

2. Eine Geschichte des Kommentars, oder besser gesagt: die Geschichte einer Praxis des Kommentierens

Eine philologische Kommentarpraxis gibt es seit der Antike.[21] Frühformen des Kommentars, die zu den Texten von Hesiod und Homer angefertigt werden, finden wir im 6. Jahrhundert v. Chr. Die erste Blütezeit der Kommentarpraxis ist die römische Antike, beispielhaft wirken hier die Vergil-Kommentare. Mit dem rabbinischen Judentum und dem Christentum der Kirchenväter-Literatur entsteht eine ausufernde Kommentarliteratur heiliger Texte. Für den Kontext sind die Evangelien-Kommentare, beispielsweise Ambrosius’ Lukas-Kommentar, stilbildend. Aber auch Boethius’ Kommentar zu seiner fragmentierten Aristoteles-Übersetzung bespielt dieses Genre. Die Tradition der Patristik prägt das sog. Mittelalter durch ihre extensive Kommentierungspraxis.

Im 12. Jahrhundert erreicht diese Praxis und das ihr korrelierende Textgenre ein neues Niveau. Mit der Rezeption der Schriften des Aristoteles, die Einfluss auf den Lehrbetrieb der entstehenden Universitäten nehmen, setzt eine Kommentarflut ein, die sich über viele Wissensgebiete ausbreitet: Philosophie, Theologie, Jurisprudenz, Medizin, aber auch die Proto-Naturwissenschaften. In dieser Bewegung und unter den institutionellen Bedingungen der Universitäten in Bologna, Paris, Oxford, Salamanca usw. wird der Kommentar zur bevorzugten Gattung der Gelehrtenliteratur. Zur Professionalisierung gehört es auch, dass der Kommentator seinen professionellen Arbeitsbereich gegenüber den Textautoren, den Schreibern (und Übersetzern) absteckt.

Der Kommentator wird mündig! Diese Mündigkeit tritt vom 14. bis 16 Jahrhundert stärker hervor, wenn der Kommentar zum bevorzugten Genre wird, um die Dokumente der antiken Kultur zugänglich zu machen. Ab dem 16. Jahrhundert entstehen auch Kommentare zu zeitgenössischen Texten, beispielhaft zu erwähnen ist Erasmus von Rotterdams Moriae encomium (1515), an dessen Kommentar der Autor höchstwahrscheinlich selbst mitwirkte. Die kommentierte Textausgabe wird ein beispielloser Bucherfolg.

Einen eigenen Beitrag wäre es wert, die Kommentarliteratur – in den Philologien, in der Theologie, in der Philosophie – des 16. und 17. Jahrhunderts zu untersuchen. In den Jahrzehnten der Religions- und Bürgerkriege entsteht ein großes Spiel oder auch Versteckspiel der Wissenspolitik. Die Adnotatio und die Fußnote werden erfunden, wie Anthony Grafton in Defenders of the Text und an anderen Stellen wunderbar gezeigt hat.[22] Der Kommentar wird als Buchformat verankert, aber er findet auch neue Genres, beispielsweise den Traktat oder den Essay. Montaignes Essays sind großartige Kommentare zu Quellentexten der Antike und der Gegenwart. Sie emanzipieren sich von ihren Quellen und werden selbst wieder Gegenstand der Kommentierung. Der Kommentar wird in diesen Jahrhunderten zu einem Instrument der Aufklärung und Verstellung. Unter den Bedingungen von Zensur und Repression wird der Kommentar zu einem Medium versteckter Botschaften oder der Ausbreitung falscher Spuren. Der Diskurs über das Naturrecht des 16. bis 18. Jahrhunderts ist von versteckten Rezeptionslinien über die Konfessionsgrenzen hinweg geprägt.[23] Leo Strauss hat in seiner berühmten Abhandlung Persecution and the Art of Writing diesen Zusammenhang zugespitzt: Alles Schreiben steht unter dem Vorzeichen der Maskerade.[24] Ohne so weit zu gehen, ist aber gleichwohl zu betonen, dass wir von Montaigne über Grotius zu Spinoza und Bayle ein subtiles Spiel des Kommentierens sehen, das in der Spannung steht, einerseits seinen Lesern die Bildungswelten eines Textes verständlich zu machen, andererseits aber auch Kontrolle über die Lektüre zu bekommen und zugleich nicht Gefahr zu laufen, aufgrund bestimmter Einlassungen in aktuelle Debatten das eigene Leben in Gefahr zu bringen. Im 17. und 18. Jahrhundert sind Fragen der Religion, Politik und Wissenschaft noch eng verzahnt. Jede Aussage zu einem Text der Antike kann religionspolitisch gedeutet werden. Eine Hermeneutik des Verdachts herrscht auf allen Seiten vor. Das betrifft die Editoren und Kommentatoren wie auch die Zensoren und Leser.

Alle Linien, die hier skizziert wurden, laufen in Pierre Bayles großem, besser gesagt: großartigem Dictionnaire historique et critique (1694 bis 1697 erstmals erschienen) zusammen. Hierbei handelt es sich um eine nahezu hypertrophe Darstellung des vergangenen und gegenwärtigen Wissens in Theologie, Philosophie und Philologie/Historie. Das alles sind bloße Hinweise. Nur ein Aspekt ist darüber hinaus zu betonen: Wir sehen eine Grundtendenz der Vervielfältigung von Text durch Kommentierung, durch Beigabe einer Überfülle von Hinweisen und Erläuterungen, Stellungnahmen zu Debatten, der Kontext überwuchert den Text. Im Resultat geht es um das Schaffen von Vieldeutigkeit, von produktiven Widersprüchen, von Paradoxien, die einen einheitlichen Sinnhorizont des Textes unterlaufen – die Lektüre ist eine Anleitung in radikaler Skepsis. Was sich hier Dictionnaire nennt, ist im modernen Sinne eines Wörterbuchs, das Orientierungswissen liefern soll, genau dies nicht. Die unterschiedlichen Schichten und internen Verknüpfungen der Kommentare liefern in der Summe gerade keine Sammlung gesicherten Wissens, sondern bieten Verfahren der skeptischen Delegitimierung kanonischen Wissens.[25] Meiner Ansicht nach ist zu keiner Zeit zuvor die Macht der Kommentierungspraxis mit einer solchen Wucht ausgespielt worden. Diese Praxis ist ein Ausdruck ideologischer Kämpfe, der Kommentar ist eine Waffe im Konflikt mit der Tradition und ganz konkret: der Zensur.

Im 19. Jahrhundert kühlen sich diese Konflikte ab. Zugleich macht sich eine Folge der Delegitimationsstrategien des 17. und 18. Jahrhunderts bemerkbar: Der Kommentar sichert nicht mehr die Kanonizität eines Textes ab, sondern unterläuft sie. Der Kanon des Wissens wird im 19. Jahrhundert, wie Nietzsche dies pointiert zum Ausdruck gebracht hat, destruiert:

Es bedurfte erst des neunzehnten Jahrhunderts – le siècle de l’irrespect – um einige der vorläufigsten Bedingungen wieder zu gewinnen, um das Buch als Buch (und nicht als Wahrheit) zu lesen, um diese Geschichte nicht als heilige Geschichte, sondern als eine Teufelei von Fabel, Zurechtmachung, Fälschung, Palimpsest, Wirrwarr, kurz als Realität wieder zu erkennen.[26]

Respektlos ist für den gelernten Philologen in erster Linie der methodologische Umgang mit den überlieferten Texten und die geschichtliche Perspektive auf den Textkanon kultureller Tradition. Nietzsche charakterisiert das 19. Jahrhundert an anderer Stelle auch als ein Zeitalter der Vergleichungen, in dem der erwachte historische Sinn seine Ungebundenheit durch traditionelle Erklärungsmuster nutzt, um die Geschichtsurkunden zu analysieren und ihre impliziten Wahrheitsansprüche aufzulösen.

Eine Folge dieser Entwicklung ist, dass mit dem Traditionsverlust und dem Eintritt in die geschichtliche Welt auch die Funktion des Kommentars fraglich wird. Auf die Epoche der ‚Kommentar-Manie‘ folgt eine Epoche der ‚Kommentar-Abstinenz‘.[27] Es ist ja nicht nur Nietzsche, sondern eine ganze Reihe von Philologen und Editoren, die in der Praxis des Kommentierens ein Spiel von Zensur oder Verstellung, auf jeden Fall Kontrollmechanismen für die Lenkung der Textlektüre erkennen. Das Argument ist, dass die Authentizität eines Textes im Nebel editorischer Maßnahmen, zu denen auch der Kommentar gehört, nicht in den Blick kommen kann. In einer Gegenstrategie werden nun in einem positivistischen Gestus Texte konstituiert und unkommentiert ediert. Im Rückblick auf die Zeit vor 1800 erscheinen von diesem neuen Standpunkt aus die Praktiken des Kommentierens als unwissenschaftlich. Der Fachmann und die gebildete Leserin sind urteilsfähig und brauchen keine Kontrollinstanz für ihre Lektüren.

Der Bruch, der im 19. Jahrhundert die Editionspraxis durchzieht, ist massiv, und es gehört zu einer der großen Irritationen, die in einer zu schreibenden Geschichte des Kommentars behandelt werden müssten, dass die großen wissenschaftlichen Ausgaben der klassischen deutschen Philosophie (und teilweise auch der Literatur) im 19. Jahrhundert in puristischer Absicht weitgehend ohne Kommentar vorgelegt wurden. Neben der Akademieausgabe der Werke Kants steht die Weimarer Ausgabe der Werke Goethes. In diesen Editionen geht es vorrangig um die Konstitution des authentischen Textes. Vom Kommentar ist höchstens noch seine Schwundstufe der Wort- und Sacherläuterungen geblieben. Neben den kommentarlosen Editionen wächst aber eine erstaunliche Zahl von Erläuterungs- und Einführungsliteratur in den Buchverlagen, die ab den 1870er Jahren den Markt damit fluten. Diese übernehmen das Geschäft der Kontextualisierung, während die Editionen unter einem Authentizitätspostulat stehen. Die neuen Genres der Einleitungen, Erläuterungen, die Handbücher usw. stellen eine Auslagerung des Kommentars aus der Edition vor, also eine räumliche Trennung, die durchaus problematisch ist. Denn die Verbindungen sind gekappt. Text und Leserin bzw. Leser von philosophischen Werken müssen ohne Hilfestellungen klarkommen. Und der Leser kann bei geschickter Auswahl der Kommentarliteratur die Lektüre des philosophischen Werkes selbst vermeiden. Tendenziell tritt der Kommentar an die Stelle des Werkes selbst, insbesondere in institutionellen Rahmungen. Ob das eine kulturelle Neuerung ist, die eventuell mit einem sich zuspitzenden Bildungsnotstand (Georg Picht)[28] zu tun hat, das herauszufinden, wäre Gegenstand einer Geschichte des Lesens.[29]

Heute haben wir es mit einer gemischten Lage zu tun. Wittgensteins Werke kommen ohne Kommentar aus, dafür füllen die Einführungs- und Erläuterungsbände, die Handbücher und die biobibliographischen Hilfsschriften zu seinem überschaubaren Werk Bibliotheksräume. In digitalen Editionen führen uns Hyperlinks in nahezu unendliche Räume von Verweis- und Querverweissystemen.[30] Die neue Kommentierungsmanie unterscheidet sich allerdings von ihrer Vorläuferin. Während das 18. Jahrhundert seinen Leserinnen und Lesern noch Vertrauen schenkte und sie ins Labyrinth der intertextuellen Verweisungen schickte, dominiert heute das Misstrauen aufgrund der großen Verschiebungen im Bildungsbereich seit den 1970er Jahren. Wir Editorinnen und Editoren trauen unseren Leserinnen und Lesern kaum noch etwas zu, wir halten sie für ungebildet und frei von historischem Sinn. Also wird in den Erläuterungen literarischer und philosophischer Werke nahezu jedes Detail als unbekannt und fremd ausgewiesen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage noch einmal neu: Was soll der Kommentar unter veränderten Rahmenbedingungen leisten? Was ist seine Funktion, wenn es nicht mehr um die Absicherung der Kanonizität eines Textes geht? Oder geht es doch immer noch genau darum?

3. Über die Funktionen des Kommentars in allgemeiner, nicht genrespezifischer Hinsicht

Wenn wir einmal versuchen wollen, aus der wechselvollen, von Ideologemen überlagerten Geschichte die Funktionalität des Kommentars herauszufiltern und uns selbst eine Meinung zu bilden, welche Option für unsere Editionspraxis leitend sein könnte, so können wir zuerst einmal sagen, dass sich die Geschichte des editorischen Kommentierens als „Geschichte des menschlichen Bemühens [erweist], sich die Phänomene literarischer Überlieferung jeweils immer wieder neu erfahrbar zu machen.“[31]

In dieser Hinsicht erfüllt der Kommentar eine intellektuelle und soziale Bedarfsfunktion. Texte sollen erfahrbar gemacht werden, indem ihre Immanenz und Historizität erschlossen wird. Der Kommentar sprengt die Zeitgebundenheit eines Textes auf, ermöglicht die Speicherung und Vermittlung von Wissen, eröffnet Bedeutungsmöglichkeiten. In der Geschichte des editorischen Kommentierens sehen wir, wie der Brückenbau zwischen Epochen und Kulturen funktionieren kann.

Schauen wir noch etwas genauer auf die Funktion des editorischen Kommentars.[32] In unserer modernen Welt, die sich von der Textüberlieferung kanonischer Texte weitgehend zu befreien sucht, muss sich jeder Text seine – wie es erst seit dem 19. Jahrhundert in diesem Sinne heißt – ‚Klassizität‘ erwerben. Eine der Hauptaufgaben des Kommentars besteht darin, dass er Texte in einer sich verändernden Welt verständlich macht und die Klassizität eines Textes bewahrt. Klassizität meint nicht mehr die geglaubte überzeitliche Geltung eines Textes, sondern dessen immer wieder neu zu behauptende Geltung eines Vorranges.

Um diese Aufgabe zu leisten, muss der Kommentar sowohl die historische Zeit des Textes kennen als auch die soziokulturellen Kontextbedingungen seiner eigenen Zeit. Das schließt die Erwartungen seines Lesepublikums ein und die Frage nach der Angemessenheit des Editionstyps für einen bestimmten Text. Wenn wir hier einen Schritt weitergehen wollten, müssten wir das Territorium der Konstellations- und Netzwerkanalyse betreten.

Aber auch in technischer Hinsicht und darüber hinaus in textkritischer und hermeneutischer Perspektive stellt sich die Frage nach der Funktion des Kommentars. Wie invasiv darf dieser sein? Was überhaupt ist erläuterungsbedürftig, was ist wissenswert? Die Reihe der Fragen kann fortgesetzt werden, und sie ist komplex, weil nur inter- oder gar transdisziplinär zu verhandeln. In der Summe wird deutlich, dass die Praxis des Kommentierens eine wissenschaftliche Leistung ist, die über die Grenzen von Fachdisziplinen hinausgeht.

In einem Zwischenfazit können wir festhalten, dass die Skizze einer Geschichte der Kommentierungspraxis und die Analyse der Funktionen eines Kommentars aktuell in einer posttraditionalen Gesellschaft nicht nur offene Editionsformen, sondern zugleich auch variablere Kommentarkonzepte favorisieren. Editionen und Kommentare beanspruchen nicht mehr die Dignität und Autorität, die ihnen vor dem 18. Jahrhundert institutionell verbürgt waren, und sie basieren auch nicht mehr auf einer divinatorischen Hermeneutik und Editorik, die sowohl in der Kant- als auch in der Goethe-Forschung des 19. Jahrhunderts vertreten wurde. Hinzu kommt eine allgemeine Ernüchterung in Bezug auf die tragende Kraft kanonischer oder klassischer Texte für eine kontinuierliche Kulturentwicklung, sodass die Rede vom ‹Posthistoire› auch in unserem Themenfeld passend erscheint.

Der Schritt zum echten Kommentar wird dort vollzogen, wo – in irgendeinem Sinne – ein Schlussstrich unter das Produzieren von Texten gezogen wird und sich das Bewusstsein einstellt, daß in den „‚Großen Texten‘ alles Sagbare gesagt und alles Wißbare aufbewahrt ist, so daß sich die Kultur nun im Späthorizont eines posthistoire auf die Auslegung der Großen Texte beschränken muß“.[33]

Die hier angesprochene Umbruchsituation ist jedoch komplexer als es die gefällige Rede von dem Posthistoire, dessen Blütezeit um 1990 war, erscheinen lässt. Denn es geht nicht nur um das Ende der Prophetie (Judentum) oder das Schließen des Tores (Islam), die eine Festigung und Absicherung kanonischer Texte implizieren, sondern es geht auch um das Verblassen der kanonischen Texte selbst. Die Funktion des Kommentars könnte nicht unterschiedlicher sein. Während sie im ersten Fall die Festigung des Kanons intendiert, steht sie im zweiten Fall im Zeichen eines Traditionsverfalls, bei dem es auf die Verlangsamung der Erosion ankommt – und vielleicht auch auf eine Rettung der kulturstabilisierenden Kräfte in den Prozess einer permanenten Aneignung und Kommentierung, aus dem Buch in das Medium des Films, in die Dokumentation und die Drama-Serie, in die sozialen Medien und so weiter.

Das von Hans Blumenberg angesprochene Prinzip einer „kritische[n] Entwurzelung des Teleologieprinzips“[34] macht zwei Aspekte sichtbar, denn das ‚Warum‘ der Textproduktion, der Textaneignung und der Verstehensbemühungen, der Kommentierung und der Sorge um die Überlieferung (die ‚causa efficiens‘) läuft zunehmend leer und damit verblasst auch die Verbindlichkeit der Lektüren, in denen der Grund aller Bemühungen und Sorgen (die ‚prima causa‘) verpackt ist. Damit einhergehend läuft auch die Kommentierungspraxis regellos weiter, sie changiert mit den individuellen Vorlieben der Editorin bzw. des Editors oder mit den ideologischen Vorgaben einer posttraditionalen Gesellschaft. Anders gesagt: Es ist noch nicht ausreichend reflektiert worden – und vielleicht hat dieser Prozess noch gar nicht angefangen –, welche Funktionen der Kommentar zu kulturellen Texten, die um den Anspruch der Sakralität ermäßigt sind, ausüben kann. Vor dieser Problematik steht Editorik von Texten – und ich verenge das Feld wieder auf den Bereich philosophischer Texte – wie auch die Hermeneutik in der Nachfolge Hans-Georg Gadamers. Im Sinne der Sozialepistemologie müsste die Frage lauten: ‘Why trust the commentary (the edition)?’

4. Nachdenken über die Funktionen eines Kommentars zu philosophischen Texten oder eines spezifisch philosophischen Kommentars

Es spricht viel für die Ansicht, dass wir aus der Not (Verlust von Verbindlichkeit) eine Tugend (Forderung nach Transparenz unseres Tuns) machen sollten. Dementsprechend geht es um die Forderung eines weiten Kommentarbegriffs, denn es liegt auf der Hand, dass unsere Arbeit als Kommentatoren, wenn wir die vorangehenden Überlegungen vom voranschreitenden Traditionsabbau ernst nehmen, im Grunde genommen schon dort beginnt, wo wir Entscheidungen treffen, wie wir ein Dokument zum Gegenstand unserer editorischen Praxis machen wollen. Wenn sich kaum etwas noch von selbst versteht, also selbstverständlich ist, dann sollten wir unser Erkenntnisinteresse und die Wahl unseres Erkenntnisobjekts offenlegen sowie – im Fall der editorischen Praxis – die Darstellung der Materialität und Textualität reflektieren. Das heißt, das Kommentieren beginnt – in dem skizzierten umfassenden Verständnis – mit der Textkonstitution. Insbesondere wenn Entscheidungen zu treffen sind, welche Textstufen zur Darstellung kommen und welche Variante eines Textes Vorrang vor anderen erhalten soll, treffen wir weitreichende Entscheidungen, die die Lektüre und das Verständnis eines Textes lenken werden.

Am Beispiel der editorischen Probleme, vor denen die Edition der Fragmente und Textschnipsel von Friedrich Nietzsche oder Ludwig Wittgenstein steht, lässt sich zumindest andeuten, dass schon die Zusammenstellung der Fragmente und die Konstruktion eines kohärenten Zusammenhangs ein Kommentar zur Philosophie selbst ist. Es gibt kein sich selbst erläuterndes Material und keine bedeutungsfreien, reinen Sacherläuterungen. Von der Wort- und Sacherläuterung bis zum Vollkommentar baut sich eine interpretatorische Leistung auf, die im bestmöglichen Fall wissenschaftlich informiert und transparent ist.

Kommen wir noch einmal auf die Frage nach dem Wie des Kommentars zurück, wenn schon die Frage nach dem Warum obsolet ist. Was leistet der Kommentar? Die erste, unvorgreifliche Antwort kann lauten: Der Kommentar hilft gerade auch für die Fachkultur Philosophie, eine Varianz von Deutungsmustern zu bändigen; er gibt eine Richtschnur des Verstehens im Blick auf die Vergangenheit; er liefert einen Leitfaden zur Identitätsbildung, d. h. Integration und Distinktion, im Blick auf die Gegenwart (Jan Assmann); er gibt eine Hilfestellung für das Verständnis anderer Epochen und das eigene Selbstverständnis. In diesem Sinne erweist sich der Kommentar als eine effiziente Arbeitsform und Verstehenshilfe kultureller Differenzen. Neben dem aktuell in den sozialen Medien so populären Gebrauch des Kommentars als eines Distinktionsmittels (gerade auch in den Weisen der Polemik und Diskreditierung anderer Meinungen) ist es meiner Ansicht nach von kulturpolitisch eminenter Bedeutung, seine Integrationskraft durch Vermittlung von Differenzen, Überwindung von Asymmetrien herauszustellen. So gesehen erschöpft sich der Zweck des Kommentars vor allem in seinem Gebrauch. „Kommentare überbrücken Sprachgrenzen, kulturelle Zäsuren und historische Zeiträume; sie bauen der ‚Vergilbung‘ historischen und kulturellen Wissens vor.“[35] Ihre didaktische und kulturkritische Funktion müsste noch erforscht werden, denn „die Welt ist voll von Ambiguität“![36]

Was aber könnte ein Maß des Kommentierens sein, irgendwo zwischen der Abstinenz und dem Antriebsüberschuss? Fest steht, dass die Praxis des Kommentierens keinen Abschluss in sich selbst hat. Jeder aktuelle Wissenstand ist transformierbar – und zwar mit und gegen den Zeitstrahl. Auch des Sinngehalts der Vergangenheit können wir nicht gewiss sein, von der offenen Zukunft ganz zu schweigen. Kein Quellenhinweis ist der letzte, wenn es beispielsweise darum geht, die Lektürespuren und die Lebensfülle (wie Dilthey dies nennt)[37] in einem Schriftdokument nachzuweisen. Unter der Dominanz des Mediums Buch gibt die räumliche Nachbarschaft von Text und Kommentar mit dem Seitenformat oder dem Buchumfang eine Begrenzung des Kommentars vor (auch wenn Pierre Bayle diese Form an ihre Grenzen treibt). Im digitalen Medium wird die Unabschließbarkeit des Kommentars, die von der Sache her gesehen mit einer Offenheit für unbekannte gegenwärtige und zukünftige Leserinnen und Leser einhergeht, mit allen Chancen und Risiken sichtbar. Als Kommentatorin bzw. Kommentator kann ich mir niemals sicher sein, welche Archivfunde noch zu berücksichtigen sind und welche Leserin bzw. welcher Leser mit ihrem Wissen und ihren Wissenslücken dem Text noch begegnen wird. In diesem Sinne ist die Praxis des Kommentierens selbst ein Diskurs über die Unabschließbarkeit des historischen Arbeitens und der gegenwärtigen Verstehensprozesse sowie die riskante Offenheit unserer modernen Wissensgesellschaft. Hans Ulrich Gumbrecht hat diese Überlegungen einmal sehr schön zusammengefasst: „Kommentare werden zu Orten, die man aufsuchen und in Anspruch nehmen kann, um Wissen zu entdecken, anstatt diese Suche auf die für das Verständnis eines bestimmten Texts nötigen Kenntnisse zu beschränken.“[38]

Mit einigen Thesen zur Funktion des Kommentars in Editionen philosophischer Texte soll diese Abhandlung schließen:

  1. Der Kommentar ebnet den Zugang zum Text, den wir nicht ohne Hilfe bekommen; er baut Brücken und ergänzt unser Wissen; ist ein unverzichtbares Instrument für den Dialog mit dem Text.

  2. Der Kommentar kann sekundäre Dunkelheiten des Textes – bedingt durch den historischen und kulturellen Abstand zwischen Text und Leserin bzw. Leser – bearbeiten helfen. Auf diese Weise werden Asymmetrien zwischen dem Allgemein- und dem Spezialwissen, das der Text voraussetzt, und dem Wissen, über das die Leserin bzw. der Leser verfügt, möglichst ausgeglichen.

  3. Der Kommentar steht nicht über oder jenseits des Textes (wie die Interpretationen), sondern er steht zum Text in einer lateralen Beziehung, in einem nachbarschaftlichen Verhältnis. Kommentare fördern unsere Toleranz in Bezug auf Vieldeutigkeit (nicht nur von Texten).

  4. Neben der allgemeinen Funktion des Kommentars gibt es die spezifisch philosophische Funktion. Diese wird immer dort sichtbar, wo die primäre Dunkelheit eines Werkes – und wimmelt es in den Werken von Kant, Nietzsche und Wittgenstein nicht von solchen und sind diese nicht ihr Erkenntnismerkmal? – aufgehellt werden soll. Hier sehe ich zwei Optionen:

    1. Die Behauptung dieser Funktion einer Aufhellung von Dunkelheit und Überwindung von semantischer Ambiguität geht einher mit dem Bedürfnis nach methodischer Klarheit. ‹Clare et distincte› sollen wir arbeiten, so das methodische Postulat von René Descartes. Wo der Text unklar ist und Zweifelsfragen bestehen, soll der Kommentar diese ausräumen. Es geht beim Lesen philosophischer Texte um vieles mehr wie das Staunen, die Irritation, die Einübung in Komplexität, das kontrollierte Scheitern beim Herstellen von eindeutigem Sinngehalt. Ludwig Wittgenstein hat auf unüberbietbar lakonische Weise einmal geschrieben: „Ein philosophisches Problem hat die Form: Ich kenne mich nicht aus.“[39] Daher plädiere ich dafür, in der Kommentierungspraxis vom cartesianischen Methodenpostulat abzurücken und die Riskiertheit von Kommentierungsverfahren anzuerkennen.

    2. Daraus ergibt sich als Konsequenz des zuvor Behaupteten: Philosophische Texte teilen das Schicksal aller Textgenres: Sie sind unaufhebbar vieldeutig. Gerade die Philosophie sollte sich dieser Vieldeutigkeit stellen, weil sie seit ihren Anfängen eine Kunst des aporetischen Denkens ist.[40] Die Funktion eines genuin philosophischen Kommentars lässt sich dann folgendermaßen bestimmen: Es geht um den Aufbau eines historischen und hermeneutischen Wissens, um eine sowohl systematisch (vom Begriff her), historisch (von der Begriffsgeschichte her) als auch durch Einbettung in einen sozialen, politischen, kulturellen Kontext (von der Sache her) induzierte Vieldeutigkeit aller philosophischen Sätze.

Der Kommentar erschließt uns Texte auf dem Umweg der Kontextualisierung. Das aber wurde als eine allgemeine Funktion des Kommentars ausgewiesen, damit ist noch kein Spezifikum eines genuin philosophischen Kommentars benannt. Philosophisch wird die Kommentierungspraxis erst, wenn sie die benannte Mehrdeutigkeit der Sinngehalte und die Kontextabhängigkeit derselben anerkennt und offenlegt, damit als Kommentierungspraxis selbstreflexiv wird und den ihrer Tätigkeit inhärenten Widerspruch – Sinnzuschreibungen vorzunehmen und diese auch zurückzunehmen – aushält. In der Praxis wird sich bewähren müssen, ob der Kommentar seine Funktion oberhalb der bloßen Vervielfältigung von Informationen und ihrer Verbreitung in den (sozialen) Medien und unterhalb der Interpretation durch Meinungsmacher oder Expertinnen und Experten behaupten kann.

Wenn diese Überlegungen für die Kommentierungspraxis relevant sind, dann könnten sie uns bei den aktuellen Fragen der Kanonbildung respektive Kanonkritik, bei der Reflexion über kulturelle Vielfalt, die Kritik am Eurozentrismus, die Studien zu den Strategien der Kolonisierung und De-Kolonisierung, bei den Chancen und Risiken einer Provinzialisierung Europas durchaus eine Hilfestellung liefern, weil sie gegenüber – tendenziell wohl polarisierenden Behauptungen, Stellungnahmen und Interpretationen – eine Alternative anbietet.

Online erschienen: 2025-09-27
Erschienen im Druck: 2025-09-24

© 2025 the author(s), published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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