Home Racha Kirakosian: From the Material to the Mystical in Late Medieval Piety. The Vernacular Transmission of Gertrude of Helfta’s Visions, Cambridge [u. a.]: Cambridge University Press 2021, 349 S., 66 Abb.
Article Open Access

Racha Kirakosian: From the Material to the Mystical in Late Medieval Piety. The Vernacular Transmission of Gertrude of Helfta’s Visions, Cambridge [u. a.]: Cambridge University Press 2021, 349 S., 66 Abb.

  • Björn Klaus Buschbeck EMAIL logo
Published/Copyright: November 28, 2024

Rezensierte Publikation:

Racha Kirakosian From the Material to the Mystical in Late Medieval Piety. The Vernacular Transmission of Gertrude of Helfta’s Visions, Cambridge [u. a.]: Cambridge University Press. 2021, 349 S., 66 Abb.


Die Forschungslage zur Helftaer Mystik ist von einer Diskrepanz geprägt, die sich neben modernen Qualitätsurteilen auch in einer zumindest impliziten Präferenz für volkssprachig verfasste Werke sowie einer Sichtweise auf zeitgenössische Übersetzungen begründet, die diese ausgehend von zu hinterfragenden Originalitätsvorstellungen als Untersuchungsgegenstände zweiten Ranges einschätzt. So zählt Mechthilds von Magdeburg ›Fließendes Licht der Gottheit‹ zum Kernkanon der germanistischen Mediävistik, während für den lateinischen ›Liber specialis gratiae‹ ihrer Mitschwester Mechthild von Hackeborn sowie den ›Legatus divinae pietatis‹ Gertruds von Helfta nicht einmal kritische Editionen nach heutigem Anspruch existieren.[1] Dabei werden auch die deutschsprachigen Übertragungen aus den beiden letztgenannten Werken, die ausweislich ihrer handschriftlichen Überlieferung im Spätmittelalter wesentlich breiter rezipiert wurden als das ›Fließende Licht‹, von der Forschung meist eher beiläufig behandelt. Vor diesem Hintergrund ist es stark zu begrüßen, dass in den vergangenen Jahren zwei groß angelegte Studien erschienen sind, die dieses Ungleichgewicht auszubalancieren suchen. Zu volkssprachigen Übertragungen aus dem ›Liber specialis gratiae‹ hat jüngst Linus Ubl entscheidende Untersuchungen vorgelegt,[2] während Racha Kirakosian sich in der rezensierten Monographie dem aus dem ›Legatus‹ adaptierten ›Botte der götlichen miltekeit‹ widmet.[3]

Dabei versteht Kirakosian den ›Botte‹ prinzipiell als »creative rewriting[ ]« (S. 8) der lateinischen Vorlage und untersucht diesbezüglich, wie der ›Legatus‹ im Zuge der Übersetzung zu verschiedenen Zwecken umgestaltet wurde. Dieser Frage nähert sie sich in sechs Kapiteln aus unterschiedlichen Blickwinkeln an. Nacheinander rücken zunächst die Dynamiken der Literaturproduktion im Kloster Helfta (›The Helfta Scriptorium‹, S. 12–32), die Textentwicklung des ›Botte‹ (›Redactions within a Dynamic Textuality‹, S. 33–63) sowie seine handschriftliche Überlieferung (›Manuscript Transmission History‹, S. 64–125) in den Fokus. Anschließend wendet sich die Studie drei in diesem Text besonders prominenten Metaphernfeldern zu. Diskutiert werden sprachliche Bilder der Buch- und Schreibkultur (›The Book’s Self-Reflectivity‹, S. 126–147), der Herz-Jesu-Verehrung (›The Scriptorial Heart‹, S. 148–175) sowie der textilen und vestimentären Materialität (›Imaginary Textiles‹, S. 174–210).

Das Helftaer Mystikkorpus, so macht das erste dieser Kapitel plausibel, entstand in Zusammenarbeit verschiedener Mitglieder der Klostergemeinschaft. So wirkte eine in der Forschung als ›Schwester N‹ bezeichnete anonyme Redaktorin im Sinne eines »collecting and coauthoring« (S. 21) sowohl am siebten Buch des ›Fließenden Lichts‹, am ›Liber‹ als auch am ›Legatus‹ mit. Gertrud selbst wiederum beteiligte sich auch an der Verschriftlichung der Visionen Mechthilds von Hackeborn. Wie besonders die kürzlich erschlossene Handschrift Leipzig, Universitätsbibl., Ms 827, illustriert, deren Text die literarische Koproduktion der Visionärin Gertrud, der Schwester N und der sie unterstützenden Äbtissin explizit ausstellt, produzierte das Klosterskriptorium zudem bewusst unterschiedliche Fassungen des ›Legatus‹.

Angesichts dieses Befunds entwickelt Kirakosian eine grundlegende Kritik an der Applikation eines modernen Modells individueller Autorschaft auf die geistliche Literatur des Mittelalters. Sie schlägt vor, für entsprechende Texte stattdessen eine stufenweise kollektive Abfassung anzunehmen (vgl. S. 18). Diese Intervention lenkt den Blick weg von einer Autorinnenfigur hin auf kontinuierliche Überarbeitungen und die gegenseitige Beeinflussung einer Vielzahl vernetzter Redaktorinnen und Redaktoren. Dabei, so Kirakosian, sei ein entsprechender Umgang mit Texten vor dem Hintergrund einer gemeinschaftsbetonenden Klosterkultur zu betrachten und stelle, anders als in der Forschung mitunter postuliert, kein Spezifikum weiblichen Schreibens dar. Mit ihrer Konzeption einer »communal autorship« (S. 26), die sich im Zusammenspiel von institutionellen Rahmensetzungen, dem individuellen Agieren der an der Textherstellung beteiligten Personen sowie dem Substrat einer sich fortlaufend entwickelnden Schreib- und Lesekultur ergibt, leistet Kirakosian eine überzeugende Neuperspektivierung der geistlichen Literaturproduktion des Mittelalters. Daran anschließend ließe sich nach Binnendifferenzierungen fragen, mittels derer das vorgeschlagene Verständnis kollektiver Autorschaft weiter geschärft werden könnte, z. B. indem interdependente Aspekte der Textherstellung, d. h. Tätigkeiten der Konzeption und Komposition, des Kompilierens, Niederschreibens, Redigierens, Exzerpierens und Übersetzens, im Detail relationiert werden.

Auch die bearbeitende und kürzende Übertragung des ›Legatus‹ in die Volkssprache bilde, so die Ausgangsthese des zweiten Kapitels, einen Redaktionsschritt in diesem Sinne. In kritischer Auseinandersetzung mit der vorgängigen Forschung versteht Kirakosian den ›Botte‹ somit als Ergebnis von »self-conscious and cocreative literary activities« (S. 35), das gleichgestellt zum lateinischen ›Legatus‹ untersucht werden muss. Das hohe Maß an Varianz, das die Überlieferung dieses Textes charakterisiert, illustriere hierbei eine literarische Kultur der fortwährenden Überarbeitung, in der die Grenze zwischen Textrezeption und -produktion oftmals verschwimme. Mit dem Begriff einer ›dynamischen Textualität‹ fasst Kirakosian die Vielfalt der Textzeugen und ihrer Rezeptionsangebote zusammen, die sie in einem sich gegenseitig bedingenden Wechselverhältnis zu Prozessen der ›systematischen Redaktion‹ sieht (vgl. S. 55–63). Dies ist auch als bedenkenswerter Vorschlag einer Synthese methodischer Ansätze aus den im englischsprachigen Forschungsdiskurs dominanten New und Material Philologies sowie der eher im deutschsprachigen Raum resonierenden Überlieferungsgeschichte zu verstehen.

Da der ›Botte‹ im 15. Jahrhundert vornehmlich im Umfeld reformierter Dominikanerinnenklöster zirkulierte, wurde seine Entstehung oft mit der dominikanischen Observanzbewegung in Verbindung gebracht. Kirakosian wendet dagegen schlüssig ein, dass der früheste Textzeuge (Gotha, Forschungsbibl., Chart. B 269) aus dem späten 14. Jahrhundert stammt und somit vor den Reformbestrebungen des Predigerordens datiert. Im ›Botte‹ fehlen zudem sämtliche Visionserscheinungen des heiligen Dominikus, die im ›Legatus‹ berichtet werden. Statt eines dominikanischen nimmt Kirakosian darum einen kartäusischen Ursprung des volkssprachigen Texts an, vor allem da zahlreiche ›Legatus‹-Handschriften aus Kartäuserbibliotheken stammen und der ›Botte‹ sich gut in das literarische und intellektuelle Aktivitätsprofil dieses Ordens einfügt. Ein gleichzeitiger Besitz von volkssprachigen und lateinischen Gertrud-Texten z. B. lässt sich nur für die Kartause Buxheim nachweisen. Für besonders denkbar hält Kirakosian eine Abfassung des ›Botte‹ in der Erfurter Kartause, die eine Gebetsverbrüderung mit Helfta unterhielt und spätestens im 15. Jahrhundert mehrere Exzerpte aus dem ›Legatus‹ besaß (vgl. S. 52–55). Die Indizien, die diese Annahme stützen, sind nicht zwingend – angesichts des aufgezeigten Überlieferungsbilds ist sie als Hypothese dennoch schlüssig.

Das dritte Kapitel fokussiert auf die handschriftliche Überlieferung des ›Botte‹ und der daraus entstandenen ›Trutta-Legende‹, die den ›Botte‹ zur Gnadenvita adaptiert und in die Sammlung ›Der Heiligen Leben‹ integriert. Insgesamt 29 volkssprachige Textzeugen werden verschieden detailreich analysiert.[4] Die meisten hiervon stammen aus süddeutschen Frauenklöstern diverser Orden (Dominikanerinnen, Augustinerinnen, Franziskanerinnen) und wurden zwischen der Mitte des 15. und dem frühen 16. Jahrhundert angefertigt. Bei sämtlichen einigermaßen vollständigen Textzeugen handelt es sich um geistliche Sammelhandschriften, die den ›Botte‹ je unterschiedlich z. B. mit Gnadenviten, Heiligenlegenden und Andachtstexten, Traktaten und Regelliteratur zu »complex devotional miscellanies« (S. 84) verbinden. Auch die Exzerptüberlieferung fügt Auszüge aus dem ›Botte‹ in vergleichbare Textverbünde ein. Für die in fünf Handschriften überlieferte ›Trutta-Legende‹ schlägt Kirakosian vor allem aufgrund ihrer Erwähnung im Tischlesungskatalog des Nürnberger Katharinenklosters, das sich durch enorme Schreibaktivität und Vernetzung auszeichnete, eine Abfassung im Umfeld dieses Ordenshauses vor. Auch dies wird als durch Wahrscheinlichkeit begründete, aber nicht durch sichere Belege gestützte Hypothese vorgebracht.

Besonderes Augenmerk liegt auf zwei Kodizes aus der Kartause Buxheim mit unterschiedlich umfangreichen Fassungen des ›Botte‹, denen Marginalien und aus dem Text herausmontierte Fastnachtsgebete beigefügt sind, die eine frömmigkeitspraktische Nutzung anzeigen. Diese Gebetsübung, die Kirakosian als »subset of the ›botte‹ text« (S. 93) versteht, ist auch in einer Reihe weiterer Handschriften überliefert, die eine Verbreitung hauptsächlich in observanten Dominikanerinnenklöstern nahelegen.[5] Zum weiteren Verständnis böte es sich an, die Übung im Zusammenhang mit dem in der Gebets- und Andachtsliteratur des Spätmittelalters häufigen Verfahren zu betrachten, vorgängige Offenbarungsberichte durch Exzerpierung und Modifikation zu frömmigkeitspraktischen Texten umzuschreiben. Entsprechende Gebetsderivate z. B. aus den Schriften Heinrich Seuses, Mechthilds von Hackeborn oder Mechthilds von Magdeburg sind zum Teil breit überliefert.[6] Zukünftige Untersuchungen hierzu werden sich auf Kirakosians Ergebnisse zur Überlieferung der Fastnachtsgebete aus dem ›Botte‹ stützen können.

Statt einer Hierarchisierung der Überlieferungszeugen durch Feststellung textueller Abhängigkeiten richtet sich Kirakosians Erkenntnisinteresse auf die Nachzeichnung kontinuierlicher Transformationen (vgl. S. 125), die Gertruds Visionen in unterschiedliche religiöse Lesekontexte integrierten. In einer methodischen Kombination überlieferungsgeschichtlicher Perspektiven mit Herangehensweisen der Material Philology gelten ihr dabei alle erhaltenen Textzeugen als prinzipiell gleichrangig. Folglich verzichtet sie sowohl auf einen kritischen Textvergleich als auch auf die Darstellung der Textgeschichte des ›Botte‹ in einem Stemma. Dies hat einerseits den Vorteil, dass so die spezifischen Lektüreangebote der einzelnen Handschriften, ihre Materialität und jeweiligen historischen Nutzungskontexte stärker in den Vordergrund rücken. Andererseits aber erfährt auf diese Weise ein Fachpublikum wenig Neues über die diachrone Entwicklung des ›Botte‹, die sich ja doch über die Abhängigkeitsverhältnisse der Textzeugen auffächert.[7] Wie diese Punkte gegeneinander abgewogen werden, ist eine Frage der methodischen Präferenz, die dem grundlegenden Erkenntnisreichtum der rezensierten Studie keinen Abbruch tut.

Eher streiflichtartig behandelt Kirakosian den 1505 durch Melchior Lotter in Leipzig veranstalteten und von der sächsischen Herzogin Sidonia (1449–1510) in Auftrag gegebenen Druck des ›Botte‹ (vgl. S. 36, 44, 274).[8] Diese Ausgabe ist erstens Teil einer Serie von unter dem Patronat der Herzogin erschienenen religiösen Druckwerken, darunter der für die Eckhartüberlieferung wichtige Leipziger Taulerdruck von 1498 sowie zwei volkssprachige Übertragungen des ›Liber specialis gratiae‹ von 1503 und 1508.[9] Der ›Botte‹ präsentiert sich hier als Teil eines an Laien gerichteten Programms fürstlich propagierter Frömmigkeitsliteratur, d. h. in einem gegenüber den oft im gleichen Zeitraum und teils sogar als Druckabschriften in Klosterskriptorien entstandenen Handschriften stark verschobenen Rezeptionskontext.[10] Zweitens lässt sich aus den Paratexten dieser Drucke auf ein komplexes Netzwerk beteiligter Personen schließen, das neben der Auftraggeberin Sidonia und den Druckern Melchior Lotter und Konrad Kachelofen auch den Dominikaner Marcus von Weida, einen anonymen franziskanischen Redaktor sowie einen Übersetzer namens meyster Ludwigk umfasst.[11] Dies konvergiert aufschlussreich mit Kirakosians Überlegungen zur kollektiven Autorschaft geistlicher Literatur. Drittens wird an der Ausgabe von 1505 und ihren Umständen auch deutlich, welchen Einfluss der Medienumbruch von der Handschrift zum Druck auf die Rezeption des ›Botte‹ nahm.[12] Aus diesen Gründen scheint mir, dass sich das von Kirakosian gezeichnete Bild der deutschsprachigen Gertrud-Überlieferung durch stärkere Berücksichtigung des Frühdrucks noch wertvoll ergänzen ließe.

Die drei Folgekapitel der Studie verschieben den Fokus auf zentrale Motive des ›Botte‹, wobei zunächst auf Bilder des Schreibens, Lesens und Rezitierens eingegangen wird. Durch gezielte Umstellungen und Umarbeitungen seiner Vorlage, so führt Kirakosian überzeugend aus, weite der ›Botte‹ eine im lateinischen ›Legatus‹ primär auf die Niederschrift von Gertruds Visionen bezogene göttliche Autorisierung auf nachgängige Akte des Lesens, Rezitierens, Ab- und Umschreibens aus. In der Folge werde die rezipierende und redigierende Auseinandersetzung mit dem ›Botte‹, die der Text selbstreflexiv unter Verweis auf die eigene Buchschriftlichkeit thematisiere, zum Medium der Heilsvermittlung. Ein religiöses Lese- und Schreibpublikum könne dadurch imaginativ wie performativ in die Getrud angetragene Rolle der Braut Christi schlüpfen. Kirakosian umschreibt entsprechende Rezeptionseffekte vor allem mit dem im angloamerikanischen Forschungsdiskurs vieldiskutierten Begriff embodiment. Hier zeichnet sich auch die Möglichkeit produktiver Brückenschläge zu einer deutschsprachigen Forschungsdebatte um das ab, was Mireille Schnyder als »inkarnierend[e]« Lektüre fasst, »die sich die Worte einverleibt, in der sich das Wort im Lesenden verfleischlicht und einnistet«.[13]

Die Entstehung der Herz-Jesu-Verehrung, auf die das fünfte Kapitel eingeht, wird traditionell mit Gertrud von Helfta in Verbindung gebracht. Stärker als die vorherige Forschung hebt Kirakosian einen Einfluss des ›Fließenden Lichts‹ Mechthilds von Magdeburg auf die Herzmotivik in Gertruds Visionen hervor, die dort besonders im Kontext von Passionsbetrachtungen prominent hervortrete. So verbinde sich im ›Botte‹ mehrfach die Verehrung der Seitenwunde und des Herzens Christi, die in eucharistisch eingefärbten Episoden als Quellen der Gnade dargestellt und punktuell mit dem Leiden der Visionärin Gertrud sowie dem hiervon berichtenden Text überblendet werden. Andere Passagen zeichnen das Herz Christi als Musikinstrument (vgl. S. 162), mit dem die musikalischen Aspekte der Liturgie, wie Gertrud sie zelebriert, im Einklang stehen sollen. Wiederum an anderen Stellen dominiere das Bild vom »scriptorial heart« (S. 174), in dem die Frömmigkeit der Schwestern oder das Leiden Christi als verschiedenfarbige Tinten sowie das Gedächtnis des Lesepublikums als Beschreibstoff allegorisiert sind. Von besonderem Wert ist, dass Kirakosian diese Spielarten der Herzmetaphorik in ihrer Vielfalt aufzeigt, ohne den Blick künstlich auf direkte Vorläufer der Herz-Jesu-Motivik der Frühen Neuzeit zu verengen.

Ein letztes Kapitel, dessen Argumente Kirakosian teils vorweg in Artikelform vorgebracht hat,[14] beschäftigt sich mit der Rolle imaginierter Textilien in Getruds Visionen. Diese, so macht die Studie im kleinteiligen Vergleich mit erhaltenen mittelalterlichen Textilobjekten aus der Region um Helfta plausibel, nehmen Rekurs auf zeitgenössische kunsthandwerkliche und liturgische Praktiken, z. B. die Investitur werdender Nonnen im Rahmen der Profess oder die oft in Frauenklöstern gefertigten Stickarbeiten auf Antependien. Visionär geschaute Textilien bedienen sich entsprechender Vorstellungen des Materiellen, um abstrakte Konzepte in konkrete Bilder umzusetzen – in Anlehnung an eine Formulierung aus dem ›Legatus‹ spricht Kirakosian hier von ›corporeal images‹ (vgl. S. 182). So seien in einem Visionskleid, das Gertruds religiösen Lebenswegs bedeutet, verschiedene Dimensionen von Zeitlichkeit enggeführt, wobei insbesondere der ›Botte‹ diesen temporalen Textilgegenstand für sein Lesepublikum imaginativ sichtbar werden lasse.[15] Darin eigne diesem Ornat und vergleichbaren offenbarten Kleidungsstücken ein zugleich materieller wie zeichenhafter Doppelcharakter (vgl. S. 195), der auch auf den Kontext der im Spätmittelalter verbreiteten handwerklichen Gebete und Andachten verweise (vgl. S. 199), also auf Frömmigkeitsübungen, durch die imaginativ ein geistliches Werkstück gefertigt werden sollte.[16] Es bleibt zu erkunden, ob hier nicht auch eine zusätzliche textilsemantische Ebene mitzudenken wäre, die auf der durch die etymologische Herkunft des lateinischen Wortes textus vom Verb texere (›weben‹) begründeten Tradition des Gebrauchs von Textilmetaphern für Prozesse und Produkte des Schreibens aufruht, so dass Gertruds Textilvisionen wiederum sinnbildlich auf den von ihnen berichtenden Text verweisen.[17]

Bei der Einrichtung des Bandes wurden End- statt Fußnoten gewählt. Da Kirakosian wichtige Details oft in den Anmerkungen diskutiert und zudem den originalsprachlichen Wortlaut von Zitaten, die im Fließtext ins Englische übersetzt sind, nur dort wiedergibt, ist dies nicht unbedingt lesefreundlich. Dass in den beigegebenen Textabdrucken Eingriffe statt eines Apparats durch Endnoten plausibilisiert werden, fällt ebenfalls ins Gewicht. Diese Punkte, hinter denen eher eine Entscheidung des Verlags als der Wunsch der Autorin zu vermuten ist, zwingen zu mitunter mühseligem Blättern und Suchen. Positiv hervorzuheben ist dagegen der umfangreiche und aufwendig gestaltete Bildteil des Buchs, dessen 24 farbige Tafeln ebenso wie die zahlreichen schwarz-weißen Abbildungen entscheidend dazu beitragen, die Materialität der handschriftlichen Überlieferung sowie die Verbindungen zwischen den sprachlichen Bildern des ›Botte‹ und der materiellen Frömmigkeitskultur des Spätmittelalters fassbar zu machen.

Die zukünftige Forschung zur Helftaer Mystik wird an der rezensierten Monographie nicht vorbeikommen. Dies stellt einen Glücksfall dar, erfüllt sie doch in zweifacher Hinsicht ein Forschungsdesiderat. Einerseits lässt Kirakosians Untersuchung des ›Botte‹ den volkssprachigen Gertrud-Texten jene philologisch ebenso wie kulturwissenschaftlich informierte Aufmerksamkeit angedeihen, nach der ihre durch die Überlieferung fassbare spätmittelalterliche Breitenrezeption verlangt. Andererseits erprobt sie in methodischer Vielfalt, wie sich mystische Texte auch jenseits der Fokussierung auf editionsphilologische Fragestellungen oder eine begnadete Autorinnenfigur mit Erkenntnisgewinn perspektivieren lassen. Es bleibt zu hoffen, dass an diese Impulse angeknüpft werden wird.

Online erschienen: 2024-11-28
Erschienen im Druck: 2024-11-27

© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Nachruf
  3. Burghart Wachinger (1932–2023)
  4. Aufsätze
  5. Die korpusbasierte Analyse der Semantik und der Syntax des mittelniederdeutschen Verbs blîven
  6. Frühneuhochdeutsche Sprachreflexion in Günter Grass’ ›Das Treffen in Telgte‹ (1979)
  7. Sirenensang und Seelenklang
  8. Code-switching historisch
  9. Rezensionen
  10. Benedikt N. Pasedag: Kontinuität und Wandel in historischen Partizipialkonstruktionen. Diachrone Untersuchung zu Partizip-Präsens-Konstruktionen im Althochdeutschen, Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen, Heidelberg: Winter 2023, 376 S. (Sprache – Literatur und Geschichte 54)
  11. Susanne Haaf u. Britt-Marie Schuster (Hgg.): Historische Textmuster im Wandel. Neue Wege zu ihrer Erschließung, Berlin u. Boston: de Gruyter 2023, 472 S., 54 Abb. (Reihe Germanistische Linguistik 331)
  12. Sophie Marshall: Jenseits der Gabe. Schätze und Geld in mittelalterlicher Literatur, Berlin: Schwabe 2023, 478 S.
  13. ›Barbara Locutio‹. Il ›De vocatione gentium‹ latino – antico alto tedesco dei frammenti di Mondsee. Edizione, traduzione e commento, hg. v. Maria Grazia Cammarota u. Francesco Lo Monaco, Firenze: Sismel 2021 (Traditio et Renovatio 11)
  14. Olivia Kobiela: ÄsthEthik der Fremde desHerzog Ernst B‹. Die Kartographie des 12./13. Jahrhunderts als ästhEthisches Reflexionsmedium der mittelalterlichen Literatur, Paderborn: Brill Fink 2022, 366 S. (MittelalterStudien 33)
  15. Racha Kirakosian: From the Material to the Mystical in Late Medieval Piety. The Vernacular Transmission of Gertrude of Helfta’s Visions, Cambridge [u. a.]: Cambridge University Press 2021, 349 S., 66 Abb.
  16. Hans Rosenplüt: Weingrüße und Weinsegen. Mit weiteren Liedern aus der Tradition, hg. v. Silvan Wagner, Stuttgart: S. Hirzel 2023, XXVI, 92 S. (Relectiones 12)
  17. Rosenplütsche Fastnachtspiele. Edition und Kommentar von Nürnberger Spieltexten des 15. Jahrhunderts, hg. v. Klaus Ridder, Rebekka Nöcker u. Beatrice von Lüpke, Berlin: Schwabe 2022, 951 S., 7 Abb.
Downloaded on 22.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bgsl-2024-0050/html
Scroll to top button