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Urheberrecht wagen – Dokumentenlieferung aus digitalen Ressourcen

  • Peter Brettschneider

    Peter Brettschneider

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Published/Copyright: May 10, 2022
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Zusammenfassung

Im letzten Jahrzehnt ist die Zahl der Fernleihen und Dokumentenlieferungen dramatisch zurückgegangen. Ein zentraler Faktor dafür ist das Anwachsen der digitalen Bestände, im Hinblick auf die Lieferbegehren regelmäßig abgelehnt werden. Der Beitrag untersucht die Rechtslage beim Kopienversand aus digitalen Medien und argumentiert, dass eine Lieferung in der überwiegenden Zahl der Fälle erlaubt wäre. Abschließend wird ein auf formalen Kriterien basierendes Prüfungsschema für die praktische Umsetzung in der Dokumentenlieferung vorgeschlagen.

Abstract

The past decade has seen a dramatic decline in the number of interlibrary loans and document deliveries. Key factor is the immense growth of digital resources, the delivery of which, as a rule, is turned down. The paper scrutinizes the legal situation for copy delivery from digital media resources, arguing that delivery could be permitted in the majority of the cases hitherto denied. In the final section, a standard verification procedure based on formal criteria is proposed to put document delivery from digital resources into practice.

1 Einleitung

Eine der großen Stärken des deutschen Bibliothekswesens ist die enge Kooperation zwischen Bibliotheken. Dies trifft in besonderem Maße auf die Literaturversorgung zu. Ausgeklügelte technische Systeme in den Verbünden ermöglichen jedes Jahr die Abwicklung von Hunderttausenden von Fernleihen und Dokumentenlieferungen.[1] Doch mit dem Aufschwung digitaler Inhalte gerät dieses System zunehmend ins Stocken.[2] Nutzer und Bibliothekare haben sich zu ihrem Leidwesen daran gewöhnen müssen, dass gebende Bibliotheken Bestellungen auf ihren digitalen Bestand regelmäßig ablehnen. Aber warum eigentlich?

2 Gesetzliche Grundlage gemäß § 60e Abs. 5 UrhG

Im Gesetz findet sich jedenfalls keine entsprechende Einschränkung. § 60e Abs. 5 UrhG, der seit 2018 die Rechtsgrundlage für die Dokumentenlieferung darstellt, unterscheidet nicht zwischen gedruckten und digitalen Medien: Geliefert werden dürfen „bis zu 10 Prozent eines erschienenen Werkes sowie einzelne Beträge, die in Fachzeitschriften oder wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen sind“. Auch Art. 5 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2011/29/EG („InfoSoc-Richtlinie“), der die europarechtliche Grundlage für die deutsche Schrankenregelung schafft, differenziert nicht nach dem Medientyp. Eine entsprechende Klarstellung findet sich bezogen auf § 60e Abs. 1 UrhG sogar in der Gesetzesbegründung: Danach sind „auch elektronische Bestände [erfasst], zu denen die Bibliothek auf Basis von Nutzungsverträgen mit Inhalteanbietern ihren Nutzern den Zugang gewähren darf“.[3] Diese Wertung dürfte in systematischer Auslegung auf Abs. 5 übertragbar sein. Nicht zuletzt ist § 60e Abs. 5 UrhG auch im Übrigen technologieneutral ausgestaltet, d. h. es wird „nicht zwischen verschiedenen technischen Formen von Vervielfältigungen“ differenziert.[4]

Die Grundregel lautet also: Die Dokumentenlieferung durch Bibliotheken ist nicht auf physische Bestände beschränkt; vielmehr darf auch aus digitalen Ressourcen geliefert werden![5]

3 (Schein-)hindernisse und Ausnahmen

Leider gibt es von diesem an sich einfachen Grundsatz aber echte und vermeintliche Ausnahmen. Im Kern geht es um drei Konstellationen:

  • Die Nutzungs- bzw. Lizenzbedingungen des Anbieters untersagen eine Weitergabe an Dritte [3.1].

  • Die Bestellung richtet sich auf ein (noch) nicht erschienenes Werk [3.2].

  • Technische Schutzmaßnahmen des Anbieters verhindern die Lieferung [3.3].

3.1 Entgegenstehende Nutzungs- bzw. Lizenzbedingungen

Anbieter digitaler Inhalte meinen ein Interesse daran zu haben, Nutzungsbedingungen möglichst eng zu fassen, um zu verhindern, dass Dritte Zugriff bekommen und dadurch als potentielle Kunden entfallen könnten. Fernleihe und Kopienversand beeinträchtigen aus dieser Perspektive die Vermarktung ihres Portfolios.[6]

Der Gesetzgeber hat jedoch die dem Allgemeinwohl förderliche Arbeit von Wissenschaft, Forschung und nicht zuletzt von Bibliotheken 2018 mit der Einführung des Urheber-Wissensgesellschafts-Gesetzes bewusst gegenüber den kommerziellen Interessen von Anbietern privilegieren wollen und zu diesem Zweck § 60g Abs. 1 UrhG neu eingeführt. Danach kann sich der Rechtsinhaber nicht auf Vereinbarungen berufen, die eine erlaubte Nutzung nach den §§ 60a bis 60 f zum Nachteil der Nutzungsberechtigten beschränken oder untersagen. Anders ausgedrückt: Eine Untersagung des Downloads digitaler Inhalte für die Dokumentenlieferung in den Nutzungsbedingungen der Anbieter ist unbeachtlich und darf ignoriert werden.[7]

Leider sind dabei jedoch Einschränkungen zu beachten. Diese betreffen Verträge, die ausschließlich den Kopienversand regeln [3.1.1], Altverträge [3.1.2] und Lizenzverträge mit ausländischen Anbietern [3.1.3].

3.1.1 Verträge, die ausschließlich den Kopienversand regeln

Der Vorrang der urheberrechtlichen Schrankenregelung greift gemäß § 60g Abs. 2 UrhG nur, wenn ein Vertrag nicht ausschließlich den Versand von Vervielfältigungen auf Einzelbestellung nach § 60e Abs. 5 UrhG zum Gegenstand hat. Auf Lizenzverträge für digitale Medien trifft dies in aller Regel nicht zu, da die Dokumentenlieferung dort entweder überhaupt nicht oder nur am Rande geregelt ist. Relevant wird die Ausnahme deshalb in erster Linie für Vereinbarungen, die Subito mit Verlagen trifft.

3.1.2 Altverträge

Zweitens gilt § 60g Abs. 1 UrhG nach § 137o UrhG nicht für Verträge, die vor dem 01.03.2018 geschlossen wurden. Die mit dem UrhWissG eingeführte Regelung berührt also nicht rückwirkend die Geltung von Altverträgen. Glücklicherweise wächst das Bestandssegment, aus dem die Lieferung erlaubt ist, dadurch jedes Jahr weiter an – zumal die aktuellste Literatur auch am stärksten nachgefragt wird.

Problematisch sind in diesem Kontext vor allem Lizenzverträge, die sich nicht auf einen einmaligen Rechteerwerb – wie beim Kauf eines E-Book-Paketes – beschränken, sondern Züge eines Dauerschuldverhältnisses tragen. Dies betrifft insbesondere Volltextdatenbanken, die – ohne Archivrechte zu erwerben – nur „gemietet“ werden sowie Zeitschriftenabonnements. Dabei liegen der Nutzung oftmals Rahmen-, Lizenz- oder Abonnementverträge zugrunde, die eine mehrjährige Laufzeit vorsehen und ggf. wiederholt verlängert werden. In diesen Fällen steht ein Vertragsschluss vor dem Stichtag 01.03.2018 der Dokumentenlieferung nicht entgegen, sofern der Vertrag seither abgeändert wurde, da auch Vereinbarungen zur Änderung eines Schuldverhältnisses rechtlich einen Vertrag darstellen (vgl. § 311 BGB). Talke möchte hingegen nur solche Veränderungen genügen lassen, die den Vertrag „in seinen wesentlichen Bestandteilen“ verändern.[8] Ausreichend dürfte aber zumindest eine Erhöhung der Lizenzgebühr nach dem Stichtag sein, denn ihre Entrichtung ist vertragliche Hauptleistungspflicht des Lizenznehmers. Da stabile Preise bei Zeitschriften und Datenbanken bekanntlich eine Seltenheit sind, ist die Dokumentenlieferung aus diesen deshalb in aller Regel zulässig.[9]

3.1.3 Verträge mit ausländischen Anbietern

Wenn mit ausländischen Anbietern Lizenzverträge geschlossen werden, darf nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die Schrankenbestimmungen des deutschen Urheberrechts und speziell §§ 60e Abs. 5 und 60g Abs. 1 UrhG anwendbar sind. Leider existiert – trotz Harmonisierungsbestrebungen auf internationaler und europäischer Ebene – kein weltweit einheitliches Urheberrecht.[10] Entscheidend ist daher, nach welchem nationalen Urheberrecht sich die Zulässigkeit einer Kopienlieferung bestimmt. Ausschlaggebend dafür ist das sogenannte Kollisionsrecht.[11] In Betracht kommen zwei Anknüpfungen:

Für urheberrechtliche Verträge – also z. B. einen Lizenzvertrag über ein E-Book-Paket – können die Vertragsparteien das anwendbare Recht selbst auswählen (sogenanntes Vertragstatut, Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO).[12] Fehlt es hingegen an einer Rechtswahl, unterliegt der Vertrag dem Recht desjenigen Staates, in dem die Partei, welche die für den Vertrag charakteristische Leistung erbringt, ihren gewöhnlichen Aufenthalt bzw. ihre Hauptverwaltung hat (Art. 4 Abs. 2, Art. 19 Abs. 1 Rom I-VO). Wenn die andere Seite lediglich eine Zahlungspflicht trifft, ist dies regelmäßig die Partei, die sich zur Einräumung von Nutzungsrechten verpflichtet.[13] Für Bibliotheken bedeutet dies leider, dass bei der Lizenzierung digitaler Inhalte auch ohne Rechtswahl in aller Regel das Recht des ausländischen Vertragspartners zur Anwendung kommt. Deshalb sollte in solchen Fällen – unabhängig davon, ob in Allgemeinen Geschäftsbedingungen eine Rechtswahlklausel enthalten ist – vor Vertragsschluss auf die Anwendbarkeit des deutschen Rechts gedrängt werden.[14] Allerdings ist zu beachten, dass das durch Rechtswahl der Parteien bestimmte Recht nur auf vertragsrechtliche Aspekte angewendet wird: gemäß Art. 12 Rom I-VO insbesondere Wirksamkeit, Vertragsauslegung, Erfüllung, Verjährung.[15]

Hingegen gilt jenseits von vertraglichen Regelungen das sogenannte Schutzlandprinzip (Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO).[16] Danach gelangt das Recht desjenigen Landes zur Anwendung, in dem die Verletzung begangen wurde, also für das Schutz beansprucht wird. Nach dem Schutzlandprinzip beurteilen sich nicht nur außervertragliche Verletzungen von Urheberrechten, sondern auch deren Entstehung, Inhalt, Umfang, Übertragbarkeit und Schutzdauer.[17] Der Bundesgerichtshof hat insbesondere auch die Anwendbarkeit urheberrechtlicher Schrankenbestimmungen nach dem Schutzlandprinzip entschieden.[18]

Verwertungsrechte stehen dem Urheber bzw. Rechteinhaber exklusiv zu. Im Rahmen eines Lizenzvertrages ist der Kopienversand deshalb nur zulässig, wenn die vertraglich eingeräumten Nutzungsrechte oder eine gesetzliche Schrankenbestimmung diesen erlauben. Soweit ein Lizenzvertrag, der nach Art. 3 bzw. 4 Rom I-VO einem ausländischen Recht unterliegt, den Kopienversand nicht ohnehin zulässt, kommt es daher darauf an, ob die deutsche Schrankenbestimmung sich diesem gegenüber durchsetzen kann. Dafür schafft Art. 9 Rom I-VO ein Einfallstor, das zwingenden Normen aus dem nationalen Recht eines Staates, die von diesem als entscheidend zur Wahrung seines öffentlichen Interesses angesehen werden, in internationalen Schuldverhältnissen Wirkung verschafft.[19] Als Ausnahmetatbestand ist die Vorschrift jedoch eng auszulegen.[20] Insbesondere kann nicht unterstellt werden, dass jede urheberrechtliche Schrankenbestimmung zugleich Eingriffsnorm i.S.v. Art. 9 Rom I-VO ist.[21] Bedauerlicherweise ist diese Frage im Hinblick auf § 60g Abs. 1 UrhG bislang ungeklärt.[22] In der Praxis muss daher jede Bibliothek selbst beurteilen, ob sie das mit dieser rechtlichen Unsicherheit einhergehende Risiko tragen möchte und dennoch Kopien liefert. Für das Schutzlandprinzip bleibt in dieser Konstellation hingegen kein Raum, da eine schuldvertragliche Regelung dem Kopienversand entgegensteht, sodass der Anwendungsbereich von Art. 8 Rom II-VO nicht eröffnet ist.

3.2 Nicht erschienene Werke

Nach § 60e Abs. 5 UrhG ist der Kopienversand auf erschienene Werke begrenzt. Erschienen ist ein Werk, wenn mit Zustimmung des Berechtigten eine genügende Anzahl an Vervielfältigungsstücken der Öffentlichkeit angeboten bzw. in den Verkehr gebracht wurde (§ 6 Abs. 2 UrhG). Bezogen auf digitale Ressourcen ist ausreichend, dass durch Bereitstellung des Werkes im Netz den Mitgliedern der Öffentlichkeit ein dauerhafter Zugang ermöglicht wird.[23] Bei lizenzierten Datenbanken, E-Books und anderen kommerziellen Inhalten darf dies ebenso wie bei Open Access-Veröffentlichungen unterstellt werden.

Gleichwohl gibt es in Bibliotheksbeständen Werke, die nie erschienen sind (oder auch nur veröffentlicht wurden). Dies betrifft insbesondere Nachlässe und Werke aus nichtöffentlichen Archiven. Eine Bibliothek kann insofern nicht eigenmächtig Inhalte auf ihren Servern bereitstellen oder diese im Wege des Kopienversands übermitteln, sondern ist auf die Zustimmung des Berechtigten, d. h. des Urhebers oder seines Rechtsnachfolgers angewiesen.

3.3 Technische Schutzmaßnahmen des Anbieters

Anbieter von digitalen Inhalten schützen diese mit einer Reihe von technischen Schutzmaßnahmen. Diese können von Authentifizierungssystemen bis hin zur Beschränkung auf einen rein lesenden Zugriff reichen. Faktisch kann dies die gesetzlich erlaubte Nutzung nach § 60e Abs. 5 UrhG beeinträchtigen oder sogar unmöglich machen.

Zwar sieht § 95b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 UrhG für die Dokumentenlieferung eine Ausnahmeregelung vor, die die Durchsetzbarkeit der Schranke durch einen zivilrechtlichen Anspruch auf Bereitstellung der zur Überwindung des technischen Hindernisses erforderlichen Mittel absichern soll, leider greift dies aber gemäß § 95b Abs. 3 UrhG nicht bei Lizenzverträgen über Online-Inhalte. Insofern sind Bibliotheken nach § 95b Abs. 3 Nr. 6 UrhG lediglich Vervielfältigungen zum Zweck der Erhaltung erlaubt, nicht hingegen eine Weitergabe im Rahmen des Kopienversands.

Wenn die Lieferung aus den lizenzierten digitalen Beständen der Bibliotheken demnach technisch nicht möglich ist, steht der Bibliothek daher leider keine Abhilfe offen. Anbietern ist es nicht untersagt, den Kopienversand aus digitalen Inhalten durch technische Maßnahmen zu behindern. Glücklicherweise ist dies relativ selten; vielmehr ist es in den meisten Datenbanken, E-Books und anderen digitalen Inhalten möglich, diese ganz oder zumindest in Teilen zu kopieren bzw. zu speichern. Eine komfortable Nutzung ist dabei freilich nicht gesichert.[24] Das „Hacken“ solcher technischen Sperren ist hingegen urheberrechtswidrig (§ 95a Abs. 1 UrhG).

4 Berechtigung zur Lieferung

Die Zulässigkeit der Lieferung ist an Voraussetzungen einerseits im Hinblick auf die liefernde Bibliothek [4.1] und andererseits hinsichtlich des Nutzungszwecks [4.2] gebunden. Sonderregeln gelten für Gerichts- und Behördenbibliotheken [4.3].

4.1 Liefernde Bibliothek

Nicht alle Bibliotheken dürfen sich auf § 60e UrhG berufen. Vielmehr gilt die Schrankenbestimmung nur für öffentlich zugängliche Bibliotheken, die keine unmittelbar oder mittelbar kommerziellen Zwecke verfolgen. Dies ergibt sich aus der in § 60e Abs. 1 UrhG enthaltenen Legaldefinition, die für die gesamte Vorschrift gilt.[25]

Öffentlich ist eine Bibliothek, „wenn sie im Rahmen ihrer Benutzungsordnung jedermann“ offensteht.[26] Unerheblich ist hingegen, ob eine Bibliothek in öffentlich-rechtlicher oder privater Trägerschaft organisiert ist.[27] Deshalb muss insbesondere bei Parlaments-, Gerichts- und anderen primär einer internen Nutzung vorbehaltenen Bibliotheken genau geprüft werden, ob diese nach § 60e Abs. 5 UrhG Kopien liefern dürfen. Auch Schulbibliotheken sind überwiegend nicht öffentlich zugänglich, kommen aber als Kopienlieferant höchstens ausnahmsweise in Betracht. Nicht zuletzt sind auch Archive, öffentliche Museen und andere Bildungseinrichtungen – obwohl § 60e UrhG für sie im Übrigen gilt – nicht zur Dokumentenlieferung nach Abs. 5 der Norm berechtigt (§ 60 f Abs. 1 UrhG). Klarzustellen ist, dass diese Tatbestandsvoraussetzung nur für die liefernde Bibliothek, nicht jedoch den Besteller gilt. Daher dürfen auch nichtöffentliche Bibliotheken oder ihre Nutzer eine Einzelbestellung aufgeben.[28]

Eine Bibliothek verfolgt kommerzielle Zwecke, wenn ihre Tätigkeit gewinnorientiert ist. Unschädlich sind dabei Entgelte, die lediglich zur Deckung der mit einer Dienstleistung verbundenen Kosten dienen. Daher dürfen beim Kopienversand Gebühren verlangt werden, solange diese die damit einhergehenden Betriebs- und Verwaltungskosten nicht übersteigen.[29]

Nichtöffentliche bzw. kommerzielle Bibliotheken können sich zumindest auf § 53 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 UrhG berufen und in diesem Rahmen Kopien herstellen.[30] Dabei sind sie allerdings auf eine analoge Nutzung bzw. analoge Trägermedien begrenzt (§ 53 Abs. 2 S. 2 UrhG).

4.2 Nutzungszweck

Voraussetzung ist zudem, dass auch der Nutzer mit der Einzelbestellung keinen kommerziellen Zweck verfolgt. Unzulässig ist damit insbesondere eine gewinnorientierte Verwendung der übermittelten Vervielfältigung. Erlaubt sind hingegen insbesondere Lieferungen für einem privaten oder nicht-kommerziellen wissenschaftlichen Kontext.[31] Zu beachten ist zudem, dass nicht jeder berufliche Kontext eine Gewinnorientierung impliziert – beispielsweise darf auf Anfragen von gemeinnützigen Stiftungen oder Vereinen geliefert werden.

Zudem bleiben die Prüfpflichten der liefernden Bibliothek diesbezüglich rudimentär. Die Besteller müssen keinen Beweis erbringen; vielmehr ist eine entsprechende Versicherung – wie es die Verbünde mit Checkboxen umgesetzt haben – ausreichend.[32] Ein Tätigwerden soll nur bei offensichtlichen Verstößen erforderlich sein.[33]

4.3 Sonderfall Gerichts- und Behördenbibliotheken

Besondere Regeln gelten für Gerichts- und Behördenbibliotheken. Obwohl diese mangels öffentlicher Zugänglichkeit in vielen Fällen nicht gemäß § 60e Abs. 5 UrhG liefern – sehr wohl aber beliefert werden – dürfen, kommt ihnen dennoch eine privilegierte Stellung zu: Nach § 45 Abs. 1 UrhG ist es erlaubt, einzelne Vervielfältigungsstücke von Werken zur Verwendung in einem Verfahren vor einem Gericht, Schiedsgericht oder einer Behörde herzustellen oder herstellen zu lassen.[34] Letzteres impliziert die Anfertigung der Kopie bzw. des Scans durch Dritte wie z. B. eine gebende Bibliothek. Der zulässige Umfang sowie die Modalitäten des Kopienversands richten sich dann nach § 45 UrhG.[35]

Berechtigt sind neben Rechtsprechungsorganen auch alle anderen Stellen der öffentlichen Verwaltung. Unter Verfahren ist dabei „staatliches Handeln zur Regelung eines Einzelfalls mit Wirkung nach außen“ zu verstehen.[36] Ausgenommen sind hingegen rein verwaltungsinterne Vorgänge.[37] Nicht erlaubt ist zudem eine Verwendung außerhalb des jeweiligen Verfahrens – insbesondere berechtigt § 45 UrhG Gerichts- oder Behördenbibliotheken nicht zum Bestandsaufbau.

Nicht zuletzt kennt § 60e Abs. 5 UrhG anders als § 45 UrhG keine Umfangsbegrenzung. Auf Anfragen von Gerichten oder Behörden ist deshalb die vollständige Vervielfältigung von urheberrechtlich geschützten Werken erlaubt.[38] Selbst wesentliche Teile von Datenbanken dürfen gemäß § 87c Abs. 2 UrhG vervielfältigt bzw. digital zugänglich gemacht werden.

5 Handlungsempfehlung für die Praxis

Die in diesem Beitrag skizzierte Kaskade von Ausnahmen mag angesichts ihrer Komplexität abschrecken, dies wäre aber weder im Sinne der Bibliotheken noch ihrer Nutzer. Vielmehr lässt sich daraus ein Entscheidungsbaum extrahieren, der mit vertretbarem Aufwand anwendbar ist:

Abb.: Vereinfachtes Prüfungsschema – Dokumentenlieferung von digitalen Inhalten.
Abb.:

Vereinfachtes Prüfungsschema – Dokumentenlieferung von digitalen Inhalten.

Indem die Lieferung auf Inhalte deutscher Anbieter begrenzt wird, lässt sich die vergleichsweise komplexe Prüfung des anwendbaren Rechts sowie eine detaillierte Prüfung von Lizenzverträgen vermeiden. Bei Verträgen zwischen in Deutschland ansässigen Parteien wird ganz überwiegend das deutsche Recht kraft Vereinbarung oder gesetzlicher Zuweisung zur Anwendung kommen.[39] Die entsprechenden Informationen finden sich bei Monografien i. d. R. bereits auf den ersten Seiten. Bei Zeitschriften genügt meist ein Blick ins Impressum.

Der zweite Prüfungsschritt stellt sicher, dass Altverträge ausgeschlossen bleiben. Bei Monografien bietet schon das Erscheinungsdatum einen ersten Indikator. Es ist sehr selten, dass Monografien lange vor Erscheinen lizenziert werden.[40] Deshalb ist es m. E. vertretbar im Hinblick auf die Dokumentenlieferung zu unterstellen, dass bei Titeln ab dem Erscheinungsjahr 2019 kein Altvertrag zugrunde liegt.[41] Das umgekehrte Phänomen ist hingegen relativ häufig. In größeren E-Book-Paketen sind oftmals auch Titel von der Backlist der Verlage enthalten. Daher empfiehlt es sich bei Werken, die vor 2019 erschienen sind, auf das Datum des Vertragsschlusses abzustellen.[42]

Letzteres Kriterium ist auch bei Datenbanken und Zeitschriften entscheidend. Dies ist gegenüber der Prüfung des Erscheinungsjahrs nicht anspruchsvoller, sondern lediglich im Hinblick auf die Implementierung organisatorisch aufwendiger. Die Mitarbeiter in der Dokumentenlieferung haben in vielen Häusern keinen Zugriff auf die erforderlichen Vertragsinformationen. Abhilfe böte z. B. ein (lesender) Zugriff auf die ERM[43]-Systeme. Das Kriterium der wesentlichen Vertragsänderung bedingt im Prinzip eine eingehendere Sichtung – zumindest im Hinblick auf erst nachträglich festgesetzte Preiserhöhungen ist dieses dennoch praxistauglich. Alternativ können Bibliotheken Positivlisten für wichtige Datenbanken aufstellen, aus denen die Lieferung erlaubt ist.[44]

Nicht berücksichtigt wird im Entscheidungsbaum die Ausnahme im Hinblick auf noch nicht erschienene Werke, da bei dauerhaft öffentlich zugänglich gemachten Inhalten unterstellt werden darf, dass diese i.S.d. Urheberrechts erschienen sind. Es ist nicht Aufgabe der Dokumentenlieferung, den durch Inhalteanbieter gesetzten Anschein zu überprüfen. Auch eine Kontrolle, ob technische Schutzmaßnahmen die Lieferung verhindern, muss nicht vorab erfolgen; vielmehr fällt dies im Rahmen des Geschäftsgangs ohnehin auf.

Das Prüfungsschema führt demnach in zwei Schritten zu einem Ergebnis. Durch diese Vereinfachung werden allerdings die rechtlichen Möglichkeiten zur Lieferung digitaler Inhalte bei Weitem nicht ausgeschöpft. Dafür lässt sich die Entscheidung ohne juristische Kenntnisse allein anhand von formalen Kriterien treffen. Das Resultat sollte als absolutes Minimum, das rechtssicher geliefert werden darf, verstanden werden. Dieses Vorgehen ist zugunsten des Personals in der Dokumentenlieferung anwender-, aber nur bedingt mit Blick auf die Bibliothekskunden auch nutzerfreundlich, da in einer Vielzahl von rechtlich erlaubten Konstellationen auf den Kopienversand verzichtet wird. Gleichwohl wäre der hier vorgestellte Vorschlag ein enormer Fortschritt gegenüber der aktuell weit verbreiteten Praxis, Anfragen auf den digitalen Bestand abzulehnen. Daher sollte das Prüfungsschema lediglich als Ausgangspunkt, der dieses Bestandssegment dem Kopienversand öffnet, verstanden werden.

6 Fazit

Im Ergebnis führt der digitale Wandel zu einer erhöhten Komplexität und damit einer Aufwertung der Tätigkeiten in der Dokumentenlieferung. Insofern besteht eine Parallelität zur Erwerbung und Medienbearbeitung. Nicht zuletzt steckt im Kopienversand aus dem digitalen Bestand aber das Potential, den Rückgang des Liefervolumens zu stoppen oder gar umzukehren. Mit stetigen Preissteigerungen gerade bei digitalen Ressourcen und einer sich in den nächsten Jahren absehbar verschlechternden Lage der öffentlichen Haushalte wird eine Verknappung des lokalen Literaturangebots einhergehen, die die kooperative Versorgung auch zukünftig unverzichtbar erscheinen lässt.[45] Dafür gilt es, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen:

  • Erstens sollten Bibliotheken im Hinblick auf § 137o UrhG – soweit noch nicht geschehen – sukzessive Altverträge für Datenbanken und andere digitale Inhalte, die ohne Archivrechte lizenziert wurden, neu verhandeln. Die Einschränkungen, die sich aus dem nicht gewährleisteten Vorrang der Urheberrechtsschranken gegenüber abweichenden vertraglichen Regelungen bei Altverträgen ergeben, betreffen nicht nur die Dokumentenlieferung, sondern das gesamte Spektrum der nach §§ 60a ff UrhG privilegierten Nutzungen – also z. B. auch elektronische Semesterapparate, Text- und Data-Mining sowie Entnahmen für Restaurierung oder wissenschaftliche Forschung.

  • Zweitens dürfte das Ziel, das rechtlich Erlaubte zugunsten der Bibliotheksnutzer konsequent auszunutzen, nur zu erreichen sein, wenn neben den technischen Komponenten der Dokumentenlieferung auch das Rechtemanagement kooperativ ausgestaltet wird. Eine einzelne Bibliothek wird vielfach mit einer detaillierten Prüfung ihrer Lizenzverträge auf die Zulässigkeit des Kopienversands (oder anderer gesetzlich erlaubter Nutzungen) überfordert sein – umso wichtiger wäre es, Aufwand und Expertise zu teilen. Beispielsweise könnten in Katalogdaten oder kooperativ genutzten ERM-Systemen entsprechende Indikatoren aufgenommen werden. Das Potential sollte gerade bei en bloc lizenzierten Inhalten wie E-Book-Paketen und Datenbanken offensichtlich sein. Nicht zuletzt führt an einer arbeitsteiligen Rechteprüfung aber kaum ein Weg vorbei, wenn es gelingen soll, auch Inhalte, die von ausländischen Anbietern lizenziert wurden, flächendeckend für gesetzlich erlaubte Nutzungen zu öffnen.

  • Drittens sollte es selbstverständlich sein, dass die Kollegen in der Dokumentenlieferung und Fernleihe Unterstützung benötigen. Dies gilt umso mehr, als dort nahezu ausschließlich Mitarbeiter ohne rechtliches Spezialwissen beschäftigt sind. Sie sind deshalb darauf angewiesen, dass Fortbildungen angeboten, einschlägige Rechtsprobleme für sie aufgearbeitet und bei Bedarf Lizenzverträge eingehend geprüft werden. Hier stehen Kollegen mit juristischer Expertise in der Pflicht. Gefordert sind jedoch auch bibliothekarische Ausbildungsinstitutionen. Dort kommen rechtliche Themen vielerorts zu kurz bzw. die Lehrveranstaltungen sind schlecht auf die in der Praxis benötigten Inhalte abgestimmt. Es genügt nicht, im Rahmen der IFLA copyright literacy als bibliothekarische Kernkompetenz zu propagieren;[46] vielmehr muss das Aus- und Fortbildungsangebot substantiell ausgebaut werden.

  • Viertens muss die nach § 60e Abs. 5 UrhG erlaubte digitale Lieferung unmittelbar an den Endnutzer endlich auch aus einer vergütungsrechtlichen Sicht praktikabel werden. Aktuell ist eine Lieferung an die nehmende Bibliothek, die dann als Mittler eine Papierkopie an den Endnutzer weitergibt, gängige Praxis. Ursächlich ist ein einseitig festgesetzter Tarif der VG Wort,[47] der nicht nur durch Einzelabrechnung einen erhöhten Dokumentationsaufwand bedingt, sondern dessen Kosten auch unmittelbar die Bibliotheksetats belasten.[48] Hier sind insbesondere die Kultusministerkonferenz und die Bibliotheksverbände gefordert und auch bereits aktiv geworden.[49]

Kooperation ist Kernbestandteil der DNA des deutschen Bibliothekswesens. Dies gilt nicht zuletzt für digitale Bestände, die in erheblichen Teilen konsortial lizenziert, deren Nachweis durch die Verbünde u. a. mit Metadatenlieferungen unterstützt und die in gemeinsamen Systemen wie dem ERM LAS:eR verwaltet werden. Nur im Hinblick auf den Zugriff auf diese Ressourcen scheint diese Tugend vergessen. Es ist Zeit, den Kopienversand aus digitalen Beständen zu wagen!

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Peter Brettschneider

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Published Online: 2022-05-10
Published in Print: 2022-05-06

© 2022 Peter Brettschneider, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 8.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bd-2022-0047/html
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