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Kodierungen des Antisemitismus. Überlegungen zum Einfluss von Sprache, Recht und Justiz auf die Gestalt der Judenfeindschaft in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert

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Published/Copyright: November 11, 2022
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Abstract

Using examples from the late 19th century to the present, it will be discussed to what extent anti-Semitism was shaped by a »legal code«. The pressure of legal repression, however weak it may have been at times, caused anti-Semites to retreat to language formulas that were no longer (or not yet) legally objectionable, without therefore giving up their convictions. This borderline is fundamentally semantically indeterminable, because associations, puns and cynicism cannot be banned. The legal instruments often come to nothing, because a judiciary under the rule of law may only sanction deeds, not thoughts. Each judgement inevitably redefines this borderline, at least in nuances. By contributing in this way to constituting the discursive framework of anti-Semitism, even if there is a broad social consensus of its ostracism, the law is both a partial solution and part of the problem.

Ein virulenter, stets sprachlich, zunehmend aber auch physisch gewalttätiger Antisemitismus scheint in Deutschland (und nicht nur hier) wieder auf dem Vormarsch zu sein, wie der mörderische Anschlag auf die Synagoge in Halle an Jom Kippur 2019 besonders dramatisch gezeigt hat.[1] Die wenige Monate später beginnenden »Corona-Proteste« wärmten nicht zuletzt alte judenfeindliche Stereotypen auf, die vom nur oberflächlich verschleierten Motiv der Brunnenvergiftung über die angebliche »jüdische Geldgier« bis zum Vorwurf des Strebens nach Weltherrschaft reichen.[2] Insgesamt muss also ein steigendes Maß der Quantität und Intensität des »Alltagsantisemitismus« konstatiert werden.[3]

Wie in den vielen Springfluten rechtsradikaler Gewalt davor, wird auch nun wieder die Diskussion darüber belebt, wie dieser Bedrohung des öffentlichen Friedens, der demokratischen Ordnung und der Menschenwürde begegnet werden könnte. Empfohlen werden vor allem juristische und polizeiliche Repression einerseits, Erziehung und Aufklärung andererseits. Dieses Forderungspaket aus Parteiverbot und Gemeinschaftskundeunterricht zeichnet sich zum einen durch den ständigen Verweis auf die NS-Zeit und insbesondere die Shoa aus. Zum anderen ist die zentrale Rolle bemerkenswert, die dem Staat als Polizist und Lehrer zugewiesen wird. Diese Debatte ist, wie der Rechtsphilosoph Christoph Menke feststellte, »ein Diskurs im Namen des Staates«[4], die, weitgehend unhinterfragt, stillschweigend davon ausgeht, gesellschaftliche Probleme ließen sich mit juristischen Mitteln steuern, wenn nicht gar lösen.

Doch diese Annahme möchte ich in diesem Beitrag am Beispiel Deutschlands einer kritischen Prüfung unterziehen. Dabei gehe ich von zwei Überlegungen aus. Das »Phänomen« Antisemitismus stellt, erstens, das Justiz- und Rechtssystem beständig vor neue Herausforderungen. Der juristische Kampf gegen antisemitische Agitation mit den Mitteln des Strafrechts, um das es im Folgenden ausschließlich geht, erscheint als der sprichwörtliche Wettlauf zwischen Hase und Igel. Kaum ist eine »Gesetzeslücke« durch eine Novellierung vermeintlich gestopft oder durch höchstrichterliche Rechtsprechung zumindest überbrückt, taucht eine neue Kodierung antisemitischer Ressentiments auf, die in der Regel jahrelang ungeahndet verbreitet werden kann, ehe sich Rechtsprechung und Gesetzgebung wiederum darauf einstellen. Warum ist das so, welche Rolle spielt das Recht bei der semantischen Grenzsetzung des Antisemitismus? Die zweite Beobachtung ist, dass der Justiz oft eine gewisse Naivität und Trägheit bei der Verfolgung antisemitisch motivierter Straftaten unterstellt wird. Insbesondere in der Weimarer Republik gab es eine heftige »Justizkritik«, die sich an zahlreichen Gerichtsurteilen entzündete, die bis heute erschütternd wirken. Der Mathematiker, politische Publizist und Pazifist Emil Julius Gumbel wies in den 1920er Jahren nach, dass rechtsradikale Täter generell signifikant mildere Strafen erhielten als linksradikale. Erich Eyck, Ludwig Foerder und andere zeichneten zur gleichen Zeit auf, dass von Gerichten immer wieder offensichtlich antisemitisch motivierte Straf- und Gewalttaten justiziell so umkodiert wurden, dass häufig gegen alle Evidenz Freisprüche oder äußerst milde Urteile ergingen.[5] Meine These ist, dass es aber zu kurz greifen würde, die »Schwierigkeiten« der Justiz im Umgang mit dem Antisemitismus allein darauf zurückzuführen, dass die an der Urteilsfindung beteiligten Personen »auf dem rechten Auge blind« waren. Das war (und ist) zwar zweifellos oft der Fall, doch ich werde im Folgenden nach strukturellen Gründen suchen. Dazu werde ich das komplexe Beziehungsgeflecht von Sprache, Recht und Antisemitismus erörtern, indem ich zunächst einige theoretische Überlegungen anstelle, die dann im zweiten Schritt anhand einiger Beispiele aus dem ersten beiden Dritteln des Zwanzigsten Jahrhunderts illustriert werden, woran sich abschließende Gedanken anhand gegenwärtiger Entwicklungen anschließen.

I Sprache, Recht, Kodierung: Theoretische Überlegungen

Die Anwendung des geltenden Rechts beruht auf Textexegese. Wie in den Schriftreligionen gibt es einen Primärtext – Tora/Tanach, Bibel, Koran hier, Verfassungs- und Gesetzestexte dort – und ausdeutende Sekundärtexte – Talmud, Schriften der Kirchenväter, Tafsīr/Taʾwīl hier, Kommentarliteratur und höchstrichterliche Urteile dort.[6] Und so wie die Theologie, in wechselndem Grad von (Un)Duldsamkeit, wahre Lehre und »Irrlehre« unterscheidet, so kodiert das Strafrecht die chaotische Vielfältigkeit, Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit menschlichen Lebens in binäre schuldig-nichtschuldig-Urteile.[7] Differenzierungen sind nur über die Variabilität der Strafhöhe möglich, durch die Geltendmachung strafverschärfender oder mildernder Umstände, durch die Gewährung von Bewährung oder durch Strafaussetzungen und Amnestien.

So wie die Deutung und Anwendung religiöser Texte und darin enthaltener Normen immer auf sich verändernde gesellschaftliche, soziale und politische Tatsachen reagieren muss, ist das auch im Bereich des Rechts der Fall. Gesetze sind »geronnene Politik«[8], indem sie politische Entscheidungen fixieren. Die Justiz lebt vom dauerhafte Geltung beanspruchenden Wort, weshalb sie sich gegen kurzatmige Modifikationen zu immunisieren trachtet. Doch weil sich soziale Strukturen und Praktiken wandeln, Begriffe ihre Bedeutung verändern, Ideen und Wertvorstellungen erodieren und neu entstehen, ist der performative Charakter der Rechtsausübung so bedeutsam. In jeder Gerichtsverhandlung – diese sind in der Regel ja öffentlich – wird die Gesetzesausdeutung aufs Neue vorgenommen, wobei sowohl die Mündlichkeit wie auch die theaterhafte Inszenierung eine eigene Dynamik entfalten, die die Legitimität rechtlicher Entscheidungen stärken, aber auch unterminieren kann. Allgemeine Verbindlichkeit können veränderte gesellschaftliche Werte jedoch nur durch die Kondensierung oraler und performativer Aushandlungsprozesse in schriftliche Form, also durch Gesetzesänderungen erlangen. Weniger grundsätzlich sind höchstinstanzliche, die untergeordneten Gerichte bindende Urteile, die dann wiederum in die Kommentarliteratur einfließen. Wie es der Rechtshistoriker Thomas Henne angesichts der Dichotomie von »Ewigkeitsrhetorik des Gesetzes« und »Vergänglichkeit des Kommentartextes« maliziös formulierte: »Nur Laien zitieren Gesetze«[9]!

Für die Änderungen der Rechtstexte oder der Rechtsanwendung müssen viele Akteure zeitaufwendig zusammenwirken, weshalb der Justiztheorie, der Rechtsprechung und der Rechtsdurchsetzung oft eine gewisse Trägheit innewohnt, die leicht als politisch-sozialer Konservatismus erscheint, unabhängig davon, inwiefern sie es auch tatsächlich ist.

Aus dem bisher Gesagten folgt auch, dass sich das Recht (wie auch die Theologie) in einem beständigen Widerspruch bewegt. Einerseits besteht der Anspruch der Überzeitlichkeit und Unverrückbarkeit – »Gottes ewiges Wort« hier, Verfassungs- und Gesetzestexte dort – andererseits werden, wenn der Veränderungsdruck zu groß wird, Modifikationen vorgenommen – »Reformationen« hier, Verfassungs- und Gesetzesnovellierungen dort. Für das Recht wie für die Theologie gilt gleichermaßen: passen sie sich zu leichtfertig an »neue Zeiten« an, gelten sie schnell als opportunistisch und prinzipienlos, tun sie es nicht, erscheinen sie als aus der Zeit gefallen oder gar reaktionär. In beiden Fällen drohen sie ihre soziale Bindungskraft zu verlieren.

Für die Rolle der Justiz bei der Kodierung des Antisemitismus ist noch eine weitere Dichotomie bedeutsam. Die seit gut einem Jahrzehnt florierende Emotionsgeschichte betont die Bedeutung von Gefühlen für das menschliche Verhalten und historische Prozesse; nicht zuletzt der Antisemitismus bietet dafür reichhaltiges Anschauungsmaterial.[10] Auch Strafgesetze handeln immer wieder von Gefühlen, etwa wenn es um das weite Feld der Beleidigungsdelikte geht. Diese kreisen um den Begriff der »Ehre« und sind ohne ihren emotionalen Gehalt nicht zu begreifen. Ähnliches gilt für den § 166 Strafgesetzbuch (StGB), denn die »Religionsbeschimpfung« handelt (neben der ungestörten Religionsausübung) von der Verletzung religiöser Gefühle, und auch der § 130 StGB kommt, zwar nicht in seinem Wortlaut, wohl aber in seiner Auslegung, nicht ohne den Rekurs auf subjektive Bedrohungsgefühle aus.

Das Selbstverständnis der Strafjustiz ist es demgegenüber, nicht auf Gefühlen aufzubauen, sondern sachlich-logisch zu sein. Im Zeichen der lange Zeit vorherrschenden »Begriffsjurisprudenz« wurde die Vorstellung gepflegt, die Richter seien reine »Subsumptionsautomaten«, die lediglich ein in sich logisches System von Rechtsbegriffen stringent anzuwenden hätten, um zum »richtigen« Ergebnis zu gelangen. Reformbewegungen wie die »Interessenjurisprudenz« oder die »Freirechtslehre« stellten die unbedingte Gesetzesbindung der Richter in Frage, was in der Weimarer Republik zu einer komplexen Debatte über das Verhältnis von legislativer und judikativer Gewalt führte.[11] Letztlich ging es dabei um die bis heute aktuelle Frage, ob der demokratisch legitimierte Gesetzgeber, das Parlament, oder die von diesem als weitgehend unabhängig gedachte Justiz das eigentliche Sagen bei der Ausgestaltung der in den Verfassungs- und Gesetzestexten formulierten Grundsätze haben sollte.

II Sprache, Recht, Kodierung: Praktische Überlegungen

Auf der Ebene der Gesetze ist die grundlegende Tatsache, dass Antisemitismus als solcher keine Straftat ist. Nur wenn Handlungen aufgrund judenfeindlicher Einstellungen erfolgen, die auch ohne diesen Hintergrund strafbar wären, werden sie ein Fall für die Strafjustiz. Niemand darf in einem liberalen Rechtsstaat allein für feindselige Gedanken oder Einstellungen gegenüber bestimmten Personen oder Gruppen bestraft werden. »Thought crime« ist ein Delikt nur in George Orwells 1984 und in jenen totalitären Systemen, die dieser Dystopie als Vorlage dienten. Dennoch ist auch im deutschen Rechtssystem des Jahres 2022 die Gesinnung, aus der heraus eine Tat begangen wird, nicht bedeutungslos. In einer grundlegenden Strafrechtsreform wurde 1998 der § 46 StGB neugefasst. Dadurch wurden »die Beweggründe und die Ziele des Täters, die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille«[12] als Kriterien für die Strafbemessung eingeführt. 2015 wurden ausdrücklich »besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende« Beweggründe und Ziele genannt, zu denen dann 2021 noch »antisemitische« hinzutraten.

Wenn eine gesetzeswidrige Handlung begangen worden ist, fragt die bis heute vorherrschende »Rechtsguttheorie«[13] danach, welches Rechtsgut durch eine bestimmte Handlung verletzt worden ist. Für die juristische Ahndung antisemitisch motivierter Straftaten kommen dafür der Schutz der »Menschenwürde«, der individuellen oder kollektiven »Ehre« sowie die Wahrung des »öffentlichen Friedens« in Frage.

Zwar ist die Prävention eine der dem Recht häufig zugeschriebenen Funktionen. Dennoch ist es eine der wichtigsten Grundlagen eines liberalen Rechtsverständnisses, dass die »Gesinnung, der Gedanke, ja selbst der Entschluß […] nicht unter das Strafgesetz«[14] fallen, denn die Generalprävention ist mit liberalen Strafrechtsgrundsätzen nur schwer vereinbar. Der für die Verfolgung antisemitischer Agitation heute zentrale § 130 StGB bildet insofern eine Ausnahme, als er zu den Tatbeständen gehört, die im Gesetzestext bereits darauf verweisen, was eigentlich inkriminiert werden soll. Die »Aufreizung zum Klassenhass« wird inkriminiert, um die eigentliche Tat – die gewaltsame Konfliktaustragung zwischen Bevölkerungsgruppen – zu verhindern.

Die Geschichte des § 130 StGB begann 1835 in Frankreich.[15] Dort verbot ein Gesetz die »Aufreizung« verschiedener »Klassen der Bevölkerung« gegeneinander und diente als Herrschaftsinstrument gegen das sich als politische Kraft formierende Proletariat. Zu diesem Zweck wurde dieses Gesetz auch in Preußen »nachgebildet«[16] und prägte später die Reichsgesetzgebung. Als die preußischen Bestimmungen 1871 in das Strafgesetzbuch des Kaiserreichs übernommen werden sollten, war es – ausgerechnet, möchte man sagen – der große jüdische Liberale Eduard Lasker, der darauf beharrte, dass konkret zu Gewalttätigkeiten aufgereizt werden müsse. Die Erregung von »Feindseligkeit« reiche für eine Inkriminierung nicht aus, denn, so Lasker, es gebe keinen Grund, »warum es verboten sein soll, irgendwelche Ausführungen zu machen, welche zu einer inneren Abneigung und selbst zu dem gesteigerten Grade der Feindseligkeit gegen bestimmte Klassen der Gesellschaft führen«.[17] Dieser Auffassung schloss sich die Mehrheit der Reichstagsabgeordneten an. Laskers Skepsis gegenüber dem Obrigkeitsstaat war nur zu berechtigt. Als Ende 1894 das preußische Justizministerium die höheren Gerichte zu Stellungnahmen darüber aufforderte, ob die bestehenden Strafgesetze ausreichend seien, um auch nach dem Auslaufen des Sozialistengesetzes gegen die vermeintlich staatsgefährdende Agitation der Arbeiterbewegung vorgehen zu können, verneinten diese das durchgehend. Der Staatsanwalt des Landgerichts Berlin I etwa klagte darüber, dass der § 130 StGB, »obwohl er als wichtiger Palliativ gegen die socialistische und anarchistische Propaganda gedacht worden ist, […] vollständig versagt« habe, »weil seiner Anwendbarkeit durch das in ihn aufgenommene Thatbestandsmoment des Anreizens zu Gewaltthätigkeiten allzuenge Grenzen gezogen sind.«[18] Mit eben diesem Argument, dass sie allenfalls zu »Feindseligkeiten«, nicht jedoch zu »Gewalttätigkeiten« gegen die Juden aufgerufen hätten, wurden jahrzehntelang aber auch antisemitische Agitatoren freigesprochen. Es erwies sich schnell als ein Dilemma, dass der autoritäre deutsche Obrigkeitsstaat für die potentielle Verfolgung antisemitischer »Hassrede« ausschließlich Gesetze (neben dem § 130 hier insbesondere der »Gotteslästerungsparagraph« 166 StGB) mit nur notdürftig eingehegter antiliberaler und antidemokratischer Gesinnung zur Verfügung stellte.

Der Wortlaut des § 130 StGB war, von orthographischen Anpassungen und wechselnden Währungsangaben für die Geldstrafen abgesehen, über alle politischen Umbrüche hinweg, von 1871 bis 1960 identisch:

Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt, wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.[19]

Aus diesem Text ergaben sich zwei zentrale Auslegungsprobleme: Was konstituiert eine Klasse der Bevölkerung und wie konkret muss die Anreizung zu »Gewalttätigkeiten« sein? Insbesondere die aus liberaler Prinzipientreue eingefügte Konkretisierung – Anreizung zu »Gewalttätigkeiten« statt nur zu »Feindseligkeiten« – sollte sich aus jüdischer Sicht gewissermaßen als Kuckucksei entpuppen. Denn nun musste jedes Mal ein konkreter Aufruf »zu Gewalttätigkeiten« nachgewiesen werden. Das war einer der Gründe dafür, dass die Antisemiten stets betonten, die »Lösung der Judenfrage« solle auf »streng gesetzlichem Wege« erfolgen. Die Gesetzesförmigkeit der NS-Judenverfolgung war daher kein bremsender Faktor, sondern machte die Radikalität der »Endlösung« überhaupt erst möglich.

Diese allgemeinen Überlegungen sollen nun anhand eines ersten Fallbeispiels illustriert werden. Walter Graf Pückler (1860–1924) war ein schlesischer Gutsbesitzer, aber auch ein studierter Jurist, dessen Karriere im juristischen Staatsdienst freilich früh und unrühmlich endete. Er wusste auch, wer daran schuld war, denn er beschwerte sich wiederholt darüber, dass er als strenger Gutsbesitzer oft von seinen Arbeitern verklagt wurde, die ihre Prozesse mit Hilfe jüdischer Rechtsanwälte gewannen. Daher war er davon überzeugt: »Die Juden beherrschen die Justiz in einer Weise, dass es mit Deutschland schlimm bestellt ist«[20].

Die »jüdisch beherrschte Justiz« ist bekanntlich ein klassischer antisemitischer Topos. Auf einer allgemeineren Ebene referiert das auch die Gegenüberstellung von »römischem« und »germanischem« Recht, die sich mit illustren Namen wie Rudolf von Jhering oder Otto von Gierke verbindet.[21] Das Römische Recht sei angeblich abstrakt, individualistisch und zersetze die natürliche Gemeinschaft des Volkes. Dieses Rechtssystem werde von »den Juden« bevorzugt, weil sie angeblich davon profitieren, komme es doch ihrem rabulistischen, intellektuelle Spiegelfechtereien auf die Spitze treibenden Geist entgegen. Leidtragend sei das dadurch zurückgedrängte germanische Recht gewesen, das in seiner Volksverbundenheit und Urwüchsigkeit viel besser dem deutschen Wesen entspreche als das römische Recht und deswegen von den Juden bekämpft werde. Auch der linksliberale jüdische Jurist Ernst Fuchs, einer der prägnantesten Vertreter der sogenannten »Freirechtslehre«, die allfällige Ungerechtigkeiten in der Rechtsprechung durch freie Rechtsfindung – oft in dezidierter Ablehnung der vorherrschenden Begriffsjurisprudenz – auflösen wollte, bezeichnete das Corpus Iuris als »römischen Talmud«[22]. Seine Bemerkung zeigt, wie verbreitet die Gleichsetzung von Judentum und lebensfeindlich-formalisierter Erstarrung war; nicht nur auf Seiten der politischen Rechten wurden als schädlich wahrgenommene Entwicklungen gewohnheitsmäßig und in klar diffamierender Absicht als »jüdisch« etikettiert.

Pückler war freilich kein Freund solch differenzierter theoretischer Debatten, sondern ein handfest-derber Advokat der praktischen Tat.[23] Daher rief er seit 1899 völlig unverblümt in hunderten Versammlungen »zum Kampfe gegen das völkerfressende, scheußliche Judenthum« auf, bis dieses »vernichtet und zerschmettert« sei, denn die Judenfrage sei »nur zu lösen mit Gewalt.« Als der »Centralverein Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens« daraufhin Strafantrag wegen Aufreizung zum Klassenhass und Religionsbeschimpfung stellte, wurde Pückler von dieser Anklage allerdings freigesprochen, denn das Gericht folgte seiner Behauptung, sein Dreschvokabular bestehe nur aus »rhetorische[n] Formen und […] Uebertreibungen«, obwohl der Graf in der Verhandlung getönt hatte, dass es »nichts schaden« würde, »wenn mal ein jüdischer Wucherer Prügel bekommt«. Trotzdem schloss das Gericht, dass Pückler zwar objektiv, nicht aber subjektiv zum Klassenhass aufreize. Doch während Pückler für das Halten seiner Rede freigesprochen wurde, wurden zwei Redakteure der Staatsbürger-Zeitung wegen des Verbreitens der Rede verurteilt. Dieses Urteil wurde vom Reichsgericht bestätigt, denn die Juden, so das Reichsgericht, sind Deutsche, bildeten aber eine Klasse im Sinn des § 130, »weil sie sich von den übrigen deutschen Staatsbürgern durch ihre Religion und Abstammung unterscheiden«. Das war insofern eine Sensation, als sich das Reichsgericht bis dahin standhaft geweigert hatte, die Juden als eine »Klasse der Bevölkerung« anzuerkennen, anders als etwa die »ostelbischen Junker«, denen der Schutz der Strafgesetze zuteilwurde. Die Juden waren dadurch lange aus der deutschen Rechtsgemeinschaft herauskodiert worden. Die nun eingetretene, unzweideutige juristische Niederlage versuchten die Antisemiten trotzdem in einen Sieg umzukodieren: Der »Centralverein« habe, so kommentierte die »Staatsbürgerzeitung«, das antisemitische Leitblatt jener Jahre, »also mit seiner Denunziation gegen uns nur erreicht, daß nach Feststellung durch das höchste Gericht das Judentum als besondere Klasse der deutschen Bevölkerung anzusehen ist, die mit uns Deutschen weder der Religion noch der Abstammung nach etwas gemein hat; […]. Die Juden haben durch ihr Vorgehen nur von neuem die unübersteigliche Schranke markieren lassen, die sie vom deutschen Volke trennt.«[24]

Das war inhaltlich zwar völliger Unsinn, zeigt aber, wie flexibel die antisemitische Kodierung war, wenn es darum ging, eine klare juristische Niederlage in einen Sieg umzudeuten.

In einem weiteren Revisionsurteil stellte das Reichsgericht 1901 fest, dass es einer wirklichen Störung des Friedens nicht bedürfe, damit der § 130 zur Anwendung komme. Stattdessen genüge es, »daß berechtigte Gründe zu der Befürchtung vorliegen, jenes Gefühl der öffentlichen Rechtssicherheit werde erschüttert werden«.[25] Entscheidend sei, dass »die Klasse, die das Opfer der Gewalttätigkeiten werden soll, […] sich in den Empfindungen geschützten, befriedeten Zusammenlebens auch dann beunruhigt fühlen [kann], wenn die Anreizung […] auf unfruchtbaren Boden fällt«. Auch dieses Urteil ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Wäre dieser Begriff nicht in der Gefahr, polemisch missverstanden zu werden, könnte man den Leipziger Richtern »wokeness« bescheinigen – über einhundert Jahre, bevor dieser Begriff in der deutschen Sprache auftauchte. Konsequent zu Ende gedacht bedeutete dieses Urteil nämlich, dass die Perspektive der Betroffenen nunmehr mindestens gleichberechtigt neben das bis dahin allein zählende Argument der »Wahrung der Staatsautorität« rückte. Selbst wenn diese »objektiv« nicht in Gefahr war, genügte das Bedrohungsgefühl der angegriffenen Gruppe, um den Schutz des § 130 aufzurufen.

Vor 1914 gab es also ernsthafte Ansätze, den Antisemitismus juristisch als Straftat zu kodieren und die Definitionshoheit darüber, wann eine Bedrohung strafrechtsrelevant war, in die Hände der angefeindeten Gruppe zu legen. Die vom CV-Monatsblatt Im Deutschen Reich geäußerte Hoffnung, dass es nunmehr unmöglich sein sollte, bei derart hasserfüllter Agitation »freisprechende Urtheile zu fällen«,[26] erfüllte sich freilich trotzdem nicht, denn das Reichsgericht war kein Verfassungsgericht im heutigen Sinn. Seine Urteile hatten formal keine bindende Wirkung auf die untergeordneten Gerichte. Diese sollte dadurch erreicht werden, dass es die nachgeordneten Gerichte in der Regel vermeiden wollten, dass ihre Urteile einer Revision unterzogen wurden. Es sollte sich in der Weimarer Republik zeigen, dass das offensichtlich jedoch viele Gerichte in Kauf zu nehmen bereit waren, wenn sie die eindeutige Rechtsprechung des Reichsgerichts ignorierten.[27] Im Fall Pücklers kommt hinzu, dass er ein fanatischer Überzeugungstäter war, der sich nicht durch die Justiz stoppen ließ. Trotz zahlreicher Verurteilungen setzte er seine Agitation unvermindert fort. Erst als er pseudosozialistische Töne anschlug und selbst Kaiser Wilhelm II. der Kumpanei mit »den Juden« bezichtigte, wurde er 1908 entmündigt und in die Psychiatrie eingewiesen.

In der Weimarer Republik versandeten die im Kaiserreich beobachtbaren Ansätze zur schärferen juristischen Ahndung antisemitischer Agitation. Stattdessen trugen manche Gerichte dazu bei, den Rahmen des Sagbaren nicht nur nicht einzuschränken, sondern im Gegenteil zu erweitern. Der deutsch-völkische Hauslehrer Theodor Knobel befahl 1921 einer von ihm geführten »Jungsturmschar«, vor dem jüdischen Friedhof im schlesischen Guhrau dreimal auszuspucken.[28] Der zuständige Staatsanwalt ermittelte erst aufgrund einer durch eine Beschwerde des »Centralvereins« erwirkten Anweisung des preußischen Justizministeriums wegen Religionsbeschimpfung und groben Unfugs. Doch das Gerichtsverfahren endete mit einem Freispruch, weil – so die Urteilsbegründung – das Verhalten des Angeklagten zwar »vom sittlichen Standpunkt nicht zu billigen« sei, eine Beschimpfung der jüdischen Religionsgemeinschaft aber nicht vorliege, da sich der Antisemitismus »nicht gegen die Religion, sondern gegen die Rasse der Juden« richte. Und obwohl der Tatort unmittelbar an einem jüdischen Friedhof lag, sei das nur der äußere Anlass, nicht eigentliches Ziel des Ausspuckens gewesen, das vielmehr »ganz allgemein im antisemitischen Sinne zu verstehen« sei. Die Fixierung auf den Gesetzestext – im § 166 StGB ist tatsächlich an keiner Stelle von »Rasse« die Rede, ebenso wenig wie zu jener Zeit im § 130 StGB – diente hier dazu, die offensichtliche Tatsache, dass die jüdische Religion den Ansatzpunkt für die Verächtlichmachung der Juden bildete, wegzudefinieren.

Selbst eine an sich den Schutz der Juden vor Diffamierung begünstigende höchstrichterliche Rechtsprechung, wie sie Graf Pückler unfreiwilliger Weise ausgelöst hatte, half nicht in jedem Fall weiter. Das zeigte Ludwig Foerder am Beispiel von Gymnasiasten auf, die die Verse »Schmiert die Guillotine ein mit Judenfett, Blut muß fließen, Judenblut!« rufend durch die schlesische Stadt Frankenstein gezogen waren.[29] Der zuständige Staatsanwalt von Gellhorn, der Mitglied des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes war, hatte die Anklageerhebung mit der Begründung abgelehnt, dass nach »dem neuerdings von den Gerichten vertretenen Standpunkt […] Deutsche und Juden […] nicht verschiedene Klassen, sondern verschiedene Rassen« darstellen und daher der Kehrreim »höchstens die Rassengegensätze verschärf[en], nicht aber zum Klassenkampf auf[fordern]« könne. Es war eine bei den Antisemiten beliebte Methode, den § 130 StGB trotz der einschlägigen Reichsgerichtsentscheidungen auszuhebeln, indem auf den Wortlaut verwiesen wurde, in dem das Wort »Rasse« tatsächlich nicht vorkam. Ludwig Foerder wies darauf in seiner Beschwerde an den Generalstaatsanwalt in Breslau hin, sei es doch »bisher nicht üblich, dass die Staatsanwaltschaft sich mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts in Widerspruch setzte und man sie von sich aus zu korrigieren suchte. Dies könnte höchstens Sache der Gerichte sein.« Staatsanwalt von Gellhorn ließ sich davon freilich nicht beeindrucken und stellte das wiederaufgenommene Ermittlungsverfahren rasch ein.

Ein weiteres Beispiel aus dem Jahr 1927 zeigt ebenfalls, wie begriffliche Haarspalterei antisemitische Hassagitation so kodierte, dass sie aus der Strafbarkeit herausdefiniert wurde.[30] Der Illustrierte Beobachter, die Beilage des Völkischen Beobachters, hatte 1927 eine Darstellung des angeblichen »Ritualmords« in Konitz abgedruckt.[31] Bei der Staatsanwaltschaft in Göttingen waren zwei Ermittlungsverfahren wegen Aufreizung zum Klassenhass und Religionsbeschimpfung (§§ 130 und 166 StGB) anhängig, weil diese Bilder im Schaufenster einer Buchhandlung auslagen. Als der Oberstaatsanwalt in Göttingen das Verfahren einstellte, legte der Rechtsanwalt der CV-Ortsgruppe, Walter Proskauer, Beschwerde ein, doch auch der Generalstaatsanwalt in Celle plädierte für die Verfahrenseinstellung. Gegenüber dem Justizministerium gestand er zwar ein, »daß eine versteckt drohende, zu Gewalttätigkeiten aufreizende Kundgebung« vorliege und der Buchhändler »wohl mit Absicht gerade die Seiten mit den aufreizenden Bildern und Texten nach vorn ausgehängt« habe. Doch mit großem Einfühlungsvermögen konstatierte er weiter, dass die bewusste Absicht, »nicht nur Haß, Verachtung und Verbitterung gegen die Juden hervorzurufen, sondern auch zu Gewalttätigkeiten anzureizen, […] sich einwandfrei nicht feststellen« lasse. Da also zwar fahrlässiges, nicht aber vorsätzliches Handeln vorliege, müsse das Verfahren eingestellt werden.

Nun folgte eine weitere semantische Volte, die den Eindruck hinterlässt, dass die Verfahrenseinstellung gezielt herbeigeführt werden sollte. Die Bilder, so der Generalstaatsanwalt, seien zwar geeignet, eine starke Erbitterung der Christen gegen die Juden hervorzurufen, die dann in Gewalt umschlagen könnte: »Die Gewalttätigkeiten würden aber erst die Folgeerscheinung gewesen sein, nicht die unmittelbare Wirkung der Bilder auf die Christen.« Die Bilder lösten außerdem nur ein mittelbares Gefühl der Bedrohung bei den Juden aus, das Gefühl der Belästigung reiche für ein Verfahren nicht aus. Der Generalstaatsanwalt führte einige seine Position vermeintlich stützende Reichsgerichtsurteile auf, doch eines nicht: nämlich das durch die Agitation des Grafen Pückler veranlasste von 1901, in dem ja festgestellt worden war, dass der § 130 StGB bereits dann greift, wenn bei der angegriffenen Bevölkerungsgruppe das Gefühl der öffentlichen Rechtssicherheit erschüttert wird, auch wenn keine tatsächlichen Gewalttaten vorkommen. Die Entscheidung des Generalstaatsanwalts in Celle ist ein Musterbeispiel dafür, dass viele Gerichte in der Weimarer Republik das eigentlich Offenkundige wegdefinierten. Dadurch trugen sie – in welchem Maß absichtsvoll, müsste im jeweiligen Einzelfall geklärt werden – objektiv dazu bei, einen in juristischer Sprache kodierten, damit als legal und letztlich auch als legitim erscheinenden Antisemitismus zu kreieren. In diesem Fall griff das Preußische Justizministerium freilich ein und erwirkte eine Anklageerhebung; das Urteil wurde allerdings wegen einer Amnestie nicht vollstreckt.

Die Bemühungen der Antisemiten, ihre Propaganda so zu »verpacken«, dass sie nicht strafrechtsrelevant und die Hassbotschaft für Eingeweihte trotzdem erkennbar war, entging den Gerichten freilich nicht durchgängig. Das Reichsgericht etwa stellte anlässlich des im Oktober 1930 erlassenen Verbots der nationalsozialistischen Zeitung Hessenhammer fest, dass diese »in Kenntnis der gesetzlichen Bestimmungen bestrebt ist, das Gesetz zu umgehen, ohne auf die […] verbotenen Handlungen verzichten zu wollen. Dieses zwingt dazu, den Sinn und Zweck der gebrauchten Redewendungen und Worte einer besonders kritischen Prüfung zu unterziehen.«[32] Diese »besonders kritische Prüfung« kann »die Justiz« aber nicht aus sich selbst heraus vornehmen, vor allem dann nicht, wenn der Gesetzestext selbst den Antisemiten den Kode vorgibt, mit dem sie ihre menschenverachtende Botschaft verbreiten konnten. In diesem konkreten Fall heißt das, dass die Zunahme einer judenfeindlichen Agitation, die »die Juden« vor allem wegen ihrer angeblichen »Rasseeigenschaften« statt wegen ihrer religiösen Bindungen angreift, nicht zwingenderweise bedeutet, dass auch tatsächlich der Rassismus an die Stelle der Religionsfeindschaft getreten ist. Das kann so sein, doch ebenso ist es möglich, dass die rassistische Diffamierung vor allem deswegen erfolgte, weil sie im Gegensatz zur religiösen seltener justiziell geahndet wurde.

III Ausblick in die Gegenwart und abschließende Überlegungen

Das Problem, dass zur Verfolgung von Hasskriminalität gedachte Gesetzestexte ungewollt zur Kodierung des Antisemitismus beitragen, zieht sich bis in die Gegenwart. Schon seit 1950 wurde im westdeutschen Bundestag wiederholt darüber debattiert, wie die noch junge und fragile Demokratie vor der Agitation ihrer unbelehrbaren Feinde geschützt werden könnte.[33] Dabei kam anhand des Skandals um den Bundestagsabgeordneten Wolfgang Hedler auch zur Sprache, wie in Zukunft judenfeindlicher Agitation juristisch begegnet werden sollte.[34] Doch ein von der SPD eingebrachter Entwurf für ein »Gesetz gegen die Feinde der Demokratie« scheiterte ebenso wie ein erster Anlauf, den § 130 StGB so zu präzisieren, dass er eine bessere Handhabe gegen antisemitische Agitation bot.

Als 1957 die CDU einen erneuten Anlauf zur Neufassung des § 130 StGB unternahm, wies Adolf Arndt von der SPD auf die Nähe des Entwurfs zum NS-Denken hin, zumal »Redewendungen wie […] ›Volksverhetzung‹ als Gesetzesbegriffe sich nur in das unbestimmte und daher parteilich willkürliche Strafunrecht einer totalitären Macht einfügen lassen«.[35]

Dadurch zeigte er die grundlegende Problematik jener Tage auf, dass eine in Anlehnung an die Sprache der totalitären Diktatur kodierte Gesetzesänderung dem Schutz der Menschenwürde und der Demokratie dienen sollte. Das wurde auch deutlich, als 1960, nach einer Welle von Synagogenschändungen, der § 130 StGB tatsächlich neu gefasst wurde und folgenden Wortlaut erhielt:

Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er 1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung anstachelt, 2. zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder 3. sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft. Daneben kann auf Geldstrafe erkannt werden.[36]

Verantwortlich für die Novelle von 1960 war Dr. Josef Schafheutle,[37] Ministerialdirektor im Bundesjustizministerium, der in der NS-Zeit bereits als Referent im Reichsjustizministerium darüber nachgedacht hatte, wie die »deutsche Volksgemeinschaft« – nationalsozialistisch verstanden, also ausdrücklich ohne, ja gegen die jüdischen Deutschen – vor vermeintlich verhetzenden Angriffen geschützt werden könne. 1960 argumentierte er nun, dass »der neue Tatbestand der Volksverhetzung« dem »Wiedererstehen des Hasses zu wehren [habe], der einmal auf deutschem Boden gewütet hat.« Schafheutle verband autoritäre und demokratische Ansätze, denn einerseits wollte er »die Widerspenstigen und Bösartigen […] durch das Strafgesetz unter die Rechtsüberzeugung der Allgemeinheit« beugen, andererseits bekannte er sich zur »Unantastbarkeit von Menschlichkeit und Menschenwürde«. Deswegen sei die »Unterdrückung des Hasses […] nicht nur ein Anliegen jener, gegen die sich die Ausbrüche von Feindschaft und Intoleranz richten, sondern eine Aufgabe des ganzen Volkes«.

Ungeachtet dieser scharfen Worte verschwand der Antisemitismus in der Folgezeit nicht aus der Öffentlichkeit. Der § 130 StGB wurde daher 1994, 2005 und zuletzt 2020 weiter verschärft und ausdifferenziert,[38] nicht zuletzt, um die Behauptung, die Shoa habe nie stattgefunden, justiziell ahnden zu können. Doch die Formulierung dieser Absicht ist lang und komplex, was anzeigt, wie schwierig es ist, ein faktisches Sondergesetz im Hinblick auf ein konkretes historisches Ereignis juristisch zu formulieren. Daher wird in § 130.2.(3) StGB zunächst auf eine »unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches« verwiesen. Dieser Satz bedarf weiterer Exegese, denn § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches stellt es unter Strafe, dass jemand

in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, 1. ein Mitglied der Gruppe tötet, [ihm] schwere körperliche oder seelische Schäden […] zufügt, 3. die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen, 4. Maßregeln verhängt, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen, 5. ein Kind der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt […].[39]

Die Tendenz, Gesetzestexte so zu formulieren, dass sie möglichst keinen Interpretationsspielraum mehr zulassen, der es ermöglicht, die Intention des Gesetzes zu unterlaufen, zeigt sich auch im Wortlaut des § 130 StGB. Begnügte sich dieser 1871 noch mit 33 und 1960 mit 52 Wörtern, ist er 2020 auf den neunfachen Umfang angeschwollen und umfasst nunmehr 427 Wörter. Doch sind durch diesen epischen Text dem Antisemitismus endlich scharfe Grenzen gesetzt? Leider nein, denn weiterhin gibt es Möglichkeiten, antisemitische Ideen zu artikulieren, ohne ernsthaft mit der Justiz in Konflikt zu geraten. Es scheint, dass viele Juristen noch immer auffallend unsensibel für Kodierungen des Antisemitismus sind. Besonders gut funktioniert das, nachdem das Verbreiten der »Auschwitzlüge« kaum noch straffrei möglich ist, im Gewand der »Israelkritik«.[40] »Nie, nie, nie wieder Israel« ließ das Oberlandesgericht Münster im Herbst 2019 als zwar »überspitzte und polemische Kritik« an der israelischen Regierung durchgehen, denn obwohl nicht verkannt wurde, dass »Israel« in diesem Kontext schlicht eine Chiffre für »Juden« sein könnte, sei das durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Während die Verwendung von Kodes wie »18« für Adolf Hitler oder »88« für Heil Hitler inzwischen gerichtlich zuverlässig geahndet wird, schaffte es beispielsweise die Staatsanwaltschaft in Pforzheim 2020 eine Strafanzeige gegen ein Plakat mit der Aufschrift »Israel ist unser Unglück« zurückzuweisen, weil sie diesen Spruch als von der Meinungsfreiheit gedeckte Israelkritik wertete. Trotz der unübersehbaren Analogie zum »Stürmer-Motto« wurde quasi die juristische Unbedenklichkeit bescheinigt. »Einige Rechtsextreme«, stellt Ronen Steinke resignierend fest, »scheinen inzwischen von der Justiz gelernt zu haben, wie man judenfeindliche Parolen so verpackt, dass man auf größere richterliche Nachsicht rechnen darf«.[41]

Tatsächlich haben die Antisemiten gegenüber Pücklers Zeiten im Umgang mit der Justiz an Professionalität gewonnen, wenn es darum geht, antisemitische Inhalte so zu »verpacken«, dass sie an den Klippen des Strafrechts vorbeinavigiert werden können. In einem erstmals Anfang der 1990er Jahre erschienenen Rechtsratgeber der in der rechtsradikalen Szene geschätzten Rechtsanwältin Gisela Pahl stolpert ein rechter Aktivist namens »Mäxchen Treuherz« über »juristische Fußangeln«.[42] Das Buch erklärt, worauf rechte Aktivisten zu achten haben, wenn sie in die Öffentlichkeit treten. Das »Deutsche Rechtsbüro« hat ein Archiv mit Urteilen zu verschiedenen Themenfeldern aufgebaut, um im eigenen Prozess Beispiele für Freisprüche oder ähnliches anführen zu können. Auch überzeugte Antisemiten sind lernfähig und ziehen sich öffentlich auf Formulierungen zurück, die gerade noch erlaubt sind, ohne von ihrem menschenverachtenden Denken und Handeln zu lassen. Die jüngsten terroristischen Gewaltakte,[43] denen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zugrunde liegt, lassen darüber hinaus befürchten, dass der ständige Verweis auf die NS-Zeit zunehmend in die Irre führt. Gegen im Internet und in sozialen Netzwerken radikalisierte Einzeltäter, kleine terroristische Zellen oder durch weltweite Vernetzung entstehende Kommunikations- und Aktionsstrukturen wirken die rechtlichen Instrumente des 19. Jahrhunderts hilflos; ihr Kode passt in vieler Hinsicht nicht mehr in die heutige Zeit, auch, weil sich die Kommunikationsformen dramatisch verändert haben. Insbesondere die »neuen sozialen Medien« stellen große Herausforderungen an das Rechtsverständnis und die Rechtsdurchsetzung, etwa wenn es um Fragen wie »Öffentlichkeit«, »Autorenschaft« und »Ursache-Wirkungskorrelation« geht.[44] Und auch das Dilemma, dass eine liberal-demokratische Ordnung mit Hilfe aus einst antiliberaler und antidemokratischer Gesinnung entstammender Gesetze geschützt werden soll, bleibt ungelöst.

Heute wie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik muss beklagt werden, dass »rechte Richter« das Recht beugen, wenn es um die strafrechtliche Ahndung antisemitisch motivierter Straftaten geht.[45] Doch diese »rechten Richter« sind nicht das alleinige Problem. Jürgen Elsässer beispielsweise beschwor als »Vordenker« der »Neuen Rechten« nach dem Anschlag von Halle die »Schicksalsgemeinschaft« von Christentum und Judentum gegen den gemeinsamen Feind, den »Islamofaschismus«. Zugleich bedient er mit dem Geraune über das »Ostküsten-Establishment« oder den globalen »Finanz-Vampirismus«[46] antisemitische Stereotype. Kann man dagegen strafrechtlich vorgehen, ohne die Meinungsfreiheit ernsthaft einzuschränken? Die »Eingeweihten« wissen, wer gemeint ist, und dieser Kode kann und wird sich dem jeweiligen juristischen Verfolgungsdruck entsprechend immer wieder anpassen. Deswegen auf die juristische Verfolgung von Hasskriminalität zu verzichten, ist selbstverständlich keine Alternative. Der Versuch, ein amorphes, von Kontinuität der Sprach- und Bildmotivik ebenso wie von deren beständiger Anpassung an neue politisch-gesellschaftliche Gegebenheiten geprägtes Phänomen wie den Antisemitismus gewissermaßen ein für alle Mal in juristischer Sprache zu kodieren, ist angesichts der Ungeheuerlichkeit der Shoa und des daher zu Recht quasi zum deutschen »ceterum censeo« geronnenen Leitsatzes »Nie wieder Auschwitz« zwar nachvollziehbar, moralisch, politisch und gesellschaftlich gar unabweisbar. Juristisch ist es freilich hoch problematisch. Indem das Recht als ein Faktor unter vielen dazu beiträgt, den diskursiven Rahmen zu konstituieren, in dem gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit geäußert wird, ist es zugleich eine Teillösung und ein Teil des Problems.

Published Online: 2022-11-11
Published in Print: 2022-11-09

© 2022 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

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Downloaded on 4.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/asch-2022-2021/html?lang=en
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