Home Wolfgang Braungart, Melancholie und Geselligkeit. Studien zu Mörike. J. B. Metzler, Berlin 2021. XV/374 S., € 64,99.
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Wolfgang Braungart, Melancholie und Geselligkeit. Studien zu Mörike. J. B. Metzler, Berlin 2021. XV/374 S., € 64,99.

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Published/Copyright: December 8, 2022
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Wolfgang Braungart, Melancholie und Geselligkeit. Studien zu Mörike. J. B. Metzler, Berlin 2021. XV/374 S., € 64,99.


Mit dem Klischee vom verträumten, gemütvollen Dichter-Pfarrer Eduard Mörike hat die neuere literaturwissenschaftliche Forschung gründlich aufgeräumt. Man weiß mittlerweile gut Bescheid über die psychologische Vielschichtigkeit seines schmalen Werkes, man versteht seine ästhetische Virtuosität zu würdigen, aber man kennt auch die seelischen und körperlichen Leiden, die seinen Lebensweg begleitet haben und für seine poetische Produktion nicht folgenlos geblieben sind. Freilich hat das an sich begrüßenswerte Bestreben, den Autor von dem Makel provinzieller Harmlosigkeit zu befreien, in der akademischen Germanistik bisweilen sonderbare Blüten getrieben, wie etwa jüngst die unfreiwillige Komik mancher Versuche zeigt, aus Mörikes Texten versteckte politische Botschaften herauszupressen.[1] Dass es auch besser geht, demonstriert der vorliegende Band von Wolfgang Braungart, der Mörikes Kunst der Geselligkeit und des Gesprächs behandelt und damit Werke in den Blick nimmt, die überwiegend direkt aus den familiären und freundschaftlichen Lebensbezügen des Autors hervorgegangen sind und über ihre Verwendung im sozialen Austausch auch wieder in diese Sphäre zurückführten. Braungart, dem mehrere wichtige Beiträge zu diesem Themenkreis zu verdanken sind, vereinigt hier seine einschlägigen Aufsätze aus einem Zeitraum von rund 30 Jahren, die allerdings durchweg in gründlich bearbeiteter und meist auch beträchtlich erweiterter Form erscheinen.

Besondere Aufmerksamkeit widmet der Band Mörikes humoristisch getönten Versidyllen und Gelegenheitsgedichten, die lange Zeit das verzerrte Bild eines liebenswerten, versponnenen Biedermeierpoeten entscheidend mitgeprägt haben. Anhand von Texten wie Häusliche Scene, Der alte Thurmhahn oder Der Spiegel an seinen Besitzer sowie mehreren Gratulationsgedichten rekonstruiert Braungart eine eigentümliche Kunst des Alltäglichen, des Unscheinbaren und der vertrauten Lebenswelt, eine Kunst, die Züge eines Rituals annimmt, indem sie soziale Bindungen aufbaut und stabilisiert, und die sich als produktive ästhetische Selbstvergewisserung, als „gestaltende Bewältigung des Lebens“ (S. 224) verstehen lässt. Die behandelten Beispiele demonstrieren eindrucksvoll, wie man poetisch über Freundschaft und geselliges Vergnügen, über Alltagsbegebenheiten und ein gelingendes Dasein sprechen kann, ohne in Kitsch oder Banalitäten abzugleiten – vor solchen Gefahren bleibt Mörike durch eine subtile Form- und Sprachkunst, aber auch durch die allgegenwärtigen humoristischen Brechungen und seine milde Selbstironie gefeit.

Schwergängiges Pathos hat er ebenso gemieden wie philosophische Gedankenlyrik. Gleichwohl darf die scheinbare heitere Leichtigkeit seiner Werke nicht über deren ernsten Untergrund hinwegtäuschen. Mörike ist sich der prekären Stellung des Individuums in der Welt und in der Gesellschaft sehr bewusst; die Melancholie, die sich bei ihm immer wieder bemerkbar macht, lässt die Gefahr der Isolation und die Drohung der Vergänglichkeit ahnen. Über die permanente Selbstreflexion eines Subjekts, das sich nicht mehr ohne weiteres in gesellschaftlichen und religiösen Bezügen geborgen weiß, schließt Mörike unvermutet doch an die großen Fragen der Moderne an. Diese Reflexion manifestiert sich zum Beispiel im Phänomen der Erinnerung, wie es etwa in dem Gedicht Ach nur einmal noch im Leben! thematisiert wird, und in dem bedrängenden memento mori von Denk’ es, o Seele!. Eine geradezu existenzielle Selbstbegegnung gestaltet schließlich die Versepistel Erinna an Sappho, wo der Blick in den Spiegel den Menschen mit seiner Endlichkeit und Todesverfallenheit konfrontiert. Rettend oder mildernd wirken hier die dialogische Hinwendung zu einem vertrauten Du und nicht zuletzt die schöne Kunst selbst.

Mörikes Lyrik mit ihrem breiten Spektrum an Formen, Tönen und Genres steht im Mittelpunkt des Bandes. Den Abschluss der Interpretationsreihe machen aber zwei Studien zu den Erzählungen Mozart auf der Reise nach Prag und Das Stuttgarter Hutzelmännlein, die jeweils auf ihre Weise ebenfalls von Geselligkeit, Gespräch und der Kunst der Daseinsbewältigung handeln, und zwar nicht nur auf thematischer, sondern auch auf erzählstruktureller Ebene. Gerade die Mozart-Novelle versammelt die Generalthemen des Autors wie in einem Brennspiegel und spielt sie in einem komplexen narrativen Arrangement durch. Mit dem Titelhelden entwirft Mörike einen Künstler, der sein Leben wie sein Schaffen von einer „Ökonomie der Verschwendung“ (S. 291) bestimmen lässt. Hemmungslose Verausgabung und Todesnähe bilden die Quelle jener Melancholie, deren Motivik die ganze Erzählung durchzieht, und aufs Neue bietet Mörike die bekannten Gegenkräfte auf, damit die Düsterkeit nicht überhandnimmt: die Geselligkeit, die Freundschaft, das Gespräch und die Schönheit der Kunst. Eine ähnlich subtile dialogisch-gesellige Ästhetik entfaltet das Stuttgarter Hutzelmännlein, wo das Erzählen buchstäblich zur Lebenskunst wird. Wenn hier am Ende die Integration von individueller Selbstbehauptung und sozialen Bezügen auf märchenhaft-wundersame Weise gelingt, greift Mörike abermals ein genuin modernes Problem auf, um es auf seine ganz eigene Weise spielerisch-ernsthaft zu behandeln.

Braungarts Aufsätze sind ursprünglich in sehr unterschiedlichen Kontexten publiziert worden und deshalb nach Schwerpunktsetzung und Herangehensweise recht disparat. Dass ihre Zusammenschau keine geschlossene Monographie zu Mörikes Kunst der Geselligkeit ergibt, versteht sich unter diesen Umständen von selbst. Die meisten Beiträge streben auch gar nicht nach einer systematischen oder gar erschöpfenden Interpretation der ausgewählten Texte. Oftmals knüpfen sie statt dessen an scheinbar abseitige Aspekte an, die dann aber unerwartete und lohnende Perspektiven eröffnen. Die Ausführungen zum Alten Thurmhahn widmen sich beispielsweise der Krise der Predigt seit dem 19. Jahrhundert; der Beitrag zu den Bildern aus Bebenhausen geht unter anderem auf die zeitgenössische Rezeption der Gotik ein; von dem Gedicht An Philomele fällt ein Schlaglicht auf Mörikes kreativen Umgang mit der antiken Odenform, mit dem er sich in eine Traditionslinie stellt, die Braungart bis zu George und der Literatur um 1900 verfolgt, und am Beispiel von Der Petrefaktensammler wird sichtbar, wie die Differenzierung des Wissens in der modernen Welt dem Subjekt neue Integrationsleistungen abverlangt – eine Herausforderung, der Mörike mit seinen Sammeltätigkeiten, mit der schöpferischen Erinnerung oder eben mit der poetischen Produktivität begegnet.

Gerade weil sie Exkurse und Abschweifungen nicht scheuen, lesen sich Braungarts Aufsätze ebenso anregend wie vergnüglich (nur der Einleitung, der die Aufgabe zufällt, den Rahmen und die Grundlage für die folgenden Einzelbeiträge zu schaffen, hätte man eine stärkere argumentative Stringenz gewünscht). Alles in allem überzeugt der Band durch die Verbindung gründlicher philologischer Textarbeit mit einer wachen Aufmerksamkeit für die vielfältigen sozialen und kulturellen Kontexte der literarischen Werke. Und er zeigt Eduard Mörike als Repräsentanten einer spezifischen literarischen Modernität, die sich jenseits aller ambitionierten philosophischen, weltanschaulichen oder politischen Entwürfe bewegt.

Online erschienen: 2022-12-08
Erschienen im Druck: 2022-12-06

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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