Home Gianmario Borio / Elena Polledri (Hgg.), „Wechsel der Töne“. Musikalische Elemente in Friedrich Hölderlins Dichtung und ihre Rezeption bei den Komponisten. Winter, Heidelberg 2019. 308 S., € 46,–.
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Gianmario Borio / Elena Polledri (Hgg.), „Wechsel der Töne“. Musikalische Elemente in Friedrich Hölderlins Dichtung und ihre Rezeption bei den Komponisten. Winter, Heidelberg 2019. 308 S., € 46,–.

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Published/Copyright: March 3, 2022
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Gianmario Borio / Elena Polledri (Hgg.), „Wechsel der Töne“. Musikalische Elemente in Friedrich Hölderlins Dichtung und ihre Rezeption bei den Komponisten. Winter, Heidelberg 2019. 308 S., € 46,–.


Friedrich Hölderlin ist, so paradox es klingen mag, ein Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts. Jedenfalls fällt eine ernsthaft als solche zu bezeichnende Rezeption erst in diese Epoche.[1] Und erst recht gilt dies für die Entdeckung von Hölderlins Poesie durch die Komponisten, nachdem die deutschen Lyriker von Klopstock und Goethe über Heine, Rückert und Eichendorff bis hin zu Dehmel, Liliencron und Stefan George das Kunstlied und die Vokalmusik des späten 18., des gesamten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts exklusiv dominiert hatten. Der Münchner Musikwissenschaftler Thrasybulos Georgiades hat 1967 in seinem vielbeachteten Schubert-Buch Hölderlins Dichtung für sprachlich autonom und musikresistent erklärt: Während Goethes fließende, glatt gefügte Poesie durchaus „musikabel“ sei (gemeint ist: der Musik einen Entfaltungsraum anbiete), weise die besondere sprachlich-syntaktische Verfasstheit von Hölderlins Lyrik eine Vertonung grundsätzlich ab.[2] Ob das – nicht nur angesichts der herausragenden Ausnahme der Vertonung von Hyperions Schicksalslied durch Johannes Brahms (1871) – wirklich überzeugen kann, wäre weiterhin zu diskutieren. Man stelle sich nur einmal vor, ein Komponist vom Range Franz Schuberts, den weder der freie Vers Klopstocks noch das persische Ghasel noch der Hexameter schrecken konnte, hätte an seinem Lebensende ein Hölderlin-Gedicht wie Hälfte des Lebens entdeckt. Aber vielleicht hat der Musik wirklich erst ihr Innovationsschub am Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer ersten Annäherung an Hölderlin verholfen. Nach 1900 setzt eine solche tatsächlich ein. Dennoch ließ der Durchbruch zu einer breiten musikalischen Rezeption auf sich warten. Das ist ein Thema für sich, und es gibt bereits eine beträchtliche Forschungsliteratur dazu.[3] Hölderlins fruchtbare Schaffenszeit fällt ins späte 18. Jahrhundert, die Hölderlin-Vertonung hingegen ist ein ausgesprochenes Phänomen des (späten) 20. Jahrhunderts. Aber soll, ja darf man dieses späte Phänomen überhaupt noch so nennen: Hölderlin-Vertonung? ‚Vertonung‘ galt im deutschen Sprachgebrauch lange Zeit unangefochten als passender Begriff zur Erfassung alles dessen, was sich ereignet, wenn sich Musik einem präexistenten Text widmet, um ihm weitere Dimensionen hinzuzufügen oder ihm eine nur mit ihren Mitteln erreichbare Interpretation abzugewinnen. In erster Linie betrifft das die Vertonung von Gedichten, also die lange Gattungstradition des Kunstlieds, im weiteren Sinne aber auch die immer wieder erneute Musikalisierung kanonisierter Textcorpora wie der Messe oder, seit Jahrhunderten nicht mehr fortzudenken, die Aneignung von Stoffen der Bühnendramatik bis hin zur Vertonung ihrer entsprechend eingekürzten Originaltexte (woraus sich die um 1900 aufkommende besondere Gattung der ‚Literaturoper‘ ergab). Im umfangreichen Sachregister des neuen Standardwerks zur Gattung, Musikalische Lyrik (2004),[4] kommt der Vertonungs-Begriff, obwohl im Textcorpus der zwei Bände durchaus noch präsent, gar nicht vor, während das aktuelle Handbuch Literatur & Musik (2017)[5] ihm immerhin 30 teils umfangreiche Registereinträge gönnt. Obwohl auf den ersten Blick nichts als ein neutraler terminus technicus, ist der deutsche Begriff ‚Vertonung‘ in neuerer Zeit etwas in Verruf geraten. Vielleicht auch deswegen, weil er weit weniger elegant wirkt als sein französisches Pendant mise en musique, indem das deutsche Präfix ‚ver-‘ ebenso ungewollt wie unangenehm an diverse physiologische Stoffwechselprozesse zu erinnern vermag. So jedenfalls scheint es, wenn man sich die Begründungen anschaut, mit denen zeitgenössische Komponisten den Begriff der Vertonung zur Bezeichnung ihres schöpferischen Umgangs mit poetischen, literarischen oder dramatischen Texten von sich weisen. Man höre etwa den Schweizer Komponisten Heinz Holliger (*1939), in dessen Musik die Beschäftigung mit Literatur eine fundamentale Rolle spielt: „Schon das Wort ‚vertonen‘ hat etwas Brutales, etwas wirklich Aggressives: etwas zerstören, ‚zertonen‘. Ich hoffe, ich habe nie in meinem Leben etwas ‚ver-tont‘.“[6]

Damit sind wir bereits mitten im Thema. Holliger gehört zu den prominentesten zeitgenössischen Vertretern des schöpferischen Umgangs mit der Dichtung Friedrich Hölderlins. Mit seinen einschlägigen Vertonungen (die er allerdings, wie gesehen, nicht mehr so genannt haben möchte) begegnet er im Register des hier zu besprechenden Bandes nicht weniger als 21 mal. Dieser von Gianmario Borio und Elena Polledri herausgegebene Sammelband, der mit dem „Wechsel der Töne“ ein viel diskutiertes poetologisches Konzept Hölderlins zu seinem Titel erhebt, hat ausweislich seines Untertitels etwas sehr Pointiertes zum Gegenstand: „Musikalische Elemente in Friedrich Hölderlins Dichtung und ihre Rezeption bei den Komponisten“. Man muss allerdings anfügen, dass dieser schöne Untertitel einer Präzisierung bedarf. Halb muss nämlich das in ihm Versprochene erweitert, halb hingegen eingegrenzt werden: weil es einerseits in dem Band um mehr als um die Rezeption nur der „musikalischen Elemente“ in Hölderlins Poesie geht,[7] und weil andererseits im Fokus die musikalische Hölderlin-Rezeption nicht generell, sondern diejenige im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts steht. Das allein ist auch schon mehr als genug. Obwohl mit seinen gerade einmal gut 300 Seiten gar nicht sonderlich umfangreich, zeigt der Band eine Anlage von beeindruckender Weite. Herausgegeben von einem Musikwissenschaftler und einer Germanistin, bringt er fünf italienische und sieben deutschsprachige Forscher(innen) in ein Gespräch über Hölderlin, bei dem nicht nur die National- und Sprachkulturen, sondern auch die akademischen Fächer breit gestreut sind: Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft. Von vornherein steht fest, dass dem Dichter (und Philosophen) Hölderlin eigentlich nur ein solcher transdisziplinärer Ansatz gerecht werden kann. Und die Beiträge, die der Band versammelt, sind aus mehreren aufeinander folgenden Anlässen (Tagungen, Kolloquien, Workshops) so herausgefiltert und disponiert worden, dass sich neben vielen sorgfältig bedachten Querverbindungen ein progressiver roter Faden ergibt, der zu kontinuierlicher Lektüre einlädt. Es gereicht den beiden Editoren zur Ehre, dass sie dem Gegenstand zuliebe alle Beiträge in deutscher Sprache statt in der modernen lingua franca präsentieren. Damit nehmen sie, wie man heute leider sagen muss, eine eingeschränkte internationale Sichtbarkeit in Kauf, erstatten aber (obwohl das dafür eingesetzte Geld auch in die Übersetzung ins Englische hätte investiert werden können) dem verhandelten Thema – der Sprache Hölderlins – die gebührende Reverenz. Für diesen Mut darf man schon einmal dankbar sein.[8]

In ihrem instruktiven Vorwort fassen die beiden Herausgeber vorab treffend zusammen, was sich aus den versammelten Beiträgen in aller Deutlichkeit gewinnen lässt: Die Hölderlin-Rezeption des 20. Jahrhunderts, und so auch die der Komponisten, folgt in erkennbaren Schüben der Editionsgeschichte und den mit ihr koordinierten Hölderlin-Bildern der Sekundärliteratur. Es war Norbert von Hellingrath, der 1916 im vierten Band seiner Ausgabe erstmals das fragmentarische Spätwerk zugänglich machte und mit seiner Dissertation den folgenreichen, Jahrzehnte später von Adorno adoptierten und von Georgiades zum Argument gegen die Vertonbarkeit gemachten Begriff der ‚harten Fügung‘ in der Hölderlin-Interpretation einbürgerte. Nach der Mitte des 20. Jahrhunderts folgten die beiden maßgeblichen editorischen Großprojekte, die sehr unterschiedliche Hölderlin-Bilder und extreme Kontroversen auslösten. Zuerst war es die von Friedrich Beißner 1943 initiierte, seit 1961 in den Textbänden und seit 1977 mit den Briefen und Dokumenten vorliegende Stuttgarter Ausgabe mit dem ambitionierten Versuch, auch aus den späten Bruchstücken noch integrale Dichtungen zu konstituieren. Hinzu kam seit 1975 Dietrich E. Sattlers Frankfurter Ausgabe, die sich zum Ziel gesetzt hatte, das Trümmerfeld des Spätwerks mit neuen editorischen Methoden als ein indefinites work in progress nachvollziehbar zu machen. In diesem Kontext spielte das seither geradezu legendär gewordene Homburger Folioheft eine ganz besondere Rolle, in dessen Lücken mancher Komponist sogar Symptome einer nur durch Musik zu kompensierenden „Aphasie“ (S. 233f.) zu entdecken meinte. Neben Adornos Hölderlin-Deutung von 1965,[9] die sich für alle an Musik Interessierten mit dem berühmten Blick des Verfassers auf das brüchige Spätwerk Beethovens kurzschließen ließ, war es dann vor allem die 1969 von Pierre Bertaux vorgetragene These vom politisch motivierten freiwilligen Wahnsinn Hölderlins,[10] die im westeuropäischen Protest-Klima der 1970er Jahre Früchte trug (man denke etwa an das Hölderlin-Drama von Peter Weiss, 1971); dies mit ähnlicher Wirkung wie die fast gleichzeitige Antipsychiatrie-Bewegung mit ihren Protagonisten Ronald D. Laing, Gilles Deleuze und Félix Guattari, die schließlich auch Hölderlin zu einer ganz besonderen Identifikationsfigur werden ließ. So also sah das Angebot aus, aus dem sich die Musik des 20. Jahrhunderts bedienen konnte. Wie schwierig sich freilich die philologische Bewältigung von Hölderlins hermetisch erscheinendem Spätwerk im Detail darstellt, haben etwa die Dissertation von Dieter Burdorf[11] oder die zwischen 1999 und 2017 in vier Bänden vorgelegten Studien von Anke Bennholdt-Thomsen[12] eindrucksvoll bewiesen. Wenn es tatsächlich erst dieser fragmentierte oder vermeintlich zum Brüchigen neigende Hölderlin war, der die Komponisten mit neuen Verfahren der Musikalisierung reagieren ließ, dann gäbe das e contrario der These von Georgiades recht, der die Möglichkeit einer integralen Hölderlin-‚Vertonung‘ bezweifelt und ihre Berechtigung bestritten hatte.

Dass Komponisten sich als literaturwissenschaftliche Laien verhalten, kann man ihnen nicht vorwerfen. Ihr Blick auf Poesie ist grundsätzlich ein anderer als derjenige der professionellen Forschung. Dennoch sollte man sich bewusst machen, was es bedeutet, wenn dieser Blick dann doch durch Erzeugnisse der Literaturwissenschaft, wie es Editionen ja sind, nicht unmaßgeblich gelenkt wird. Dass es sich bei einem großen Teil der kompositorischen Hölderlin-Rezeption so verhält, ist evident. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts sah der Komponist Nicolaus A. Huber das alles zu einer regelrechten ‚Hölderlin-Mode‘ angewachsen, der er 1993 ein Stück mit dem provokanten Titel Ohne Hölderlin entgegensetzte. Hat also der viel gebrauchte, gelegentlich auch missbrauchte, jedenfalls aber arg strapazierte Hölderlin inzwischen wieder eine kurze Karenzzeit verdient?

Es ist natürlich ein ebenso naheliegender wie glänzender Einfall, Hölderlins poetologisches Konzept vom „Wechsel der Töne“, das zu Beginn der 1960er Jahre fast zeitgleich zum Untersuchungsgegenstand zweier einflussreicher Monographien gemacht worden war,[13] zum Titel eines solchen Sammelbandes zu wählen. Und selbst die Titel-Illustration verdient ausdrücklich eine lobende Erwähnung: Gezeigt wird ein autographes Entwurfsblatt des jungen Hölderlin, auf dem eine Version von Burg Tübingen mit einem dreizeiligen, nicht identifizierbaren Musiknotat von Hölderlins Hand zu sehen ist, das Ganze in roter Tinte als echt beglaubigt durch keinen Geringeren als Eduard Mörike.[14] Aber einfach macht es einem der „Wechsel der Töne“ dann eben doch nicht. Auch im vorliegenden Band bildet sich ab, was sich in der Germanistik seit den eine gewisse Euphorie auslösenden Studien von Lawrence Ryan und Ulrich Gaier abgespielt hat. Eine stimmige Deutung konnte bis heute nicht erzielt werden, und als Generalschlüssel zur Erhellung von Hölderlins schwieriger Dichtung eignet sich das (ohnehin Fragment gebliebene) Konzept ebenso wenig wie Richard Wagners monumentales Buch über Oper und Drama (1852) zur Analyse seiner Musikdramen. Am deutlichsten formuliert das die Mitherausgeberin Elena Polledri in ihrem Beitrag (S. 132). Es hat allerdings verwirrend vielfältige Versuche gebraucht, um dieses zur Resignation stimmende Resultat in der Hölderlin- wie in der Wagner-Forschung einzubürgern. So ist es eben mit Theorie-Entwürfen, zumal solchen, die im Voraus zur Selbstverständigung (und nicht im Nachhinein, wo sie kaum noch nötig sind) zu Papier gebracht werden und schon allein dadurch einen präzisen Zeitindex aufweisen. Das ändert nichts an der Berechtigung der guten Idee, Ulrich Gaier, den Verfasser unzähliger erhellender Studien zu Hölderlin und somit den Nestor der deutschsprachigen Hölderlin-Forschung, den Beginn des Bandes einnehmen zu lassen. Sein Beitrag bündelt konzis, was man geradezu als die Quintessenz seiner lebenslangen Beschäftigung mit dem Dichter empfinden kann: die sorgfältige Rekonstruktion des imaginären Gesprächs, in dem sich Hölderlin mit Vorgängern und Zeitgenossen (von Plato über Klopstock und Hamann bis zu Heinse und Herder) befunden hat. Dass dabei, dem Thema des Bandes geschuldet, poetologische Probleme und Fragen der Metrik im Vordergrund stehen, versteht sich von selbst. Es folgt ein Beitrag des italienischen Germanisten Luigi Reitani, dem wir eine vorzüglich kommentierte synoptische Gesamtedition von Hölderlins Dichtungen in deutscher und italienischer Sprache verdanken, die einzige bisher vorliegende Ausgabe übrigens, die dem Benutzer die Abfolge der zu Lebzeiten publizierten Gedichte unmittelbar vor Augen führt. Vor kurzem hat Reitani seine wertvollen Erfahrungen als Hölderlin-Übersetzer in einem Bändchen eigens zusammengefasst,[15] in dem die enge Verflechtung der Problemkreise des Interpretierens und des Übersetzens so greifbar wird, dass sich dadurch geradezu ein neuer Zugang zu Hölderlins Sprache eröffnet. Reitanis souveräner Artikel geht der wichtigen Frage nach der Musikalität von Hölderlins Dichtungssprache nach, verfolgt sie präzis in chronologischen Querschnitten durch das Werk und gelangt zu dem eher ernüchternden Resultat, dass trotz der Abundanz von Hölderlins reichhaltiger musikalischer Metaphorik doch gehörige Skepsis gegenüber einem allzu wohlfeilen Optimismus angebracht ist, der Hölderlins Poesie von vornherein als konstitutiv musikaffin betrachten möchte. Sie ist es jedenfalls gerade nicht in dem Sinne, den Georgiades im Blick auf Goethe „musikabel“ genannt hatte, so dass die im Untertitel des Bandes angesprochenen „musikalischen Elemente in Friedrich Hölderlins Dichtung“ paradoxerweise eine höchst zwiespältige Angelegenheit darstellen.

Vor allem aber sind sie auch eine überaus vielschichtige Angelegenheit. Zunächst müsste nämlich geklärt werden, ob das unterstellte „Musikalische“ von Hölderlins Sprache eher in ihrer klanglichen, in ihrer strukturellen oder in ihrer metaphorischen Dimension zu suchen ist. Die letztere, im Grunde dann eine poetologische, hat zutiefst mit dem Selbstverständnis von Hölderlins Dichtung zu tun. Das verdeutlicht sehr schön die dichte Überlegung des Leipziger Germanisten Dieter Burdorf zum „Gesang“ als einem „Grundmotiv bei Hölderlin“. Bekanntlich findet Hölderlin für den Modus seiner Dichtung vielfach Bilder wie „Gesang“, „Lied“ oder „Saitenspiel“.[16] Die briefliche Ankündigung seiner neun Gedichte für Wilmans Taschenbuch für das Jahr 1805 („Nachtgesänge“) ist in einigen Ausgaben des 20. Jahrhunderts sogar zum Gattungstitel avanciert, und „vaterländische Gesänge“ stellte Hölderlin in einem seiner letzten Briefe an den Verleger wie ein Zukunftsprojekt in Aussicht. Nichts davon aber weist auf eine Autorisierung solcher Titel für real existierende Werke Hölderlins durch den Dichter selbst hin. Burdorf, der 1992 mit einer grundlegenden Studie über das sogenannte Homburger Folioheft und die darin enthaltenen Gedichtfragmente[17] promoviert worden ist, zieht aus alledem – gegen Ulrich Gaier und gegen die Praxis der Stuttgarter und der Frankfurter Ausgabe – den überzeugenden Schluss, dass die Bezeichnung der großen Gedichte der Spätzeit als „Gesänge“ nichts als eine editorische Eigenmächtigkeit darstellt. Der Terminus kann höchstens ein futurisches Vorhaben umschreiben, das von Hölderlin zwar anvisiert, jedoch nicht erreicht worden ist. Demgegenüber könne weiterhin problemlos der Begriff der Hymne als legitime Gattungsbezeichnung für die großen der späten Gedichte in Gebrauch bleiben (S. 88). Damit ist für ein Verständnis von Hölderlins Spätwerk die so suggestive Metapher des Gesangs als distinkter Terminus aus dem Spiel genommen.

Auch die beiden folgenden Beiträge kommen aus der Literaturwissenschaft. Sie verfolgen das Musikalische an Hölderlins Sprache und Poetik auf anderen Ebenen weiter. Boris Previšič, der weiterhin ungeniert von den freirhythmischen „großen Gesängen“ spricht (S. 108), betrachtet die Metrik von Hölderlins großen Stromgedichten als „musikalische Rückbindung“ (S. 100ff.) an den epochentypischen Diskurs um Vielstimmigkeit und Verzeitlichung, während Elena Polledri (die ebenso wie Luigi Reitani über eine lange Erfahrung als Übersetzerin verfügt) die „Ästhetik der Dissonanz“ bei Hölderlin untersucht. Das vollzieht sich auf der Basis eines eindrucksvollen Überblicks über Hölderlins Gesamtwerk, provoziert aber den Einwand, dass der Dissonanzbegriff, der vor allem in der Hyperion-Phase eine Rolle spielt, hier wie so oft in einen schiefen Gegensatz zur „Harmonie“ gestellt wird (S. 117ff.), innerhalb dessen er wenig besagt. Die Opposition besteht, wenn man es denn schon unter Rückgriff auf die Musiktheorie terminologisch korrekt machen will, aus Konsonanz und Dissonanz unter dem gemeinsamen begrifflichen Dach der Harmonie. Auch wird hier unter Rückgriff auf Hölderlins musikästhetischen Inspirator Wilhelm Heinse, auf dessen Bedeutung auch schon Ulrich Gaier aufmerksam gemacht hatte, eine weitere mögliche Deutung des „Wechsels der Töne“ (Grundton als naiv, Terz als heroisch, Quinte als idealisch) zur Diskussion gestellt (S. 131f.). Während also Ulrich Gaier den „Ton“ mit der Konnotation des Tonfalls versieht, die Musiktheorie des 18. Jahrhunderts damit aber das meint, was wir heute als Tonart bezeichnen, möchte Elena Polledri ihn nun tatsächlich als konkreten Dreiklangsbestandteil verstanden wissen. Angesichts des zeitlich ohnehin eingeschränkten Geltungsbereichs des Konzepts (siehe oben) nimmt man das alles interessiert, aber wohl ohne großen Gewinn für die Hölderlin-Analyse zur Kenntnis.

Es ist nun an der Zeit, die genuin musikwissenschaftlichen Beiträge des Bandes genauer in den Blick zu nehmen. Ihren Anfang macht Martin Zenck, der auf die originelle Idee verfällt, angesichts der 1800 gedruckten Ode Des Morgens eine angemessene Kompositionsstrategie für dieses Gedicht theoretisch zu entwerfen. Als Negativfolie dafür müssen Komponisten wie Paul Hindemith, Max Reger und Richard Strauss herhalten, die „die besondere Herausforderung, die sich mit diesem Gedicht stellt, nicht erkannt und ihren allbekannten Stil, den sie ansonsten pflegten, über dieses Gedicht Hölderlins ergossen haben“ (S. 55). Der Rezensent macht keinen Hehl daraus, dass er das entschieden anders sieht, kann dies aber hier natürlich nicht diskutieren.[18] Der in der zeitgenössischen Kompositionsszene gut vernetzte Zenck, der sich im glücklichen Besitz der bei Hindemith und Strauss noch fehlenden Erkenntnis der besonderen Herausforderung weiß, befragt befreundete Komponist(inn)en, wie sie das wohl machen würden. Das ist, übrigens unter ausdrücklichem Bezug auf die berühmte These von Georgiades (S. 56, 61), durchaus geistreich und unterhaltsam dargestellt. Ist es aber nicht unfreiwillig komisch, wenn der Theoretiker der künstlerischen Praxis stillschweigend präskriptiv vorausdenkt? Honi soit qui mal y pense. Was im Musikfeuilleton vielleicht noch durchgehen mag, wirkt als Normativität im wissenschaftlichen Kontext einigermaßen befremdlich. „Ich habe ihn noch nicht ganz gelesen, – weiß nur eins: eine ‚neue Musik‘ soll man komponieren – und nichts Anderes.“[19] Das schrieb der Pianist Eduard Steuermann, der diese Haltung schon bei Adorno nicht mochte, im Oktober 1962 an den Geiger Rudolf Kolisch über den Getreuen Korrepetitor des gemeinsamen Philosophen-Freundes. Präzis und den Gegenstand wirklich erschließend gelingt der Beitrag von Francisco Rocca über Giacomo Manzonis Komposition Hölderlin (frammento) von 1972. Roccas Text ist ein close reading im besten Sinne des Wortes, und der Blick in die Werkstatt des Komponisten, den dessen in der venezianischen Fondazione Cini verwahrten Arbeitsmaterialien ermöglichen, zeigt an einem lehrreichen Fall das auf Hölderlin angewendete fragmentierende Verfahren der Materialverarbeitung exemplarisch auf. Manzonis aus Hölderlin getroffene Auswahl, so das Resümee, „zeugt von einem recht freien, unbekümmerten Umgang mit dem Textmaterial“ (S. 143). Brillant ist auch der Aufsatz von Andreas Meyer, der sich nichts Geringeres vornimmt als einen Gesamtüberblick über die 1980er Jahre. Meyer, der sich in vielen Publikationen als Experte für die Vokalmusik des 20. Jahrhunderts erwiesen hat, übernimmt aus Carolin Abels Monographie von 2017[20] das nützliche Begriffspaar ‚Scardanelli-Musik‘ und ‚Fragment-Musik‘, mit dem sich bei flexibler Handhabung die zwei Haupttendenzen der zeitgenössischen Hölderlin-Vertonung gut sortieren lassen: die Befassung mit den enigmatischen späten Turm-Gedichten einerseits, die Auffassung vom grundsätzlichen Brüchigkeitscharakter der Dichtung Hölderlins andererseits. Der Aufsatz weitet den Blick auf den Kontext und die Vorgeschichte der eigentlichen Vertonungen weit über die Musik hinaus. Das große Hölderlin-Projekt der Berliner Schaubühne (Empedokles 1975, Hyperion 1977), das schon deren früher Chronist als unmittelbar durch die Frankfurter Ausgabe inspiriertes, bis dahin beispielloses Theaterprojekt erkannte,[21] kommt dabei ebenso zur Sprache wie Wolf Biermanns Kölner Konzert mit seinen offen systemkritischen Hölderlin-Bezügen, das im November 1976 zu seiner Ausbürgerung aus der DDR führte. Besonders erhellend ist dann aber auch der Seitenblick auf den 1984 in der DDR entstandenen Hölderlin-Film Hälfte des Lebens mit dem unvergesslichen Ulrich Mühe in der Hauptrolle (S. 186f.), zu dem Georg Katzer eine im Geist des Dichters „fragmentierte“ Filmmusik geschrieben hat. Dass vor diesem weiten Hintergrund für die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Kompositionen (Killmayer, Holliger, Nono, Rihm) nur sehr wenig Raum bleibt, versteht sich; dass sie gerade vor diesem Panorama aber außerordentlich pointiert gelingt, sei eigens vermerkt. Der vorletzte im eigentlichen Sinne musikologische Beitrag stammt von dem Mitherausgeber und eigentlichen Initiator des Bandes, Gianmario Borio, einem international anerkannten Experten für die Musik und die Musiktheorie des 20. Jahrhunderts. Er geht der „parallelen Rezeption von Hölderlin und Schumann in der kompositorischen Landschaft nach 1968“ nach, verfolgt also die zeittypische Heroisierung des Wahnsinns, die den Werken dieser Jahre ihre eigentümliche Patina verleiht. Heinz Holligers Chorwerk Gesänge der Frühe (nach Schumann und Hölderlin) von 1987 vereinigt diese beiden kreativen Geister genau in diesem Sinne, und Borio vermag durch eine einfühlsame Strukturanalyse die Idee hinter dieser Konzeption freizulegen. Dagegen kombiniert Henri Pousseur in mehreren Kompositionen über die Jahre hinweg Hölderlin-Texte (jeweils Fragmente aus Mnemosyne) mit Worten aus Schumann-Heines Dichterliebe und perpetuiert in ihnen seine freie Weiterentwicklung der Serialität, was Borio übergreifend als Verfahren „struktureller Transformation“ plausibel machen kann (S. 204f.). Schließlich werden ausführlich auch noch Nono und Manzoni als die ersten Komponisten gewürdigt, die Hölderlins Dichten auf die Ästhetik des Fragments zurückgeführt haben (S. 210f.). Zuguterletzt unterzieht der luzide Aufsatz von Antonio Rostagno mehrere Hölderlin-Kompositionen von György Kurtág und Wolfgang Rihm, die sich beide ebenfalls auf Schumann beziehen, einer ausführlichen und präzisen Analyse. Ein markanter Unterschied zwischen beiden Komponisten ist ihr Verhältnis zur Tradition des Kunstlieds, an die Rihm deutlich anknüpft, während Kurtág entschieden mit ihr bricht. Dennoch geht es beiden um Hölderlins obscuritas, auf die Rihm, ein geistreicher Gedanke des Autors, mit „formaler claritas“ reagiert (S. 245), während Kurtág sie als solche ins musikalische Medium überführt: „Das ‚denkende Dichten‘ Hölderlins, das spekulative Potential seiner obscuritas, findet Erfüllung im denkenden Komponieren Kurtágs“ (S. 244). Man könnte von hier aus das lange noch nicht erschöpfte Thema der obscuritas weiterdenken, für das man sich beileibe nicht auf die unvollendeten Entwürfe und Überlieferungsfragmente beschränken muss. Seit kurzem liegt eine voluminöse Dissertation vor, die dem vergleichsweise schmalen Textcorpus der extrem elaborierten neun „Nachtgesänge“ (unter denen bisher vor allem Hälfte des Lebens zur Ehre mehrerer Vertonungen kam) eigens eine erschöpfende Analyse von Hölderlins literarischen und literaturpolitischen Strategien zur willentlichen Erzeugung von ‚Dunkelheit‘ widmet.[22]

Am Ende des wahrhaft durchdacht komponierten Bandes kommt es zu einer eindrucksvollen Synthese aller drei Disziplinen. Weiterhin bildet die Musik den Gegenstand, aber nun je eine einzige Komposition. Betrachtet wird sie jeweils aus der Perspektive erst eines Philosophen, dann eines Germanisten. Zunächst befasst sich der aus der Schule Dieter Henrichs stammende Manfred Frank als einer der bahnbrechenden Entdecker des Philosophen Hölderlin mit Luigi Nonos Streichquartett Fragmente – Stille. An Diotima von 1980. Ohne – wohlweislich – als Philosoph viel zur Musik zu sagen (über die es inzwischen ohnehin ganze Monographien gibt), macht Frank in unübertrefflicher Klarheit die „philosophische Aporie“ (S. 259) deutlich, die der philosophisch ebenso ambitionierte wie originelle Hölderlin im Konkurrenzdruck gegen seine Tübinger Zimmergenossen Hegel und Schelling für sich schließlich erst im Durchbruch zur Poesie lösen konnte. Franks Schriften zur Formationsphase des deutschen Idealismus und der Frühromantik (zu der er, anders als die Frühromantiker selbst, mit guten philosophischen Argumenten auch Hölderlin zählt) sind Legion, und so erwartet man seine hier demonstrierte Souveränität fast mit einiger Selbstverständlichkeit. Eindrucksvoll wird deutlich, dass Hölderlins Dichtertum letztlich sein Scheitern als Philosoph voraussetzt. Somit wird der Anknüpfungspunkt Nonos, der seine rein instrumentale Partitur mit 52 nicht zur Aufführung bestimmten Hölderlin-Zitaten durchsetzt, greifbar: „Eben zu diesem unfertigen, ringenden Dichter und Denker, wie die Frankfurter Ausgabe ihn reproduziert, fühlte sich Luigi Nono hingezogen“ (S. 270). Ebenso – und ebenso wohlweislich wie Frank – sagt der Germanist Martin Vöhler nicht viel zur Musik der von ihm betrachteten Komposition. Es geht um Hans Zenders 1989 entstandenes Streichquartett mit Sprechstimme Hölderlin lesen III, eine musikalische Auseinandersetzung mit der Patmos-Hymne. Der Aufsatz gerät zum Schluss- und Höhepunkt des Bandes, weil hier aus der Feder eines literaturwissenschaftlichen Hölderlin-Experten (der 1997 ein Standardwerk zu Hölderlins Hymnik vorgelegt hat)[23] eine konzise Lektüre des abgründig schwierigen Patmos-Gedichts (mit Berücksichtigung seiner Überarbeitungsstufen) erfolgt, die sowohl dem Verständnis von Hölderlins Gedicht als auch der Einsicht in Zenders Intentionen zu Klarheit verhilft. Damit liegt endlich eine schlüssige Deutung der durch rabiate Auswahl neu geschaffenen Textgrundlage vor, die aus lediglich neun fragmentierten, neu angeordneten und mehrfach permutierten Versen besteht. Der Komponist Zender versteht sich als produktiver Übersetzer Hölderlins (S. 291), und Vöhler zeigt, wie er mit den Mitteln der „Selektion, Isolation, Fragmentierung und Montage“ (S. 282) Hölderlins Vorlage in „Sprach-Kompositionen“ transformiert, „die sich dadurch auszeichnen, dass Sprache und Musik in einen Dialog miteinander treten, wobei sie jedoch getrennt voneinander bleiben“ (S. 291). Damit ist überhaupt ein Spezifikum von Zenders großangelegtem Hölderlin-Zyklus benannt, von dem das vorliegende Stück den dritten Teil bildet. Hölderlins „Stab des Gesanges“ (Patmos, V. 183), den Zenders eigenwillige Textauswahl mit dem weit vorher erwähnten „Zepter“ (Patmos, V. 111) zusammenbringt, spielt eine wichtige Rolle für Vöhlers Deutung. Sie vermag am Ende zentrale Schlüsselworte der hier verhandelten Thematik geistreich zu bündeln: „Musik und Text treten in der Patmos-Vertonung in ein produktives Wechselverhältnis. Die Wortsprache gibt der Tonsprache Richtung und Orientierung; die Tonsprache wiederum verleiht der Wortsprache Hölderlins einen neuen Resonanzraum. Der ‚Stab des Gesangs‘ wird von Zender aufgenommen und weitergereicht“ (S. 292). Man beachte, dass Vöhler trotz aller luzider Analyse der sehr besonderen Verfahren Zenders am Ende das Wort ‚Vertonung‘ nicht scheut.

Aus der Lektüre des ungemein reichhaltigen Bandes lässt sich, obwohl seine Beiträge durchaus nicht einstimmig in eine identische Richtung weisen, doch ein klares Fazit ziehen. Zwar wird beim Blick auf das Verhältnis der musikalischen Avantgarde zu Hölderlin immer wieder gern behauptet, sie habe gerade durch die Befassung mit Hölderlin die alte Art der Lyrik-Vertonung als eine antediluviale Verfahrensweise endgültig hinter sich gelassen – so als hätten die Gattungstraditionen des Kunstlieds und der Chorsinfonik nicht viel mehr zu bieten gehabt als „das Vergessen des Textes über der Musik“ oder „eine dekorative Klangumgebung für den Text“.[24] Zweifellos ist eine Katalysatorfunktion vor allem des Spätwerks von Hölderlin in der Präsentation durch die Frankfurter Ausgabe für diesen Paradigmenwechsel im Vertonungskonzept nicht abzustreiten – im Gegenteil: Gerade sie vermag ja seine rätselhafte (Wieder-)Entdeckung für die zeitgenössische Musik zu erhellen. Man darf aber nicht davon absehen, dass der musikalische Gebrauchswert jener Texte Hölderlins, die der Zeit nach 1802 entstammen, weniger in ihrer poetischen Qualität, schon eher hingegen in ihrer Dunkelheit, am ehesten aber doch in ihrer Brüchigkeit gesehen wurde. Die tatsächliche und unfreiwillige Bruchstückhaftigkeit, wie sie in Werkstattnotizen (übrigens nicht nur bei Hölderlin) zwangsläufig erscheint, ließ sich unschwer in eine vermeintlich absichtsvolle Fragilität auch der nicht fragmentierten Spätwerktexte verlängern. Damit ist diesen Texten ein materialer Gebrauchswert im ganz buchstäblichen Sinne zugewachsen, denn nicht selten spielt es kaum mehr eine Rolle, ob eine Textzeile Hölderlins aus einem Brief, einem poetologischen Essay, einem philosophischen Fragment, einem Gedichtentwurf oder einer durchgeformten Hymne stammt. Hölderlin wird zum Zeitgenossen, denn er bietet sich mehr als jeder andere um 1800 produktiv gewesene Dichter als Steinbruch an. Dieser neue, an die Poetik Kafkas oder Becketts gemahnende Hölderlin schien nach neuen Verfahren der Musikalisierung förmlich zu verlangen, so wie umgekehrt ein veränderter Umgang der Komponisten mit dem dichterischen Text durch sie legitimierbar war. Darin dürften viele Komponisten den Appellcharakter etwa des Homburger Folioheftes gesehen haben. Auf ähnlichem Grund ruht wohl die Inspiration durch die teleologische (und in der Germanistik zutiefst umstrittene) Arbeit der Frankfurter Ausgabe an der Rekonstruktion hypothetischer Texte, und noch einmal in ganz anderer Weise die Faszination für die trügerisch-opake Durchsichtigkeit der späten Reimgedichte aus der Turmzeit, hinter denen ein mehrfacher (und alles andere als harmloser) Sinn auf seine Enthüllung zu warten scheint. Da wirkt der Satz, mit dem Dieter Burdorf seinen nüchtern analysierenden Beitrag enden lässt, doch überraschend versöhnlich, gleichsam als Zugeständnis an das Verhandlungsthema des vorliegenden Bandes: Hölderlin, der sein Ideal des „Gesanges“ in seiner eigenen Dichtung selbst nicht verwirklicht habe, lasse dem „Gesang“ aber eben damit einen „Freiraum, der von der zukünftigen Musik, von der er noch nichts wusste, genutzt worden ist“ (S. 93). Nun gut, so lässt sich zwischen den diversen Zugriffen auf Hölderlin wohl ein schöner, aber doch nur abstrakter Frieden stiften. Jedenfalls ist der Blick der zeitgenössischen Musik auf den späten Hölderlin, wie der Band sehr deutlich werden lässt, nicht zuletzt eine Begleiterscheinung der modernen Editionsphilologie und der genetischen Textkritik. Zersplitterung, Zerlegung, Aufspaltung und Neumontage sind schöpferische Positionen, die der Poesie – ohne sich über den Status des konstituierten Textes viele Gedanken zu machen – offensiv mit der Haltung einer produktiven Destruktion gegenübertreten. Es wäre reizvoll, einmal ausführlicher zu diskutieren, wie vieles davon in die noch ungeschriebene, sicherlich reichhaltige Geschichte der im besten Sinne fruchtbaren Missverständnisse gehört.

Angesichts der eingangs in Erinnerung gerufenen terminologischen Diskussion ergibt sich daraus eine paradoxe Situation. Fast nämlich werfen diese Eigenschaften einer konstruktiven Zerstörung die Frage auf, ob sich der heute so ostentativ gemiedene Begriff der ‚Vertonung‘ nicht doch wieder (im genauen Wissen um all seine Problematik) produktiv in seine alten Rechte einsetzen lässt. Dass man ihn heute gern zurückweist und stattdessen lieber von „Textkomposition“ (S. 68) spricht, dass zudem nicht selten Begriffe aus dem Arbeitsbereich des Übersetzens (S. 41ff., 109ff., 291) den komplexen Sachverhalt des mettre en musique besser zu erfassen vermögen als ein undifferenziert gebrauchter Terminus ‚Vertonung‘, macht ihn dennoch nicht rundum obsolet – erschließt er doch oft genug viel von dem, was viele zeitgenössische Komponisten, die mit ihm nichts mehr zu tun haben wollen, im kreativen Umgang mit Texten faktisch tun. Jedenfalls dürfte klar geworden sein, dass die Diskussion darum mehr ist als ein Streit um Worte und dass sie keineswegs bereits ihr Ende erreicht hat. Und eigenartigerweise vor allem: dass sich das Problem fast nirgends besser als im modernen Umgang mit Hölderlin erkennen lässt. Der von Gianmario Borio und Elena Polledri vorgelegte Sammelband gehört in seiner panoramatischen Weite, seinen unterschiedlichen (freilich auch unterschiedlich gut gelungenen) methodischen Zugriffen und seiner interdisziplinären Breite zweifellos zum Besten, Anregendsten und Nützlichsten, das heute in kompakter Form zu dieser Thematik existiert.

Online erschienen: 2022-03-03
Erschienen im Druck: 2022-04-30

© 2022 Hans-Joachim Hinrichsen, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Gianmario Borio / Elena Polledri (Hgg.), „Wechsel der Töne“. Musikalische Elemente in Friedrich Hölderlins Dichtung und ihre Rezeption bei den Komponisten. Winter, Heidelberg 2019. 308 S., € 46,–.
  4. Handbuch Literatur & Musik. Hg. von Nicola Gess und Alexander Honold unter Mitarbeit von Sina Dell’ Anno. (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 2) De Gruyter, Berlin – Boston 2017. VIII/681 S., € 139,95.
  5. Paula Wojcik / Stefan Matuschek / Sophie Picard / Monika Wolting (Hgg.), Klassik als kulturelle Praxis. Funktional, intermedial, transkulturell. (spectrum Literaturwissenschaft / spectrum Literature 62) De Gruyter, Berlin – Boston 2019. VIII/577 S., € 119,95.
  6. Martina Wernli, Federn lesen. Eine Literaturgeschichte des Gänsekiels von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert. Wallstein, Göttingen 2021. 568 S., € 49,–.
  7. De Purgatorio Sancti Patricii. Das Fegefeuer des Heiligen Patrick. Lateinisch/Deutsch. Lateinischer Text von Robert Easting. Übersetzt und kommentiert von Maximilian Benz. (Mittellateinische Bibliothek 6) Hiersemann, Stuttgart 2020. XXI/78 S., € 24,–.
  8. Sangspruch / Spruchsang. Ein Handbuch. Hg. von Dorothea Klein, Jens Haustein und Horst Brunner. In Verbindung mit Holger Runow. De Gruyter, Berlin – Boston 2019. X/640 S., € 149,95.
  9. Lena Zudrell, Historische Narratologie der Figur. Studien zu den drei Artusromanen des Pleier. (Hermaea N. F. 152) De Gruyter, Berlin – Boston 2020. VIII/252 S., € 79,95.
  10. Achim Aurnhammer / Nicolas Detering, Deutsche Literatur der Frühen Neuzeit. Humanismus, Barock, Frühaufklärung. Narr Francke Attempto, Tübingen 2019. 633 S., € 29,99.
  11. Wilhelm Kühlmann / Karl Wilhelm Beichert, Literarisches Leben zwischen Rhein und Main. Der Wertheimer Dichter, Schulmann und Rentmeister Nikolaus Rüdinger (ca. 1530–1581) im Netzwerk des pfälzischen Späthumanismus. Mit einer kommentierten Teiledition und Übersetzung seiner lateinischen Lyrik und Perikopendichtung. (Frühe Neuzeit 240) De Gruyter, Berlin – Boston 2021. X/372 S., € 109,95.
  12. Maximilian Bergengruen, Die Formen des Teufels. Dämonologie und literarische Gattung in der Frühen Neuzeit. Wallstein, Göttingen 2021. 326 S., € 36,90.
  13. Johann Georg Sulzer – Johann Jakob Bodmer, Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. von Elisabeth Décultot und Jana Kittelmann unter Mitarbeit von Baptiste Baumann. 2 Bde. (Johann Georg Sulzer, Gesammelte Schriften 10) Schwabe, Basel 2020. LI/1994 S., CHF 340,–.
  14. Friedrich Gottlieb Klopstock, Handexemplar der „Oden“ (1771). Kritische Edition. Hg. von Marit Müller. (edition Text 18) Wallstein, Göttingen 2020. 627 S., € 49,–.
  15. Alois Wierlacher, Hingabe und Vertragsstiftung. Lessings ‚Emilia Galotti‘ und Goethes ‚Iphigenie auf Tauris‘ als Dramen bibelkritischer bzw. rechtspolitischer Sicherung menschlichen Lebens und Zusammenlebens. (Beiträge zur Neueren Literaturgeschichte 403) Winter, Heidelberg 2020. 366 S., € 38,–.
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  18. Friedrich Hölderlin, Neun ‚Nachtgesänge‘. Interpretationen. Hg. von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Marit Müller. (editionText 19) Wallstein, Göttingen 2020. 331 S., € 38,–.
  19. Jan Assmann, Kult und Kunst. Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst. C. H. Beck, München 2020. 272 S., € 28,–.
  20. Heiner Boehncke / Hans Sarkowicz, Der fremde Ferdinand. Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 443 S., € 44,–.
  21. Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1830–1870. Vormärz – Nachmärz. (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 8) C. H. Beck, München 2020. XVII/781 S., € 49,95.
  22. Alfred Kerr, Berlin wird Berlin. Briefe aus der Reichshauptstadt 1897–1922. Hg. von Deborah Vietor-Engländer. Bd. 1: 1897–1902. Bd. 2: 1903–1909. Bd. 3: 1910–1916. Bd. 4: 1917–1922. Wallstein, Göttingen 2021. 746, 880, 773, 574 S., zus. € 148,–.
  23. Herbert Lehnert, Thomas Mann. Die frühen Jahre. Eine Biographie. Wallstein, Göttingen 2020. 311 S., € 29,90.
  24. Hans-Fallada-Handbuch. Hg. von Gustav Frank und Stefan Scherer. De Gruyter, Berlin – Boston 2019. XIV/740 S., € 149,95.
  25. Silvia Henke / Dieter Mersch / Thomas Strässle / Jörg Wiesel / Nicolaj van der Meulen, Manifest der Künstlerischen Forschung. Eine Verteidigung gegen ihre Verfechter. Diaphanes, Zürich 2020. 128 S., € 15,–.
  26. Christoph Hein, Ein Wort allein für Amalia. Mit Illustrationen von Rotraut Susanne Berner. Insel, Berlin 2020. 86 S., € 14,–.
  27. Moritz Baßler / Heinz Drügh, Gegenwartsästhetik. Konstanz University Press, Göttingen 2021. 307 S., € 28,–.
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