Home Henrike Schaffert, Der Amadisroman. Serielles Erzählen in der Frühen Neuzeit. (Frühe Neuzeit 196) De Gruyter, Berlin – Boston 2015. 308 S., € 99,95.
Article Open Access

Henrike Schaffert, Der Amadisroman. Serielles Erzählen in der Frühen Neuzeit. (Frühe Neuzeit 196) De Gruyter, Berlin – Boston 2015. 308 S., € 99,95.

  • Rabea Kohnen EMAIL logo
Published/Copyright: April 3, 2020
Become an author with De Gruyter Brill

Rezensierte Publikation:

Henrike Schaffert, Der Amadisroman. Serielles Erzählen in der Frühen Neuzeit. (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 196) De Gruyter, Berlin – Boston 2015. 308 S., € 99,95.


In ihrer Münchener Dissertation wendet sich Henrike Schaffert mit dem Amadis einem extrem umfangreichen Textkorpus zu, das „über einen Zeitraum von ungefähr hundert Jahren hinweg, in vier Ländern, mit mindestens acht Autoren, die insgesamt dreißig Bände produzieren“, entstanden ist (S. 20). Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind die 26 Bände in deutscher Sprache, die zwischen 1569 und 1595 anonym und zumeist im Verlag Sigmund Feyerabends erschienen sind. Der ungeheuren Popularität des Stoffes in der Frühen Neuzeit („Eine regelrechte Amadis-Welle rollt also über Europa“, S. 16) steht bislang eine große Zurückhaltung seitens der literatur- und medienwissenschaftlichen Forschung gegenüber, die nicht nur in der unzureichenden Editionslage und abschätzigen Werturteilen der Neuzeit, sondern auch in der schieren Textmasse begründet sein mag. Schaffert stellt sich der Herausforderung, nach den Erzählprinzipien der gesamten Serie zu fragen und den Amadis unter Hinzuziehung der Begriffe und Methoden der medienwissenschaftlichen Serienforschung „als wahrscheinlich ersten Serienroman überhaupt“ (S. 3) zu lesen, um ihn so der literaturwissenschaftlichen Diskussion wieder zugänglich(er) zu machen.
Der eigentlichen Analyse steht ein Teil A „Vorbereitung“ voran, der Kontexte eröffnet und Anknüpfungspunkte schafft. Dazu gehören zum einen die mittelalterlichen Phänomene des Weiter- und Wiedererzählens, die mit Blick auf das serielle Erzählen als Vorläufer konturiert werden. Noch wichtiger erscheinen jedoch die besonderen technischen und ökonomischen Bedingungen des Buchmarkts, denn „Neuheit wird zu einer entscheidenden Kategorie im Druckzeitalter und die Serie gehorcht dieser Forderung, ohne das radikal Neue zu bieten, das Kunden vergrätzen könnte“ (S. 40). Aus dieser Erkenntnis heraus ordnet Schaffert den Amadis in das Programm des Verlags Sigmund Feyerabends ein, wobei besonderes Gewicht auf den Querverbindungen zu anderen Sammlungs-Projekten wie dem Buch der Liebe liegt. Die Vorüberlegungen schließt ein überschaubarer methodischer Apparat an Begriffen und Konzepten der medienwissenschaftlichen Serienforschung (Serie, Entrelacement, Cliffhanger, Leerstelle) ab.
Die folgende Analyse (Teil B) gliedert sich grob in drei Teile, die von der Makroebene der gesamten Serie (Kap. 6) auf eine Mesoebene des Einzelbandes (Kap. 7) bis zur Mikroebene einzelner Erzählmuster (Kap. 8) zunehmend tiefer in den Gegenstand vordringen. In Kapitel 6 arbeitet Schaffert Prinzipien heraus, die sich in der Zusammenschau insbesondere der ersten sechs Bände des Amadis einerseits als Grundlagen der Produktion seriellen Erzählens und zum anderen als Orientierungsangebote für den Leser verstehen lassen. Neben der beständigen Aktualisierung von Figurentypen (Amadisritter, Dame, Gegner, etc.) macht sie die Verlängerung und Verbreiterung des bereits Erzählten als Kernmechanismus der Serie aus und zeigt die als Nach- und Nebeneinander arrangierten genealogischen Bezüge als wesentliches Organisationsprinzip. Mit den Überlegungen zu Cliffhangern als zentrale Systemstelle einer jeden Serienproduktion (S. 139) gewinnt ein wesentliches Gestaltungselement moderner Formen seriellen Erzählens unter der Perspektive der Wie-Spannung Erklärungs- und Beschreibungspotential für das hier behandelte vormoderne Werk. Schaffert liefert auch hier Ausblicke auf die europäische Tradition und bewegt sich souverän in den Welten des Amadis.
In Kapitel 7 geht die Arbeit an sieben ausgewählten Bänden den verbindenden Elementen, dem ‚Einheitlich-Seriellen‘ (S. 149) auf Ebene des Einzelbandes, aber mit Blick auf die Entwicklungsgeschichte der Serie nach. Dabei beobachtet Schaffert sowohl einen Rückgang übergeordneter Erzähleinheiten und eine Verstärkung des Episodischen wie einen elaborierter werdenden Umgang mit verschiedenen Handlungsfäden. Als zentrales Merkmal der späteren Bände erscheinen die Vervielfältigung der Hauptfiguren und die Angleichung von Haupt- und Nebenhandlungen zu einer Erzählwelt, die dem Leser in ihrer Breite die Orientierung zunehmend erschwere (S. 213). Demgegenüber führe die beständige Rekapitulation zentraler Szenen vorausliegender Bände zu einer „quasi-historischen Tiefendimension“ (S. 214).
Kapitel 8 konturiert das Serielle des Amadis als „Kette reproduzierter, angereicherter und abgewandelter Erzählmuster“ (S. 217) und beleuchtet fünf Erzählmuster in ihren Variationen genauer: „(1) Heimliches Treffen der Liebenden, (2) Unbegründete Eifersucht, (3) Verlust des Helden in früher Kindheit, (4) Liebesprobe, (5) furchteinflößende Ankunft“. Als Material der Serie vereinfachten solche Muster nicht nur den Produktionsprozess, sondern stifteten auch einen inneren Zusammenhang der einzelnen Fortsetzungen unter dem Prinzip der Wiedererkennbarkeit (S. 258). In einem kurzen Ausblick auf die Amadis-Lektüre durch François de la Noue in seinen Discours politiques et militaires (1587) geht Schaffert abschließend noch einmal aus der Perspektive früher Kritik am Roman den Bedingungen seiner Wirkmächtigkeit und dem „imaginativen Sog des Textes“ (S. 272) nach, der seinen Lesern nicht zuletzt eine von moralischem Ballast befreite „Spielwelt“ (S. 279) geboten habe.
So verwirrend und fordernd die inhaltlichen und überlieferungsgeschichtlichen Wege des Amadis auch sein mögen: Henrike Schaffert tut alles, um es ihren Lesern so leicht wie möglich zu machen. Sie schreibt in einem erfreulich klaren und direkten Stil, strukturiert ihren Gedankengang so sinnvoll wie deutlich, liefert immer wieder Zusammenfassungen sowohl der Textinhalte wie des Stands ihrer eigenen Argumentation und bietet in Tabellen und Schaubildern hilfreiche Übersichten. Ihr klarer Fokus auf die Spielregeln der Serialität unter den Bedingungen des Buchmarkts und die Fähigkeit, allgemeine Beobachtungen immer wieder an einzelnen Beispielen zu explizieren, machen diese Studie auch für all diejenigen lesenswert, die den Amadis (noch) nicht in seiner Ganzheit kennen. Dass methodische Reflexionen und textanalytische Überlegungen nicht in voller Tiefe ausgeführt werden konnten und die Arbeit viele deskriptive Passagen enthält, ist angesichts des Umfangs des behandelten Textkorpus und der bislang geringen Beachtung dieses Werkkomplexes in der Germanistik verständlich. Insofern leistet die hier vorgelegte Dissertation ernstzunehmende Beiträge für die Erforschung vormoderner Serialität auf der einen und die Geschichte des gedruckten Prosaromans auf der anderen Seite. Ihr ist zu wünschen, dass die angestrebte Aktivierung anschließender Forschungsbemühungen zum Amadis gelingen möge.
Online erschienen: 2020-04-03
Erschienen im Druck: 2020-04-01

© 2020 Rabea Kohnen, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Wojciech Kunicki / Marek Zybura (Hgg.), Geschichte der literaturwissenschaftlichen Germanistik in Polen. Bd. I: Inhalte und Methoden. Bd. II: Kulturpolitik und Kulturtransfer. Bd. III: Institutionen und Rahmenbedingungen. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2015–2018. 313, 327, 280 S., € 39,–, 39,–, 39,–.
  4. Frank Estelmann / Bernd Zegowitz (Hgg.), Literaturwissenschaften in Frankfurt am Main 1914–1945. (Schriftenreihe des Frankfurter Universitätsarchivs 7) Wallstein, Göttingen 2017. 334 S., € 29,90.
  5. Marie Isabel Matthews-Schlinzig / Caroline Socha (Hgg.), Was ist ein Brief? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur / What is a letter? Essays on epistolary theory and culture. Königshausen & Neumann, Würzburg 2018. 257 S., € 39,80.
  6. Wolf Schmid, Mentale Ereignisse. Bewusstseinsveränderungen in europäischen Erzählwerken vom Mittelalter bis zur Moderne. (Narratologia 58) De Gruyter, Berlin – Boston 2017. XII/439 S., € 99,95.
  7. Sonja Glauch / Katharina Philipowski (Hgg.), Von sich selbst erzählen. Historische Dimensionen des Ich-Erzählens. (Studien zur historischen Poetik 26) Winter, Heidelberg 2017. XVIII/524 S., € 68,–.
  8. Marie-Sophie Masse / Stephanie Seidl (Hgg.), ‚Texte dritter Stufe‘. Deutschsprachige Antikenromane in ihrem lateinisch-romanischen Kontext. (Kultur und Technik. Schriftenreihe des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart 31) LIT, Berlin 2016. 171 S., € 29,90.
  9. Michaela Wiesinger, Mischungsverhältnisse. Naturphilosophisches Wissen und die Elementenlehre in der Literatur des 13. Jahrhunderts. (Hermaea N. F. 142) De Gruyter, Berlin – Boston 2017. VIII/283 S., € 89,95.
  10. Christoph Schanze, Tugendlehre und Wissensvermittlung. Studien zum ‚Welschen Gast‘ Thomasins von Zerklære. (Wissensliteratur im Mittelalter 53) Reichert, Wiesbaden 2018. XI/508 S., 32 Tafeln, € 98,–.
  11. Franziska Meier, Dantes Göttliche Komödie. Eine Einführung. Beck, München 2018. 128 S., € 9,95.
  12. Kattrin Schlecht, Fabula in situ. Äsopische Fabelstoffe in Text, Bild und Gespräch. (Scrinium Friburgense 37) De Gruyter, Berlin – München – Boston 2014. 226 S., € 69,95.
  13. Martin Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den „Schwärmern“. (Jus Ecclesiasticum 114) Mohr Siebeck, Tübingen 2016. XIV/988 S., € 29,–.
  14. Henrike Schaffert, Der Amadisroman. Serielles Erzählen in der Frühen Neuzeit. (Frühe Neuzeit 196) De Gruyter, Berlin – Boston 2015. 308 S., € 99,95.
  15. Johann Valentin Andreae, Gesammelte Schriften. In Zusammenarbeit mit Fachgelehrten hg. von Bernd Roling und Wilhelm Schmidt-Biggemann. Bd. 8: Turbo, sive moleste et frustra per cuncta divagans ingenium (1616). Hg., übersetzt und kommentiert von Herbert Jaumann. frommann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 2018. 542 S., € 228,‒.
  16. Stefania Salvadori, Inventar des Briefwechsels von Johann Valentin Andreae (1586–1654). (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 55). Harrassowitz, Wiesbaden 2018. 543 S., € 82,–.
  17. Sarina Tschachtli, Körper- und Sinngrenzen. Zur Sprachbildlichkeit in Dramen von Andreas Gryphius. Fink, München 2017. 223 S., € 39,90.
  18. Christian Thomasius, Briefwechsel. Bd. 1: 1679–1692. Hg. von Frank Grunert, Matthias Hambrock und Martin Kühnel unter Mitarbeit von Andrea Thiele. De Gruyter, Berlin – Boston 2017. XLIV/ 531 S., € 129,95.
  19. Elisabeth Décultot (Hg.), Lesen, Kopieren, Schreiben. Lese- und Exzerpierkunst in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Übersetzt aus dem Französischen. Ripperger & Kremers, Berlin 2014. 334 S., € 39,90.
  20. Christoph Schmitt-Maaß, Fénelons „Télémaque“ in der deutschsprachigen Aufklärung (1700‒1832). 2 Bde. (Frühe Neuzeit 220) De Gruyter, Berlin ‒ Boston 2018. Zus. 1289 S., € 139, 95.
  21. Christoph Schmälzle, Laokoon in der Frühen Neuzeit. 2 Bde. Stroemfeld, Frankfurt/M.– Basel 2018. Zus. 816 S., 347 Abb., € 98,–.
  22. Avi Lifschitz / Michael Squire (Hgg.), Rethinking Lessing’s ‚Laocoon‘. Antiquity, Enlightenment, and the ‚Limits‘ of Painting and Poetry. Oxford University Press, Oxford 2017. XXXIII/411 S., £ 80,–.
  23. Johann Georg Heinrich Feder, Ausgewählte Schriften. Hg. von Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening. (Werkprofile 9) De Gruyter, Berlin – Boston 2018. XXXIV/413 S., € 119,95.Hans-Peter Nowitzki / Udo Roth / Gideon Stiening (Hgg.), Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821). Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant. (Werkprofile 10) De Gruyter, Berlin – Boston 2018. X/458 S., € 119,95.
  24. Jörg Robert, Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 72) De Gruyter, Berlin – Boston 2011. XII/490 S., € 129,95.Cordula Burtscher, Glaube und Furcht. Religion und Religionskritik bei Schiller. (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 39) Königshausen & Neumann, Würzburg 2014. 338 S., € 48,–.Ernst Cassirer, Schillers Philosophische Weltansicht. (Nachgelassene Manuskripte und Texte 12) Hg. von Joerg Fingerhut unter Mitarbeit von Paolo Rubini. Meiner, Hamburg 2015, 163 S., € 248,–.
  25. Rüdiger Safranski, Hölderlin. Komm! ins Offene, Freund! Biographie. Hanser, München 2019. 336 S., € 28,‒.
  26. Peter Waterhouse, Equus. Wie Kleist nicht heißt. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 143 S., € 22,–.
  27. Stella Lange, Gefühle schwarz auf weiß. Implizieren, Beschreiben und Benennen von Emotionen im empfindsamen Briefroman um 1800. (Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beihefte 77) Winter, Heidelberg 2016. 425 S., € 66,–.
  28. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen zur Ästhetik. Vorlesungsmitschrift Adolf Heimann (1828/1829). Hg. von Alain Patrick Olivier und Annemarie Gethmann-Siefert. Fink, Paderborn 2017. 254 S., € 69,‒.Michael Squire / Paul Kottman (Hgg.), The Art of Hegelʼs Aesthetics. Hegelian Philosophy and the Perspectives of Art History. (Morphomata 39) Fink, Paderborn 2018. 389 S., € 79,‒.
  29. Felix Hausdorff, Gesammelte Werke einschließlich der unter dem Pseudonym Paul Mongré erschienenen philosophischen und literarischen Schriften und ausgewählter Texte aus dem Nachlaß. Bd. 1 B: Biographie. Autoren Egbert Brieskorn (†) / Walter Purkert. Springer, Berlin 2018. XXII/1131 S., € 119,99.
  30. Carmen Reichert, Poetische Selbstbilder. Deutsch-jüdische und Jiddische Lyrikanthologien 1900‒1938. (Jüdische Geschichte, Religion und Kultur 29) Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019. 350 S., € 75,‒.
  31. Michael Kessler / Paul Michael Lützeler (Hgg.), Hermann-Broch-Handbuch.De Gruyter, Berlin – Boston 2016. XV/670 S., € 149,95.
  32. Alexander Schüller, Namensmythologie. Studien zu den Aufzeichnungen und poetischen Werken Elias Canettis. (Conditio Judaica 91) De Gruyter Oldenbourg, Berlin – Boston 2017. IX/646 S., € 119,95.
  33. Gunter Gebauer / Sven Rücker, Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 345 S., € 22,‒.
  34. Andreas Maier, Die Universität. Roman. Suhrkamp, Berlin 2018. 147 S., € 20,–.
  35. Nachrichten aus dem Fach
  36. Arbiter criticorum
Downloaded on 29.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/arb-2020-0014/html
Scroll to top button