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5. Die absolute Hingabe im Opfer
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Hans Holleis
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Ein Kapitel aus dem Buch
Die vergebliche Gabe
Holleis, Hans. "5. Die absolute Hingabe im Opfer". Die vergebliche Gabe: Paradoxe Entgrenzung im ethischen Werk von Jacques Derrida, Bielefeld: transcript Verlag, 2017, pp. 263-286. https://doi.org/10.1515/9783839440803-008
Holleis, H. (2017). 5. Die absolute Hingabe im Opfer. In Die vergebliche Gabe: Paradoxe Entgrenzung im ethischen Werk von Jacques Derrida (pp. 263-286). Bielefeld: transcript Verlag. https://doi.org/10.1515/9783839440803-008
Holleis, H. 2017. 5. Die absolute Hingabe im Opfer. Die vergebliche Gabe: Paradoxe Entgrenzung im ethischen Werk von Jacques Derrida. Bielefeld: transcript Verlag, pp. 263-286. https://doi.org/10.1515/9783839440803-008
Holleis, Hans. "5. Die absolute Hingabe im Opfer" In Die vergebliche Gabe: Paradoxe Entgrenzung im ethischen Werk von Jacques Derrida, 263-286. Bielefeld: transcript Verlag, 2017. https://doi.org/10.1515/9783839440803-008
Holleis H. 5. Die absolute Hingabe im Opfer. In: Die vergebliche Gabe: Paradoxe Entgrenzung im ethischen Werk von Jacques Derrida. Bielefeld: transcript Verlag; 2017. p.263-286. https://doi.org/10.1515/9783839440803-008
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5.Die absolute Hingabe im OpferSo kommt es, dass der Begriff des Opfers und der Hingabe eine weitere Supplementierung der Gabe und der Vergebung bedeuten, eine weitere unwesentliche Hinzufügung, die jedoch erst das Wesen dieser beiden in ihrer Aporetik zum Ausdruck bringt. Im paradoxen Opferbegriff, wie ihn Derrida entfaltet, erweitert sich die Vergebung um den Aspekt des »Wozu?«. Die Aporie von der nicht wiedergutzumachenden Einmaligkeit der Untat und dem wundersamem Neuanfang für Täter und Opfer im gemeinsamen Menschsein öffnet sich im Hinblick auf die Frage: Warum soll man vergeben? Lohnt sich das Opfer des Verzichts auf die Rache? Inwieweit ergibt es einen Sinn, wenn ich meine berechtigten Forderungen hingebe? Inwieweit ergibt sich aus einem solchen Opfer eine gemeinsame Würdigung? Wie ist das menschliche Leben zu bewerten, angesichts seiner Hinfälligkeit im Tod?5.1 Di e kn o t e n s t r u k t u rD e s oP f e r sEine Annäherung an den Opferbegriff unternimmt Derrida im Nachvollzug eines Gedichts von Paul Celan mit dem Titel »Große glühende Wölbung«, aus dessen Interpretation er einen Überblick über die Tragweite des Opfers gewinnt:»Große, glühende Wölbungmit dem sichhinaus- und hinweg-wühlenden Schwarzgestirn-Schwarm:der verkieselten Stirn eines Widdersbrenn ich dies Bild ein, zwischendie Hörner, darin, im Gesang der Windungen, das Mark der geronnenenHerzmeere schwillt.
Die vergebliche Gabe264Wo-gegenrennt er nicht an?Die Welt ist for t, ich muß dich tragen.«1Derrida versucht, diesem Gedicht Leitmotive seiner ethischen Arbeit abzuringen. Leitgedanken, die weniger einer methodischgeleiteten Symbolanalyse entspringen, sondern das Gedicht Celans als Initial auffassen für den spurhaften Vollzug der eigenen Philosophie.25.1.1 Metaphorischer Begriffsumfang des OpfersDie Interpretation dieses Gedichts lässt sich bei Derrida an verschiedenen Knotenpunkten ablesen, auf die sich verschiedene Motive verdichten.Ein erstes Leitmotiv, das Derrida dem Gedicht Celans entzieht, besteht in einer Kosmologie des Kreislaufs. Nicht nur die »große glühende Wölbung« selbst, sondern auch der »SchwarzgestirnSchwarm« spielen auf das Himmelsgewölbe an, das sich in der Rundung des Geweihs eines Opferbocks aufspannt. Insofern ist hier eine Anspielung auf die Struktur des Kreises und des Geflechts zu erkennen, die als aporetische Formprinzipen die Wahrnehmung der Welt konturieren.3 Die Himmelswölbung entspricht der Krümmung des Widdergeweihs. Der Fortlauf der Welt wird so mit der Wucht eines Rammbocks in Verbindung gebracht. Die gekrümmten Hörner des Widders bestimmen als Abbild die Beschaffenheit des Alls und künden von der rücksichtsloszerstörerischen Wucht, in der die Welt abläuft, sich »hinaus und hinweg«wühlt.Des Weiteren ist in der Figur des Widders eine Sichtbarmachung der Zeit zu bemerken. Das Horoskop und seine astrologische Bewertung knüpfen an das Symbol des Widders ein bestimmtes Schicksal des Menschen, der unter dieser Planetenkonstellation zu einem bestimmten Datum geboren worden ist. 1|Wiedemann, Barbara (Hg.): Paul Celan. Die Gedichte. Kommentier te Gesamtausga-be in einem Band, Frankfur t a.M. 2003, 210.2|Vgl. Derrida, Jacques: Béliers. Le dialogue ininterrompu: entre deux infinis, le poème, Paris 2003, 43-80. Vgl. Derrida, Jacques: Sovereignties in Question. The Poe-tics of Paul Celan, New York 2005.3|Vgl. Derrida, Jacques: Fg, 15: »Nichts kommt ans Licht oder an den Tag, kein Phäno-men, das nicht dem Wechsel von Tag und Nacht gehorchte, anders gesagt dem Rhyth-mus jener Revolution, die die Bahn der Sonne von ihrem Ende her orientier t: vom Auf-gang im Osten hin auf den Untergang im Westen. [...] Wir werden dem Sog des Wor tes Revolution folgen. Es geht darin um einen bestimmten Kreis, dessen Figur sowohl die Zeit wie auch die Gabe in die Möglichkeit ihrer Unmöglichkeit stürzt.«
5. Die absolute Hingabe im Opfer265Der Lauf der Planeten über das Himmelsgewölbe, der Lauf der Welt und der Zeit schreiben sich ein in das Leben des Menschen, das er als Gabe erhalten hat. Mit der Gewalt eines Rammbocks wird ein geregelter, chronologischer Ablauf durchbrochen und das Geburtsdatum als ereignishafte Gabe gelesen.4 Der Weltwidder steht für die Ereignishaftigkeit des Datums,5 das in der Geburt eines Menschen einen Neuanfang in den Ablauf der eigentlich unabänderlichen Weltgeschehnisse zwängt.Die Intervention des Menschen in dieser gewaltsamunabänderlichen Welt ist auf die Zeichengebung beschränkt. Die Rolle des Menschen ist auf die Tätigkeit der Namensgebung begrenzt, die das lyrische Ich vorführt (»brenn ich dies Bild ein«). Dieses Vergeben von Namen geschieht in einer Art der Brandmarkung, die nicht nur das Schicksal des Menschen ankündigt,6 seine Zerstörbarkeit und Fragilität betont (das Brandmal befindet sich zwischen dem Geweih des Widders, mit dem er die Welt umpflügt), sondern auch auf die Wiederauferstehung nach dem Weltenbrand verweist (wie der Phönix aus der Asche). Diese Brandmarkung macht den entrückterhabenen Weltenlauf nachvollziehbar, emblematisch repräsentiert und symbolisch wiederholbar. In dieser Autopoiesis der Schrift wird die Geheimnishaftigkeit der Welt erfahrbar. Das eingebrannte »Bild«, das die »verkieselte Stirn eines Widders« repräsentiert, macht eine Entschlüsselung der Welt erst möglich: »im Gesang der Win4|Vgl. Derrida, Jacques: Béliers, 64: »Si l’allitération rappelle la violence du sacrifice [...], la charge ou la ruée du bélier peut aussi bien décrire le mouvement de la bête que celle de la poutre de bois, du tronc d’arbre même. Leur course, leur poussée, leur ruée les précipitent, la tête la première, pour attaquer ou se défendre, pour ébranler les dé-fenses de l’adversaire. Il y a la guerre et le bélier, le bélier de chair ou de bois, le bélier sur terre ou dans le ciel s’élance dans une course.«5|Vgl. Derrida, Jacques: Béliers, 58-59: »Le zôdiakôs (de zôdion, diminutif de zôon, l’animal) donne à lire et l’heure (selon la lueur apparente sur le plan de l’écliptique) et la date. Dans la conjonction astrale d’une naissance, l’horoscope montre. Comme son nom l’indique, l’horoscopie donne à voir les heures en annonçant le destin d’une exist-ence. On assiste ainsi au devenir-calendrier d’une voûte céleste dont le tableau figure le fond même du poème. Ellipse d’une interminable médiation sur ce que Heidegger nomma la databilité (Datierbarkeit).«6|Vgl. Heine, Heinrich: Sämtliche Werke. Band I Gedichte, München 1984, 85-86 (Belsazar): »Die Magier kamen, doch keiner verstand/Zu deuten die Flammenschrift an der Wand.« — Die Funktion der Flammenschrift im Gedicht »Belsazar« bei Heine ist nicht nur die warnende Ankündigung des Schicksals, das dem frevelnden König Belsazar bevorsteht, sondern auch die rätselhafte Unzugänglichkeit der Schriftbedeutung, die die Opfer des Königs beschützt: Der König kommt ums Leben, weil er die Schrift nicht dechiffrieren kann, die sein Schicksal ankündigt. Er kann die Schrift nicht dazu heran-ziehen, seinen Tod abzuwenden.
Die vergebliche Gabe266dungen, das Mark der geronnenen Herzmeere schwillt.« Gleichzeitig schreibt sich der Mensch in den Lauf der Welt ein, macht sich im Begriff die Welt auch Untertan, muss dabei aber immer darauf stoßen, dass er schriftgemäß nie im unmittelbaren Vollbesitz der Welt ist, sie immer nur als in der Schrift abwesend verwenden kann. Im gegebenen Namen geschieht aber nicht nicht nur die Einsicht in den Verlust der verbrannten Welt, sondern auch eine schriftlich eigengesetzliche Befreiung des Menschen vor direkter Einflussnahme der Umwelt. In der Brandmarkung geschieht ein kreativer Akt; die Notwendigkeit einer künstlerischen Neuerfindung angesichts der Abwesenheit einer nachahmenswerten Natur: »Die Welt ist fort, ich muß dich tragen.«Diese Aspekte werden im Gedicht in Bezug auf das Opfertier gesehen. Es geschieht eine geheimnisvolle Substitution von Widdergestirn und Brandzeichen, das sowohl auf den Lauf der Gestirne verweist, ihn symbolisch wiederholbar macht, als auch die eigentliche Abwesenheit von menschlicher Beeinflussung einer erhabenen Eigengesetzlichkeit des Weltenlaufs herausstellt.5.1.2 Die Substitution im OpferDie geheimnisvolle Substitution von zeichenhaftem Brandmal und Opfertier bezieht sich auf das biblische Vorbild des Abraham,7 dessen Opfer letztendlich nicht in der Ermordung seines Sohns Isaak besteht, sondern, als er seine Opferbereitschaft bewiesen hat, in der Substitution eines Opfertieres, der Schlachtung eines Widders.8 Abraham erfährt es als paradoxe Gabe Gottes, dass er nicht seinen Sohn opfern muss, der ihm eine Nachkommenschaft, so zahlreich wie die Sterne am Himmel, verheißt (was im Gedicht mit »Schwarzgestirn« angesprochen ist), sondern dass er auf wundersame Weise einen Widder erhält, dessen »verkieselte Stirn« ihn an die Rückbeziehung von Kosmologie, ereignishaftem Datum und Zeichenhaftigkeit erinnern. In der absoluten Hingabe, im Opfer seines Sohnes, erhält er etwas zurück: paradox, eine Gabe, die sich in einem unzugänglichen Geheimnis entrückt.Diese Substitution, die im Opfer geschieht, interessiert Derrida wohl deshalb so sehr, weil sie als eine inhaltliche Reinszenierung einer formalen Substitution gelten kann, die wir unter dem Namen der Supplementierung kennengelernt haben. Im Opfer geschieht der paradoxe Übergang von der Ver7|Vgl. Genesis 22.8|Vgl. Derrida, Jacques: Béliers, 62: »[...] le bélier, ses cornes et la brûlure rappellent et ra-vivent sans doute le moment d’une scène sacrificielle dans le paysage de l’Ancien Testament. Plus d’un holocauste. Substitution du bélier. Brûlure. Ligature d’Isaac [...]. Après avoir dit une deuxième fois ›Me voici‹, lorsque l’ange envoyé par Dieu suspend le couteau levé pour égorger Isaac, Abraham se retourne et voit un bélier pris par les cornes dans la broussaille. Il l’offre en holocauste à la place de son fils.«
5. Die absolute Hingabe im Opfer267nichtung zur Restitution, von der Anökonomie zur Ökonomie der Gabe unter den Bedingungen der anwesenden Abwesenheit. Und so wie das Opfer eine absolute Hingabe auf einen bedingten Rückerhalt verschiebt, so substituiert auch die Schrift eine verlorene Weltanwesenheit in der signifikanten Abwesenheit.Diese immer währende Substitution, diese Bedeutungs und Schwerpunktverschiebung, in der eine stabile Weltsicht fortgetragen wird, bedeutet eine Hinwendung auf eine ethische Dimension. Der Verlust der Welt erlaubt kein selbstgenügsames, menschliches Leben, sondern verweist immer über die Grenzen der eigenen Erkenntnis auf das Unbekannte, verweist immer über den Einzelnen hinaus auf einen Unbekannten, seinen Nächsten, seinen Anderen. Dass die »Welt fort ist«, überträgt sich auf die Frage nach dem »Wir«. Das weltvergessene, grenzüberschreitende Ego verantwortet sich vor seinem Alter Ego: »Die Welt ist fort, ich muß dich tragen.«9 Die Welt trägt nichts zur Sinnerfahrung des Menschen bei, Wahrheit scheint schriftlich entrückt. Diese Abwesenheit einer instruktiven Weltgewissheit nötigt den Menschen zu einer Art ethischer Verantwortung gegenüber seinem Mitmenschen. In dieser Verantwortung vor dem Abgrund einer verlorenen Welt geschieht eine Sinnkonstitution, die in der fragenden Suche nach dem Mitmenschen besteht. Auch deshalb wirft sich der Begriff des Opfers auf: weil hier das Verhältnis der Menschen untereinander verhandelt wird. Weil hier aufgeworfen wird, inwieweit durch einen Verlust, durch eine Hingabe, wiederum Sinn entstehen kann. So 9|Vgl. Derrida, Jacques: Béliers, 68-69: »[...] die Welt ist for t. Dès lors que je suis obli-gé, à l’instant où je te suis obligé, où je dois, où je te dois, me dois de te por ter, dès lors que je te parle et suis responsable de toi ou devant toi, aucun monde, pour l’essentiel, ne peut plus être là. Aucun monde ne peut plus nous soutenir, nous servir de médiation, de sol, de terre, de fondement ou d’alibi.Peut-être n’y a-t-il plus que l’altitude abyssale d’un ciel. Je suis seul au monde là où il n’y a plus de monde. Ou encore: je suis seul dans le monde dès lors que je me dois à toi, que tu dépends de moi, que je por te et dois assu-mer, en tête à tête ou face à face, sans tiers, médiateur ou intercesseur, sans territoire terrestre ou mondial, la responsabilité à laquelle je dois répondre devant toi pour toi. Je suis seul avec toi, seul à toi seul, nous sommes seuls: cette déclaration est aussi un engagement. Tous les protagonistes du poème en sont les signataires ou contresigna-taires vir tuels qu’ils soient ou non nommés: ich, er, du, le bélier, Abraham, Isaac, Aa-ron, la semence infinie de leur descendance, Dieu même, chacun s’adressant, quand le monde est ›for t‹, à la singularité absolue de l’autre. Tous les protagonistes s’entendent appeler, et donc aussi le lecteur ou le destinataire du poème, moi-même, nous-mêmes ici, dès lors que le poème est confié, seul survivant, à notre garde, et que nous devons le por ter à notre tour, le sauver à tout prix, fût-ce au-delà du monde. Le poème encore parle de lui-même, cer tes, mais sans autotélie ni autosuffisance. Au contraire, nous l’écoutons se confier à la garde de l’autre, à la nôtre, et se mettre secrètement à la por tée de l’autre.«
Die vergebliche Gabe268wie sich die Würde des Lebens und die Verantwortung gegenüber dem Anderen erst zeigt, wenn sie an ihre Grenzen im Tod stoßen.5. 2 Da s oP f e rD e s ab r a h a m1 0Auch die Frage nach dem Opfer ist durch eine Aporetik strukturiert. Die paradoxe Grundform des Opfers besteht im Unterschied zwischen dem Opfer, das geschieht, weil man dafür wieder etwas erlangen will, und zwischen einer Hingabe, die sich unwiederbringlich von seinem Gegenstand zu lösen beabsichtigt. Zur Erläuterung dieser Unterscheidung können wir das Opfer des Abraham heranziehen, dem sich Derrida ausführlich in seinem Werk »Donner la mort«11 widmet, indem er die Schrift »Furcht und Zittern« von Sören Kierkegaard einer ausführlichen Interpretation unterzieht.Das Opfer des Abraham entzieht sich bei diesem als Paradox, das dann als solches nicht mehr weiter vermittelbar ist.12 Derrida interessiert sich gerade für diesen Umgang mit dem Paradox. Nachdem er selbst bei der Feststellung der Gabe keinen endgültigen Halt finden konnte – er bleibt weder bei der Ökonomie, weder beim Kreislauf, noch bei der Vergebung stehen – wendet er sich auf die Grenzen der Erfahrbarkeit, die durch den Tod (die absolute Hingabe des Lebens) aufgegeben sind. Die Grenzen durch den Tod stellen eine Art der Gabe dar: Die Aufgabe, unser gegebenes Leben mit Sinn zu füllen. Unsere Endlichkeit verlangt nach Erfüllung und Sinngebung.13 Und genau diese Sinngebung 10|Dieses Kapitel der Untersuchung baut auf den Abschnitt »Der Tod als Aufgabe« der Magisterarbeit des Verf. aus dem Jahr 2002 mit dem Titel »›Donner la mor t‹. Eine Grund-legung der Ethik bei Jacques Derrida« auf, der hier aktualisier t und erweiter t wurde.11|Vgl. Derrida, Jacques: Donner la mor t, Paris 1999 [Dlm].12|Vgl. Kierkegaard, Sören: Furcht, 61: »Abrahams Geschichte enthält also eine te-leologische Suspension des Ethischen. Er ist als der Einzelne größer als das Allgemeine geworden. Dies ist das Paradox, das sich nicht mehr mediieren läßt.« Vgl. auch ders.: 65: »In der Erzählung von Abraham finden wir ein solches Paradox. Sein Verhältnis zu Isaak ist, ethisch ausgedrückt, dies, daß der Vater den Sohn lieben soll. Dieses ethi-sche Verhältnis wird zum Relativen herabgedrückt im Gegensatz zum absoluten Verhält-nis zu Gott.«13|Vgl. Lesgards, Roger: Donner la mor t. Réflexions à par tir d’un titre de Jacques Der-rida, in: Wieviorka, Michel (Hg.): Disposer de la vie. Disposer de la mor t, Paris 2006, 149: »Nous éprouvons de grandes difficultés à nous faire à l’idée que vie et mor t sont un seule et même réalité. Et pour tant, cette présence de la mor t nous est également donnée dans la part de nous-même qui porte le souvenir de ›nos morts‹ que sont nos ancêtres, nos aïeux, nos proches disparus. Ils sont constitutifs de notre personnalité. Leur mor t nous est donnée en héritage.«
5. Die absolute Hingabe im Opfer269kann eine absolute Verpflichtung bedeuten, eine Aufgabe, für die man alles andere aufgibt und hinter sich lässt. Davon künden die Opfer, die wir bereit sind zu bringen. Die absolute Hingabe und das Opfer sind für Derrida Punkte, an denen sich die Präferenzen der Menschen scheiden, an denen sich der Sinn des Lebens zeigt, der sich nicht nur im Wert erschöpft, sondern auch auf seine Würde bezieht. Eine Würde, die sich im Auf bruch einer ökonomischen Tauschbeziehung äußert.5.2.1 Die Anökonomie des OpfersGemeinhin wird das Opfer als eine Art von Handel verstanden, den man mit Gott schließt. Es wird etwas geopfert und damit Gott dargebracht, um dafür wieder etwas zurückzuerhalten. Die Beziehung zu Gott, zur Unendlichkeit – und damit zur eigenen Aufgabe, aus seinem Leben etwas zu machen – würde auf diese Weise zum profanen Tauschhandel. Ein Opfer würde dadurch nur in seinem Wert zu bemessen sein, der sich an der Fülle der erhaltenen Gunst Gottes ablesen lässt. Dem jedoch widerspricht radikal der Opfergedanke am Beispiel des Abraham, den Kierkegaard und Derrida behandeln, der sich immer auch um das würdevoll Heilige und das Geheimnisvolle des Opfers dreht:14Gott fordert von Abraham, das Liebste zu opfern, das er hat, seinen einzigen Sohn Isaak.15 Und er reitet darauf hin mit seinem Sohn zum Berg Morija, wo das Opfer stattfinden soll. Schon die gewählte Opferstätte zeigt dabei an, dass es sich nicht um etwas handelt, was von dieser Welt ist, was den Menschen in Gemeinschaft betrifft. Die Einsamkeit auf dem Berg, wo man dem Höchsten nahe ist, wo man abseits und entrückt von jeglicher menschlichen Behausung ist, zeugt von der absoluten Verpflichtung gegenüber einem Anruf, dem sich Abraham ganz allein verantwortet, den er abseits und vor jeder Sozialität befolgt.14|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 85-86: »Il y va donc aussi de la substitution impossi-ble, de l’insubstituable, mais aussi de la substitution de l’animal à l’homme – et aussi, sur tout, en cette impossible substitution même, de ce qui lie le sacré au sacrifice et le sacrifice au secret.«15|Vgl. Kierkegaard, Sören: Furcht, 21: »Es gab manchen Vater, der glaubte, in seinem Kind zu verlieren, was ihm das Liebste in der Welt war, indem er jeder Zukunftshoffnung glaubte beraubt zu sein; aber keines war doch wohl in dem Sinne Kind der Verheißung, wie es Isaak für Abraham war. Es gab manchen Vater, der sein Kind verlor, aber da war es ja Gott, der unwandelbare und unergründliche Wille des Allmächtigen, seine Hand nahm es. Nicht so mit Abraham. Ihm war eine schwerere Prüfung vorbehalten, und Isaaks Schicksal war mit dem Messer in Abrahams Hand gelegt.«
Die vergebliche Gabe270Als ein solches entrücktes Einzelwesen beantwortet auch Abraham die Frage des unschuldig nichts ahnenden Isaak, wo denn das Opferlamm sei. Abraham antwortet auf eine ironische, nichts sagende Art: »Gott wird für das Opfer sorgen.« Mit dieser Antwort hat Abraham nicht gelogen.16 Auch wenn dies Abraham zum Zeitpunkt seiner Antwort noch nicht ahnt. Gott lässt das Menschenopfer nicht zu, er sorgt für rettenden Ersatz.17 Dadurch entsteht ein Doppelgeheimnis zwischen Gott und Abraham. Zum einem besteht es aus dem Geheimnis, in das sich Gott hüllt und das seine Pläne nicht verrät.18 Zum anderen besteht es aus dem Geheimnis, das Abraham gegenüber Isaak wahrt. Man kann sogar sagen, dass genau darin die eigentliche Aufgabe des Abraham besteht, nämlich dem geheimnisvollen Gott die Treue zu bewahren, was nur durch sein Schweigen bewerkstelligt werden kann.19 Gott geht es nicht um die Opferung Isaaks, er ersetzt seine Hinrichtung durch die eines Widders; die Opferbereitschaft Abrahams steht im Zentrum, dass er bereit war, seinen Sohn, seine Zukunft, den Zusammenhalt des Menschengeschlechts für sei16|Vgl. Hoff, Johannes: Das Paradox des Glaubens und der Holzweg moderner Ent-scheidungslogik. Kierkegaards Lektüre von Gen 22 und ihre Wirkungsgeschichte von Heidegger bis Derrida und darüber hinaus, in: Böhm, Thomas, Knop, Julia u. Hoping, Helmut (Hg.): Die Bindung Isaaks. Stimme, Schrift, Bild, Paderborn, München, Wien, Zü-rich 2009, 241: »Das erste Geheimnis: Abraham schweigt, obwohl er spricht. Auf Isaaks Frage nach dem Lamm antwor tet er durchaus zutreffend: ›Gott wird sich ein Lamm zum Brandopfer aussuchen, mein Sohn.‹ (Gen 22,8). Das entspricht der Wahrheit, wenn-gleich Abraham verschweigt, dass Gott auch Isaak zum Brandopfer ausersehen könnte. Er verrät nicht das rätselhafte Gebot, das er in seinem Herzen hütet.«17|Derrida spielt hier auf Genesis 22, 8 an: Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 86: »Kierkeg-aard-Silentio rappelle l’étrange réponse d’Abraham à Isaac quand celui-ci lui deman-de où se trouve l’agneau pour le sacrifice. On ne peut pas affirmer qu’Abraham ne lui réponde pas. Il lui dit que Dieu y pourvoira. Dieu procurera l’agneau pour l’holocauste [...]. Abraham garde donc son secret mais il répond à Isaac.«18|Vgl. Hoff, Johannes: Das Paradox des Glaubens und der Holzweg, in: Böhm, Tho-mas, Knop, Julia u. Hoping, Helmut (Hg.): Die Bindung Isaaks, 241: »Denn er ist nicht einmal selbst in der Lage, sich einen Reim auf das göttliche Gebot zu machen. Das Ge-bot, das Abraham auf seinem Weg zum Berg Morija schweigend in seinem Herzen hütet, ist einer unverständlichen Handlungsanweisung vergleichbar, die man gebetsmühlen-ar tig in seinem Herzen repetier t aus Angst, dass mit dem buchstäblichen Wor tlaut auch der enigmatische Sinn verloren gehen könnte, der sich zwischen ihren Zeilen verbirgt.«19|Zum Verhältnis von direkter Rede und Schweigen in Gen 22: Vgl. Cortese, Enzo: Genesis 22: 1-9. History and theology of the narrative, in: Manns, Frédéric (Hg.): The sacrifice of Isaac in the three monotheistic religions. Proceedings of a symposium on the interpretation of the scriptures held in Jerusalem, March 16-17, 1995, Jerusalem 1995, 15-19.
5. Die absolute Hingabe im Opfer271nen Gott aufzuopfern.20 Dies verbirgt sich hinter diesem göttlichen Geheimnis, das auch für Abraham nicht zu ergründen ist.21Indem also Abraham das Geheimnis in sich trägt und damit seinem Höchsten dient, gibt er aber auch in dem Augenblick die Verpflichtung gegenüber seiner Familie preis. Gemäß Kierkegaard lügt er nicht und doch schweigt er. Er sagt nichts durch seine Rede.22 Mit dem Schweigen entzieht er sich der gemeinschaftsstiftenden Basis der Sprache, der Ethik, der Allgemeinheit und der Sozialität überhaupt.23Durch sein Schweigen übernimmt Abraham die Verantwortung, die darin besteht, alleine zu sein und sich von allen anderen abzukapseln. Im Moment seiner einsamen Entscheidung, das Opfer zu erfüllen und den Tod als vorgegeben zu akzeptieren, erweist er seine Unaustauschbarkeit, seine Einzigartigkeit. 20|Das Opfer Isaaks, das Abraham von Gott aufgetragen wurde, handelt eigentlich von der Selbstaufopferung Abrahams. Dieses Opfer organisier t sich auf wundersame Weise in einer doppelten Ersetzung: 1. Der aufgetragene Opfer tod von Isaak ist eigent-lich eine Probe für die Selbstopferung Abrahams. 2. Der Tod Isaaks wird durch die Opfe-rung eines plötzlich erscheinenden Widders ersetzt. Vgl. Khatibi, Abdelkébir: Essai sur le sacrifice. L’homme bombe, in: ders.: Oeuvres III, 80.21|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 86: »Il doit garder le secret (c’est son devoir) mais c’est aussi un secret qu’il doit garder, double nécessité, parce qu’il ne peut que le garder, au fond: il ne le connaît pas, il sait qu’il y en a, mais il en ignore le sens et les raisons ultimes. Il est tenue au secret, parce qu’il est au secret.«22|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 86: »À ne pas parler ainsi, il transgresse l’ordre de l’éthique. Car l’éthique, selon Kierkegaard, n’a pas d’expression plus haute que ce qui nous lie à nous proches et aux nôtres (cela peut être la famille mais aussi la commu-nauté concrète des amis ou de la nation). En gardant le secret, Abraham trahit l’éthique. Son silence, en tout cas le fait qu’il ne dévoile pas le secret du sacrifice demandé, n’est cer tainement pas destiné à sauver Isaac.«23|Vgl. Kierkegaard, Sören: Furcht, 49: »Das Ethische ist als solches das Allgemeine und als das Allgemeine das, was für jeden gilt, welches sich andererseits so ausdrücken läßt, daß es in jedem Augenblick Gültigkeit hat. [...] Unmittelbar sinnlich und seelisch bestimmt ist der Einzelne, der Einzelne, der im Allgemeinen sein τελος hat, und es ist seine ethische Aufgabe, beständig sich selbst darin auszudrücken, seine Einzelheit auf-zugeben, um das Allgemeine zu werden.« Vgl. auch ders.: 65: »Dieses Paradox läßt sich nicht mehr mediieren, denn es beruht gerade darauf, daß der Einzelne nur der Einzel-ne ist. Sobald dieser Einzelne seine absolute Pflicht in dem Allgemeinen ausdrücken will, sich ihrer bewußt werden will in dem Allgemeinen, so erkennt er sich selbst als in Anfechtung befindlich und kommt dann, falls er dieser widersteht, nicht dazu, die so-genannte absolute Pflicht zu erfüllen, und wenn er dies nicht tut, dann sündigt er, wenn sein Tun auch realiter gesehen das würde, was seine absolute Pflicht wäre. Was soll nun Abraham machen?«
Die vergebliche Gabe272Hätte er dagegen seinen Zweifel ausgesprochen, sein Martyrium jemandem gebeichtet, dann hätte er sich dem Bereich der Sprache ausgeliefert und seine Einzigartigkeit verloren. Damit hätte er auch an das Allgemeine das Recht verloren, sich frei zu entscheiden, denn jede persönliche Entscheidung ist einsam, geheimnisvoll und verschwiegen.24 Wenn ich mich an die Gemeinschaft wende, wenn ich also spreche, dann wird mir die Entscheidungsfreiheit und die Verantwortung dafür schon dadurch aus der Hand genommen, dass ich nach dieser Äußerung nicht mehr allein verantwortlich sein werde. Wenn Abraham zum Beispiel mit seiner Frau gesprochen hätte, was wäre dann geschehen? Auf keinen Fall wäre Abraham nach Morija geritten. Nicht nur seine Frau Sara hätte es verboten, auch er selbst hätte seine Entscheidung auf seine Familie ausgerichtet und sie nicht mehr ausschließlich selbst geschultert.25 Abraham kann nicht reden. Aber gerade dadurch erweist er seinen Glauben gegenüber Gott, er schweigt und verweigert sich somit der Sphäre des Sozialen und Ethischen: »Des Glaubens Paradox ist dies, daß der Einzelne höher als das Allgemeine, daß der Einzelne [...] sein Verhältnis zum Allgemeinen bestimmt durch sein Verhältnis zum Ab-soluten, nicht sein Verhältnis zum Absoluten durch sein Verhältnis zum Allgemeinen. Das Paradox kann auch so ausgedrückt werden, daß es eine absolute Pflicht gegen Gott gibt; denn in diesem Pflichtverhältnis verhält sich der Einzelne als Einzelner sich absolut zum Absoluten.«26Das absolute Pflichtverhältnis gegenüber dem, was man als Höchstes ansieht, führt zu einer Auf hebung des generell Ethischen und des allgemeinen Han24|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 87: »Dans la mesure où ne disant pas l’essentiel, à savoir le secret entre Dieu et lui, Abraham ne parle pas, il assume cette responsabilité qui consiste à être toujours seul et retranché dans sa propre singularité au moment de la décision. De même que personne ne peut mourir à ma place, personne ne peut prendre une décision, ce qui s’appelle une décision, à ma place. Or dès qu’on parle, dès qu’on entre dans le milieu du langage, on perd la singularité. On perd donc la possibilité ou le droit de décider. Tout décision devrait ainsi, en son fond, rester à la fois solitaire, secrète et silencieuse.«25|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 87: »Premier effet ou première destination du langage: me priver ou aussi bien me délivrer de ma singularité. À suspendre ma singularité ab-solue dans la parole, j’abdique du même coup ma liber té et ma responsabilité. Je ne suis plus jamais moi-même, seul et unique, dès que je parle.« Vgl. Kierkegaard, Sören: Furcht, 55 + 72, wo davon gesprochen wird, dass Abrahams Leben wie ein Buch ist, das von Gott beschlagnahmt ist.26|Kierkegaard, Sören: Furcht, 64-65.
5. Die absolute Hingabe im Opfer273delns der Menschen.27 Wegen der Verantwortung gegenüber seinem Göttlichen wird die Verantwortung gegenüber den Menschen suspendiert. Das Opfer des Abraham macht die Auf hebung der Ethik aus einer absoluten Verpflichtung gegenüber dem Höchsten sichtbar.28Noch ist jedoch die Paradoxalität dieses Beispiels nicht voll ausgeschöpft: Die Suspension der generellen Ethik durch die absolute Verpflichtung führt nämlich zur Wiedereinsetzung und Neugründung der Sphäre des Sozialen. Denn der absolute Glaube von Abraham führt keineswegs dazu, dass er seine Familie aus Hass zurücksetzt, dass er Isaak plötzlich nicht mehr liebt und ihn deswegen leicht opfern kann.29 Die Ebene der ethischen Verpflichtung wird durch das Opfer nicht einfach ausgelöscht, sie bleibt weiter bestehen, ja sie muss weiter bestehen bleiben, damit das Opfer überhaupt geleistet werden kann. Abraham muss seinen Sohn lieben, um ihm den aufgetragenen Tod geben zu können, um zu tun, was die Ethik Hass und Mord nennt.30 Die absolute Verpflichtung gegenüber Gott erfordert ein Überschreiten der Ethik, aber was man überschreitet, zu dem gehört man immer noch, man bewegt sich nur davon weg. Die Ebene der Ethik wird zwar überschritten, bleibt jedoch perma27|Gott auch als Name für das Höchste, dem wir uns selbst verpflichtet fühlen. Vgl. Kierkegaard, Sören: Furcht 66: »Der Glaube ist auf der einen Seite der Ausdruck für den höchsten Egoismus (das Entsetzliche, das er tut, sich selbst zuliebe zu tun), auf der anderen Seite ist er der Ausdruck für die absoluteste Hingabe, nämlich es Gott zuliebe zu tun.«28|Vgl. Kierkegaard, Sören: Furcht, 65: »In der Erzählung von Abraham finden wir ein solches Paradox. Sein Verhältnis zu Isaak ist ethisch ausgedrückt, dies, daß der Vater den Sohn lieben soll. Dieses ethische Verhältnis wird zum Relativen herabgedrückt im Gegensatz zum absoluten Verhältnis zu Gott. Auf die Frage Warum? Hat Abraham keine andere Antwor t, als daß es eine Prüfung, eine Versuchung ist, was, wie oben bemerkt, die Einheit dessen ist, daß es um Gottes willen und um seiner selbst willen geschieht.«29|Vgl. Kierkegaard, Sören: Furcht, 68: »Die absolute Pflicht kann dazu bringen, zu tun, was die Ethik verbieten würde, aber sie kann in keiner Weise des Glaubens Ritter dazu bringen, die Liebe aufzugeben. Das zeigt Abraham. [...] Er muß Isaak lieben von ganzer Seele; indem Gott ihn forder t, muß er ihn womöglich noch stärker lieben, und nur dann kann er ihn opfern; denn diese Liebe zu Isaak ist es ja, die durch ihren paradoxalen Gegensatz zu seiner Liebe zu Gott seine Tat zu einem Opfer macht.«30|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 93: »Abraham en vient à haïr les siens en se taisant, à haïr son fils unique et bien-aimé en acceptant de lui donner la mor t. Il les hait non par haine, cer tes, mais d’amour. Il ne hait pas moins pour autant, au contraire. Il faut qu’Abraham aime son fils absolument pour en venir à lui donner la mor t, à faire ce que l’éthique appelle haine et meur tre.«
Die vergebliche Gabe274nent bestehen, sie ist nur in den Hintergrund gedrängt und durch Supplemente überlagert.31Die beiden Möglichkeiten für die sich Abraham entscheiden kann – Glaube an das Absolute oder Dienst an der Ethik – sie stehen sich unvereinbar gegenüber, sie können nicht ausschließlich auf eine der beiden reduziert werden. Das Paradox besteht. Auch bei einer scheinbaren Entscheidung für eine der beiden Seiten tritt die vernachlässigte Seite (die Ebene des Ethischen) wieder hervor. Über die Opfergabe wird somit das Denken den Grenzen der Sterblichkeit und der Endlichkeit ausgesetzt. Die Aporie des Opfers formt unausgesetzt das Problem der Erlösungsbedürftigkeit.32 Die Erlösung muss von außerhalb kommen, von ganz oben, von Gott als absolut anderem, denn er entscheidet, den Fortlauf des Opfers zu unterbrechen. Der Tod ist vorgegeben, daraus speist sich die Aufgabe, vor die uns das endliche Leben stellt. Diese Aufgabe ist nur als Aporie, als paradoxaler Entscheidungszwang, ersichtlich. Was sollen wir tun in dieser Welt von Morija, in der wir mit jeder Entscheidung, die wir nicht einmal rechtfertigen, noch erklären können, unsere Nächsten und Mitmenschen verraten?33Gott stoppt Abraham im allerletzten Moment, in dem Abraham bewiesen hat, dass er fest dazu entschlossen war, seinen Sohn zu opfern. Abraham wird dadurch zum Zeugen des Absoluten, er hat sich für die absolute Verpflichtung gegenüber Gott entschieden, hat dem Anruf durch Gott geantwortet und sich 31|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 95: »En termes généraux et abstraits, l’absolu du devoir, de la responsabilité, de l’obligation exige cer tes qu’on transgresse le devoir éthique mais qu’à le trahir on lui appar tienne encore et le reconnaisse en même temps. La contradiction et le paradoxe doivent endurés dans l’instant même. Les deux devoirs doivent se contredire, l’un doit subordonner (incorporer, refouler) l’autre. Abraham doit prendre la responsabilité absolue de sacrifier son fils en sacrifiant l’éthique mais pour qu’il y ait sacrifice, l’éthique doit garder toute son valeur: l’amour pour le fils doit rester intact, et l’ordre du devoir humain doit continuer à faire valoir ses droits.«32|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 98: »Le paradoxe, le scandale ou l’aporie ne sont au-tres, eux-mêmes, que le sacrifice: l’exposition de la pensée conceptuelle à sa limite, à sa mor t et à sa finitude.«33|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 99: »Je trahis ma fidélité ou mes obligations à l’égard d’autres concitoyens, à l’égard de ceux qui ne parlent pas ma langue et auxquelles je ne parle ni ne réponds, à l’égard de chacun de ceux qui écoutent ou qui lisent, et à qui je ne réponds ni ne m’adresse de façon propre, c’est-à-dire singulière (ceci pour l’espace dit public auquel je sacrifice l’espace dit privé), donc aussi à l’égard de ceux que j’aime en privé, les miens, ma famille, mes fils dont chacun est le fils unique que je sacrifice à l’autre, chacun étant sacrifié à chacun sur cette terre de Moriah qui est notre habitat de tous les jours et de chaque seconde.«
5. Die absolute Hingabe im Opfer275damit vor Gott verantwortet.34 Genau in dem Moment, in dem die Entscheidung des Abraham bezeugt ist – er hält das Messer erhoben – wird sowohl der Glaube als auch die Erschütterung und die verschwiegene, unsoziale Angst offenkundig, was das Opfer und die Aufgabe erfüllt.35 Dieser Dienst am absoluten Anspruch, der verlangt, das Liebste, was man hat, seine Mitmenschen und damit seine ganze Menschlichkeit aufzugeben, mündet nicht in der Zerstörung der Sozialität und der Mitmenschen, sondern führt zur ihrer Wiedererlangung. Nur wenn man weiß, was es bedeute, seine Liebsten zu opfern und man sich von allem abtrennen kann, erlangt man das Wissen um den wahren Wert der sozialen Gemeinschaft und des Miteinanders. So wie Abraham durch das Opfer nicht seinen Sohn verloren, sondern ihn dadurch wiedergewonnen hat. Das Opfer bestätigt, gerade weil es die Aufgabe der Ethik erfordert, die Möglichkeit der gnadenreichen Erlösung und den Wiedereinsatz der Werte der Gemeinschaft.36 Abraham hat sich der Paradoxalität des Lebens gestellt, ihre Schrecklichkeit erfahren und war dadurch genauso verantwortlich, wie auch unverantwortlich. Das ungewisse und ewige Geheimnis, in das sich unser Leben hüllt – daher kommt unsere Verantwortlichkeit, wie auch unsere Unverantwortlichkeit – ist uns in der Aufgabe vor dem Tod gegeben. Die Gabe des Todes hebt dabei also einerseits unser (Zusammen)Leben auf und verstärkt aber auf der anderen Seite das würdevolle Leben. Der Tod, Gott, die Unendlichkeit, das Absolute, aber auch der Mitmensch sind dabei Formulierungen, die für eine radikale Andersartigkeit stehen.37 Die vertikale Beziehung zu Gott oder auch dem Tod, 34|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 109: »La décision d’Abraham es absolument responsa-ble puisqu’elle répond de soi devant l’autre absolu. Paradoxalement, elle est aussi irre-sponsable puisqu’elle n’est guidée ni par la raison ni par une éthique justifiable devant les hommes ou devant la loi de quelque tribunal universel.«35|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 102: »Alors qu’Abraham a dit ›me voici‹ et pris le cou-teau pour égorger son fils, Dieu lui dit: N’étends pas la main sur ce garçon, et ne lui fais rien, car maintenant je sais que tu crains Elohim et que te ne m’as pas refusé ton fils, ton unique‹. Cette déclaration terrible semble étaler la satisfaction devant la terreur exercée (je vois que ›tu crains Elohim‹, tu trembles devant moi). Elle fait trembler par la crainte et le tremblement qu’elle évoque comme son unique raison (je vois que tu as tremblé devant moi, eh bien, tu es quitte, je te délie de ton obligation). Mais elle peut aussi se traduire et s’argumenter autrement: je vois que tu as compris se que signifie le devoir absolu, à savoir répondre à l’autre absolu, à son appel, à sa demande ou à son ordre.«36|Vgl. Kierkegaard, Sören: Furcht, 22. Vgl. auch ders.: 44: »Abraham verzichtete nicht durch den Glauben auf Isaak, sondern durch den Glauben bekam er Isaak.«37|Vgl. Vries, Hent De: Religion and Violence, Philosophical perspectives from Kant to Derrida, Baltimore, London 2002, 151: »Derrida reads the story of the sacrifice of Isaac
Die vergebliche Gabe276der Unendlichkeit, dem Absoluten wird durch den Glauben geregelt, während die horizontalen Beziehungen zwischen den Menschen in einer Ethik formuliert werden. Diese Beziehungen stehen in einem aporetischen Missverhältnis zueinander. Diese Probleme sind für uns nur in einer paradoxalen Gegenüberstellung denkbar. Diese aporetisch verkeilten Beziehungen stellen unser Leben dar. Wie können wir damit umgehen, wie können wir derart weiterleben? Auf jeden Fall ertasten wir durch das Beispiel des Abraham die Grundbedingungen unserer Verantwortung und die Grenzen und Zugangsmöglichkeiten zum geheimnisvollen Anderen.38 Diese Bedingungen sind lediglich als unhintergehbares und geheimnisvolles Paradox zugänglich, eine Entscheidung ist in den Ausformulierungen, die Kierkegaard und Derrida vorführen, nicht gegeben.39 Jeder Einzelne muss und darf sich selbst entscheiden und hat die Freiheit, zu wählen zwischen absolutem Anspruch und genereller Ethik.Diese Aporie, die sich uns in jedem Opfer gibt, zwischen absoluter und genereller Verpflichtung spitzt Derrida im weiteren auf die Aporie von absoluter Anökonomie und genereller Ökonomie zu. Mit dem Begriff der Ökonomie kann er näher auf den Aspekt des Austausches der Gabe eingehen. Im Einklang mit der begrifflichen Verwendung bei Derridas BatailleLektüre betrifft die Ökonomie das Wirtschaften und den Austausch – hier im Beas the narrative ellipsis of the paradoxical logic of obligation, absolute responsibility, duty, and decision that marks the ethical – and perhaps more than simply ethical – re-lation with the absolute Other, for which ›God‹ is the singular and most proper name.«38|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 110: »Dieu est par tout où il y a du tout autre. Et comme chacun de nous, chaque autre, tout autre est infiniment autre dans sa singularité absol-ue, inaccessible, solitaire, transcendante, non manifeste, non présente originairement à mon ego [...], ce qui se dit du rappor t d’Abraham à Dieu se dit de mon rappor t sans rappor t à tout autre comme tout autre, en par ticulier à mon prochain aux miens qui me sont aussi inaccessibles, secrets et transcendants que Iahvé. Tout autre (au sens de chaque autre) est tout autre (absolument autre).« Vgl. Caputo, John D.: The prayers and tears of Jacques Derrida: religion without religion, Bloomington, Indianapolis 1997, 113: »To call upon God, to call God’s name, to pray an weep and have a passion for God, is to call for the tout autre, for something that breaks up the hohum homogeneity of the same and all but knocks us dead. The name of God is a name that calls for the other, that calls from the other, the name that the other calls, that calls upon us like Elijah at the door, and that calls for something new.«39|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 111: »Il nous dirait la vérité paradoxale de notre re-sponsabilité et de notre rappor t au donner la mor t de chaque instant. De surcroît, il nous expliquerait aussi quel est son propre statut, à savoir de pouvoir encore être lisible de tous, au moment même où il nous parle en secret de secret, d’illisibilité, d’indéchif-frabilité absolue.«
5. Die absolute Hingabe im Opfer277reich der kleinsten gesellschaftlichen Zelle, der Familie, um die es auch im Beispiel des Abraham geht. Abraham lebt in einer Gemeinschaft mit seiner Familie, mit seiner Frau Sara und seinem Sohn Isaak, diese Gemeinschaft basiert auf den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der gleichmäßigen Verteilung der Lasten und Gewinne. Dieses Leben aufgrund der Gerechtigkeit des Tausches besteht in einem Geben, damit genommen werden kann, oder auch in einem Nehmen, damit gegeben werden kann. Die Identifikation der Familie, der täglichen Geschäfte, die man tätigen muss, um seine Familie zu ernähren, des wirtschaftlichen Kreislaufs, oder der Regeln des irdischen Lebens, legt unter dem Stichwort der Ökonomie eine stille Nähe zur Ethik und Politik des Aristoteles offen. Dieser spricht von der besonderen Gerechtigkeit als einer Form der Zuteilung oder einer Art von vertraglichem Verkehr.40 In beiden Fällen – bei Aristoteles wie bei Derrida – handelt es sich um die Grundzüge des menschlichen Zusammenlebens, die durch den Austausch und die Zuteilung von Werten, Normen und Gütern geregelt werden. Dieser geregelte Tausch, dieses Wirtschaften, das auf den Ausgleich und die Wiedervergeltung bedacht ist, scheint für Derrida zum Spiegelbild und zum Synonym für die ethische Ebene der generellen Verantwortung der Menschen untereinander zu werden.Mit dem Opfer des Isaak durchbricht also Abraham diesen ethischen Bereich des Austausches, er sieht sich als ausschließlich Gott verpflichtet. Und Gott gibt darauf hin aus freien Stücken – einfach so – das Leben des Sohnes zurück.41 Abraham befindet sich, obwohl er etwas zurückerhält, im Zustand des 40|Vgl. Gigon, Olof (Hg.): Aristoteles. Nikomachische Ethik, 208-209 (Aristoteles: EN V, 1130 b30-1131 a10): »Von der besonderen Gerechtigkeit nun und dem ihr entspre-chenden Gerechten betrifft die eine Ar t die Zuteilung von Ehre, Geld und den anderen Dingen, die unter die Mitglieder der Gemeinschaft aufgeteilt werden können; [...] Die an-dere Ar t ordnet den ver traglichen Verkehr.« Die Zuteilung geschieht idealerweise nach dem Grundsatz der Propor tionalität [vgl. ders.: 209-210 (EN V, 1131 a29-b10)], was ei-nen Austausch oder eine Zirkulation nahelegt: Man erhält zurück, was man eingebracht hat. Der Oikos (die kleinste Organisation der Gesellschaft als Haus) erhält seinen Platz in diesem Gedankengang, insofern als das Haus die Grundlage und die Basis für die Struktur der Polis darstellt. Das Hauswesen erwirtschaftet die finanzielle Unabhängig-keit (Autarkie) des Hausvorstandes, der sich dann als freier Staatsbürger in die über-geordneten, staatlichen Gremien einbringen kann. Vgl. Gigon, Olof (Hg.): Aristoteles. Politik, 50-63 (Politik I 1253 b1-1258 b6).41|Vgl. Hoping, Helmut: Die Ökonomie des Opfers und die Gabe der Eucharistie, in: Böhm, Thomas, Knop, Julia u. Hoping, Helmut (Hg.): Bindung Isaaks, 206: »Bei dem Opfer, das Gott von Abraham erbittet, geht es für Derrida um mehr als die Erfahrung der Dunkelheit und Unbegreiflichkeit Gottes. Das Opfer Abrahams ist die Gabe jenseits der Ökonomie des Opfers, gegeben ohne jede Hoffnung auf Lohn oder Gegengabe. [...] Dor t, wo von Abraham die Gabe ohne Ökonomie des Gabentausches vollbracht wird,
Die vergebliche Gabe278NichtAustauschs mit Gott.42 Zwischen beiden wird das Geheimnis gewahrt, Abraham verrät nichts, als er von Isaak auf das fehlende Opferlamm angesprochen wird: Selbst die Kommunikation als Austausch von Worten und Vertrautheiten ist aus diesem Grund unterbrochen.43 Abraham steht in einer Beziehung zum Absoluten, die nicht von dieser Welt ist und weder Austausch noch Gerechtigkeit berücksichtigt. Seine Beziehung zu Gott besteht im Schweigen und im stummen Gehorsam, der seine Antwort auf den Anruf Gottes und seine Verantwortung ihm gegenüber darstellt.44Damit entzieht sich die (Nicht)Ökonomie des aufgegebenen Opfers in zweierlei Hinsicht dem Kreislauf des diesseitigen Lebens. Zum einen opfert ohne Hoffnung, das ihm zurückgegeben wird, dor t gibt Gott Abraham, im Sinne einer absoluten Gabe, seinen Sohn zurück.«42|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 131: »Le sacrifice de l’économie, sans lequel il n’y a pas de responsabilité libre et de décision (une décision est toujours au-delà du calcul), c’est bien dans le cas le sacrifice de l’oikonomia, à savoir de la loi de la maison (oikos), du foyer, du propre, du domaine privé, de l’amour et de l’affection des siens: moment où Abraham donne le signe du sacrifice absolu, à savoir la mor t donnée aux siens, la mor t donnée à l’amour absolu pour ce qui est le plus cher, le fils unique; instant où le sacri-fice est quasiment consommé, puisque seul un instant, un non-laps-de-temps, sépare le bras levé du meur trier du meur tre lui-même; instant insaisissable de l’imminence absolue où`Abraham ne peut donc plus revenir sur sa décision, ni même la suspendre; à cet instant, donc, dans l’imminence qui ne sépare même plus la décision de l’acte, Dieu lui rend son fils et décide souverainement, par un don absolu, de réinscrire le sacrifice dans une économie par ce qui ressemble dès lors à une récompense.«43|Vgl. Wills, David [Übers.]: Translator’s preface to the 2007 edition, in: Derrida, Jacques: The gift of death; and, literature in secret, Chicago 2008, viii: »How does one interpret Abraham’s secret and the law requiring his silence? Why does it seem incom-mensurable with the interdiction that seems to reduce all his family to a type of mute-ness: all those, male and female, to whom he has, all the same, never confided anything; as well as Sarah and Isaac, Hagar and Ishmael, who were so summarily dismissed?”44|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 131-132: »Dieu décide de rendre, de rendre la vie, de rendre le fils bien-aimé, à par tir du moment où il paraît assuré qu’un don sans écon-omie, le don de la mor t – et de la mor t de ce qui n’a pas de prix – a été accompli sans espoir d’échange, de récompense, de circulation, de communication. Parler du secret entre Abraham et Dieu, c’est dire aussi qu’entre eux, et pour qu’il y ait ce don comme sacrifice, il fallait que toute communication fût interrompue, qu’il s’agisse de la com-munication comme échange de mots, de signes, de sens, de promesse, ou de la com-munication comme échange de biens, de choses, de richesse ou de la propriété. Abra-ham renonce à tout sens et à toute propriété – et là commence la responsabilité du devoir absolu. Abraham est dans le non-échange avec Dieu, il est au secret parce qu’il ne parle pas à Dieu et n’attend de lui ni réponse ni récompense.«
5. Die absolute Hingabe im Opfer279Abraham das Liebste, was er hat, ohne Hintergedanken, ohne Hoffnung, etwas dafür wiederzubekommen. Er handelt nicht, um einen anderen Zweck zu verfolgen, etwa um mit dem Opfer seinen Glauben zu beweisen und damit eine sichere Fahrkarte ins Himmelreich zu lösen. Vielmehr kann dieses Opfer als eine reine Gabe angesehen werden – Abraham wird gerufen, seinen Sohn rückhaltlos von sich zu geben. Diesem Aufruf folgt Abraham bedingungslos. Zum anderen offenbart sich die NichtÖkonomie der Gabe im Verzicht Gottes, das Leben des Isaak zu opfern. Das Opfer ist schon erfüllt, Abraham hat schon alles dargebracht, indem er sich selbst mit dem Vorhaben des Opfermordes außerhalb der Gesellschaft gestellt hat. Im selben Moment der absoluten Zurückweisung der Ökonomie durch das Opfer erhält er das Geschenk des Lebens seines Sohnes.45 Die ganze Thematik handelt vom Verhältnis einer absoluten (himmlischen) und einer vergänglichen, unzulänglichen Gerechtigkeit.46 Die irdische Wirtschaft zerbricht durch das Opfer und ist immer zerbrechlich, das Geheimnis mit Gott jedoch ist beständig in seiner Unzugänglichkeit – von dort kann es durch niemanden profaniert werden. Das Geheimnis mit Gott spielt sich im Innersten ab, dort wo bildlich das Herz schlägt, dort wo sich stumm vor dem absoluten Anspruch verantwortet werden muss.47Die absolute Verpflichtung führt jedoch nicht nur zu einem Bruch mit der menschlichen Ethik und Ökonomie, sie setzt sie auch wieder ein. Das Paradox von absoluter und genereller Verantwortung setzt die sich widersprechenden Teile zueinander in Beziehung: Die Anökonomie des Opfers von Abraham und Isaak steht in direkter Beziehung zur Ökonomie ihrer letztendlichen Rettung. 45|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 132: »Plus précisément: ayant renoncé à gagner, n’at-tendant plus ni réponse ni récompense, rien qui lui soit rendu, rien qui lui revienne [...], il se voit rendre par Dieu, à cette instant du renoncement absolu, cela même qu’il avait déjà, dans le même instant, décidé de sacrifier. Cela lui a été rendu parce qu’il n’a pas calculé.«46|Mit einem Verweis auf das Matthäusevangelium (Matthäus 6): Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 133-134: »Ce passage de L’Évangile, on le sait, se rassemble autour de la question de la justice, et surtout de la justice économique, en quelque sorte: l’aumône, le salaire, la dette, la thésaurisation. Or le par tage entre l’économie céleste et l’écono-mie terrestre permet de situer la juste place du cœur.«47|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 134: »Le cœur sera donc, au futur, là où vous sauverez le vrai trésor, celui qui n’est pas visible sur la terre, celui dont le capital s’accumule au-delà de l’économie du visible ou du sensible terrestre, c’est-à-dire de l’économie corrompue ou corruptible, vulnérable à la teigne, à la rouille et aux voleurs.«
Die vergebliche Gabe2805.2.2 Korrelation des Opfers mit der VergebungDiese Aporetik des Opfers verweist wiederum auf die Vergebung. Als ob die paradoxe Substitution zwischen den aporetischen Enden der Knotenstruktur »Gabe« eine wechselseitige Sinnkonstitution erfordere, so sind Vergebung und Hingabe erklärend aufeinander angewiesen. Die aufopfernde Hingabe leistet, wie wir gesehen haben, für die Offenheit der Vergebung eine bedeutende Ergänzung. Das Opfer supplementiert die Vergebung: Die Unabgeschlossenheit der Vergebung und der Gabe werfen die Frage der Sinngebung auf. Ein Sinn, der gefunden werden muss, angesichts der radikal gedachten Hingabe – der Aufgabe des Lebens, die sich dem zum Tod verurteilten Menschen stellt. Damit kann das Opfer als Beobachtungsbegriff zweiter Ordnung für die Vergebung dienen. Erst in dieser Nomenklatur des Opfertodes wird die Notwendigkeit der Sinnerfüllung angesichts eines endlichen Lebens deutlich. Die Vergebung hat keine Mittel, um zu thematisieren, warum man vergeben soll. Jankélévitch versucht diese Sinnleere der Vergebung, die blind zu sein scheint für die Frage nach dem »Wozu?«, die sich nicht autologisch selbst begründen kann, in einem Zusatzkonzept, der Brüderlichkeit der Menschen aufzufangen. Dieses Zusatzkonzept soll der Vergebung garantieren, gegen das Böse ankommen zu können. Die bewahrende Vergebung erlaubt es den Menschen, sich gegen den auslöschenden Tod stellen zu können.48Derrida jedoch findet keine Sicherheit in solchen Konzepten; bei ihm wird die Sinnsuche im formalen Spiel der Supplemente praktiziert, die sich gegenseitig ergänzen und in der Fortfolge nie zu einem Halt kommen. Symbolisch findet diese Supplementierung der Vergebung durch das Opfer in der Figur des Widders einen Ausdruck. Das gekrümmte Geweih des Opfertieres steht für eine Verflechtung der Topoi: Eine gebrochene Kosmologie, eine zweifelhafte Metaphysik, aporetische Ereignishaftigkeit, Datierbarkeit, Schriftlichkeit – das eine befindet sich durch das andere in Aufl ösung und garantiert doch ein Bezugssystem, in dem eine spurhafte gegenseitige Sinnkonstitution stattfindet. Diese symbolische Substitution steht darum formal für eine aporetische Formverschlingung, die inhaltliche Bedürftigkeit und Vergeblichkeit auffängt in einer formal erfüllenden Weiterleitung. Die Ausweglosigkeit, zu 48|Vgl. Jankélévitch, Vladimir: Pardon, 212: »Et cependant toutes les fautes sont par-donnables à l’infini, comme toutes les maladies sont guérissables à l’infinie. La même réciprocité nous renvoie sans fin de la pensée de la mor t à la mor t de l’être pensant, de la pensée englobante et englobée à la mor t englobée et englobante, et vice versa de la mor t triomphante à la pensée qui pense cette mor t et la nie et la dépasse. L’esprit de l’homme oscille entre ces deux triomphes simultanément vrais, mais alternativement conçus: car il se démentent l’un l’autre. [...] Et l’homme, [...] il pardonne pour ne pas ressembler à la mor t, pour être invincible dans un tout autre sens que la mor t.«
5. Die absolute Hingabe im Opfer281keinem endgültigen Ergebnis kommen zu können, wird dadurch kompensiert, dass in der Form der Aporie vorläufige Ergebnisse zueinander in Beziehung gesetzt und vielfältigste Ausblicke gewährt werden können.Bei Derrida macht der Opferbegriff Folgendes deutlich: Eine inhaltliche Sinnleere, die sich bei der Vergebung als autologische Unfähigkeit bemerkbar macht, einen Grund dafür angeben zu können, warum man vergeben soll, wird dadurch aufgefangen, dass im Opferbegriff thematisiert wird, inwieweit eine inhaltliche Unabgeschlossenheit transformiert wird in formale Folgerichtigkeit von Anschlussmöglichkeiten und aufeinander bezogene Handlungsalternativen. Das Opfer kann als Reflexionskonzept die Vergebung substituieren, weil im Opferbegriff leitbildhaft die Substituierbarkeit im Mittelpunkt steht:49 Im Opfer geschieht die anökonomische Transformation des Ökonomischen.50 Im Opfer gibt Abraham seinen Sohn Isaak aufgrund eines absoluten Anspruchs dem Tod anheim, allein das schon der Versuch, einen inneren Anspruch in eine Handlung zu transformieren. Dieses Opfer des Isaak stellt wiederum die Substitution des Opfers des Abraham dar, der seine eigene Zukunft, seine Nachkommenschaft, seinen einzigen Sohn, das Liebste, was er hat, opfern soll. Die Auflösung geschieht dann erneut in einer Substitution, als Abraham seine Opferbereitschaft bewiesen hat, als er das Messer gegen seinen Sohn erhoben hat, wird das Menschen in ein Tieropfer transformiert: Der von Gott gesandte Widder schließt den Kreis der Substitutionen; er stellt eine ökonomische Rückgabe dar, die eine anökonomischverschwiegene, absolute Verantwortung Abrahams weiter tragen kann. – Das Opfer bei Derrida steht damit für die Ersetzbarkeit von Elementen, wobei erst in der Ersetzung Sinn in verwobener Referenzialität entsteht. Erst die Supplementierung, erst die spurhafte Entzogenheit garantiert ihre Sinnkonstitution.5149|Vgl. Siegumfeldt, Inge-Birgitte: Secrets and sacrifices of scission, in: Har t, Kevin u. Sherwood, Yvonne (Hg.): Derrida and religion. Other testaments, London, New York 2005, 291: »In both cases the patriarch’s alliance with God is determined by self-be-reavement, and in the latter case the son is tied up (bound) before the strike. So, ac-cording to Derrida, severance, sacrificial and otherwise, binds through the substitution of one erasure by another.«50|Vgl. Keenan, Denis King: The question of sacrifice, Bloomington 2005, 159: »Everything on sacrifice in the work of Derrida hinges on the ellipsis of sacrifice. It hinges on that aporetic moment when the sacrifice of (economical) sacrifice turns into the sacrifice of (aneconomical) sacrifice, and vice versa. Here is the sacrifice of sacri-fice. Here is the double bind of sacrifice.«51|Vgl. Weston, Michael: Kierkegaard and modern continental philosophy: an intro-duction, London, New York 1994, 120: »›[...] a center which arrests and grounds the play of substitutions...The movement of signification adds something...but this addition...comes...to supplement a lack on the par t of the signified.‹ [das Zitat bezieht sich hier
Die vergebliche Gabe282Genauso aber kann die Vergebung auf eine unbeantwortete Frage bei der Hingabe einen Anschlusspunkt vorschlagen. Beide Beobachtungsweisen können sich auf einen übereinstimmenden Formalismus von unterschiedener Anökonomie und Ökonomie beziehen, prägen ihre jeweilige Problematik jedoch eigen aus. Die Vergebung erweitert das Opfer bei Derrida. Die Aporien der Vergebung nehmen den anökonomischen Tausch beim Opfer unter einem anderen Gesichtspunkt wahr: Was beim Opfer dem Tod hingegeben scheint, kann bei der Vergebung als Chance zum Neuanfang aufgefasst werden. So provoziert die anökonomische Vergeblichkeit der Hingabe die Frage nach ihrer Vergebbarkeit. Abraham muss sich fragen: »Wie konnte ich nur dem Befehl Gottes absolutes Gehör schenken und bereit sein, meinen Sohn zu opfern?«52Diese Frage ist weit davon entfernt, das Problem der Hingabe zu lösen, das darin besteht, dass Ökonomie und Anökonomie des Opfers paradoxerweise aufeinander verweisen. Diese Frage nach der Vergebung wiederholt sogar diese Aporetik, ist aber in der Lage, den Folgediskurs unter einer anderen Leitdifferenz weiter zu betreiben.Die Schuld am Opfertod des Sohnes Isaak ist die verschobene Schuld angesichts der Verantwortung gegenüber dem unbedingten Anspruch Abrahams. Unter der Maßgabe der Vergebung wird diese Schuld nicht nivelliert auf: Derrida, Jacques: Structure, Sign and Play, in: Macksey, R. u Donate, E. (Hg.): The Structuralist Controversy, London, 1972, 289, Anm. d. Verf.] Meaning is only produced through the production of differences: but this process has no given end, no organizing centre. ›But to the extent that meaning presents itself, gathers itself together, says it-self and is able to stand there, it erases difference and casts it aside.‹ [Zitat: Derrida, Jacques: Dissemination, (Übers. Johnson, B.), Chicago 1981, 351, Anm. d. Verf.] It for-gets that any difference is only possible through the process of differing which has itself no given termination. But it is the very lack of a ground which provokes the production of differences and so of meaning: that is, they are produced in order that there should be determinate meaning.«52|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 167-168: »Dans le troisième mouvement, après un énigmatique paragraphe qui voit passer fur tivement les silhouettes d’Agar et d’Ismaël dans la songerie pensive d’Abraham, celui-ci implore Dieu. Se jetant à terre, il demande pardon à Dieu: non pour lui avoir désobéi, mais pour lui avoir obéi au contraire. Et pour lui avoir obéi au moment où il lui donnait un ordre impossible, doublement impossible: impossible à la fois parce qu’il lui demandait le pire et parce que Dieu, selon un mou-vement sur lequel nous aurons à revenir nous-mêmes, reviendra sur son ordre, l’inter-rompra et le rétractera, en quelque sor te — comme s’il avait été pris de regret, de re-mords ou de repentir.« Vgl. Kierkegaard, Sören: Furcht, 13: »Es war ein stiller Abend, da ritt Abraham allein hinaus, und er ritt zum Berg Morija; er warf sich auf sein Angesicht, er bat Gott, ihm seine Sünde zu vergeben, daß er Isaak hatte opfern wollen, daß der Vater seine Pflicht gegen den Sohn vergessen hatte.«
5. Die absolute Hingabe im Opfer283oder vergessen, sie bleibt der Erinnerung verfügbar und bleibt der überwältigenden Wucht der Vergänglichkeit entzogen.53 Die Vergebung stattet also ein traumatisches Ereignis (wie es das Opfer des Isaak und des Abraham darstellt) mit den Attributen der Schriftlichkeit aus. Damit wird ein singulärer Zeitpunkt erst als Ereignis und Datum identifiziert und aus einem homogenen Zeitablauf herausgehoben. Dieses Ereignis ist derart verräumlicht mit der Kraft eines Bruches ausgestattet, um seine Wiederholbarkeit selbst in unterschiedlichsten Kontexten gewährleisten zu können.54Der Aspekt der Schriftlichkeit betont einmal mehr die Vergänglichkeit in der Sprache, in der immer wieder der Tod aufscheint. – Nicht nur im pyramidalen A der Différance, auch im prinzipiellen Tod der an der Sprache beteiligten Akteure. Dass damit auch ein Übergang auf den Tod im ethischen Handeln entsteht, sehen wir jetzt: Im wenig beachteten zweiten Aufsatz »La littérature au secret. Une filiation impossible« von »Donner la mort« spricht Derrida diese Verbindung von Schriftlichkeit und ethischer Problematik der Vergebung im Tod an.55Derrida bezieht sich dabei auf das mottohafte Mantra »Pardon de ne pas vouloir dire...«, dessen gespenstische Inhaltsleere die wiederkehrende Frage nach seinem Sinn aufwirft und gleichzeitig die Verbindung mit der Vergebung thematisiert. Damit wird dieser Quasisatz, der sich ausdrücklich auf die nach Vergebung sehnende Verzweiflung von Kierkegaards Abraham gründet, zu einem Paradebeispiel für die Wirkungsmacht der Schriftlichkeit und der Literatur.56 Dieser Satz bezieht sich nicht auf einen klaren Kontext, in dem er verständlich wäre, auf keinen ausgewählten Autor oder Empfänger. Er entbehrt einer soliden Bedeutung. Und besetzt doch einen öffentlichen Raum, ist lesbar und verständlich, weil er iterabel, schriftlich wiedererkennbar ist.57 Zugleich vereint dieser Schriftzug die Sinnabwesenheit und die Sinnhaftigkeit. So 53|Im Kapitel »4.2.2 Die Unterschiedenheit der Vergebung« haben wir diesen Aspekt der Vergebung angesprochen.54|Wir greifen hier zurück auf das Kapitel »1.2.2 Das iterier te Zeichen in seiner Widersprüchlichkeit«.55|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 160-209.56|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 173: »Pour l’instant, laissons là Abraham. Revenons à cette prière énigmatique, ›Pardon de ne pas vouloir dire...‹, sur laquelle, un jour, comme pour hasard, un lecteur pourrait tomber.«57|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 173: »Rien ne nous est dit de l’identité du signataire, du destinataire et du référent. L’absence de contexte pleinement déterminant prédis-pose cette phrase au secret à la fois, conjointement, selon la conjonction qui nous impor te ici, à son devenir-littéraire: peut devenir une chose littéraire toute contexte confié à l’espace public, relativement lisible ou intelligible, mais dont le contenu, le sens, le référent, le signataire et le destinataire ne sont pas des réalités pleinement
Die vergebliche Gabe284kann er sich in der verschwommenen Doppelnatur der Différance präsentieren. Diese gleichzeitige Offenheit und unzugängliche Verschlossenheit dieses Schriftsatzes stellt einen Verbindungspunkt zur biblischen Tradition des Opfers von Abraham dar.58 Wie bei Isaak, der unter dem Messer seines Vaters in Todesgefahr schwebt, drückt sich in diesem Schriftsatz eine kontigente Unentschiedenheit aus.59 Unter dem gezückten Messer, aber noch nicht getroffen; im permanenten Schwebezustand von Bedeutungsgebung und Sinnentleerung.60Insofern verweist das aporetische Geheimnis des Opfers auf das Geheimnis der Schriftlichkeit und der produktiven Sinnverstellung in der Différance. Ein Verweis, der durch die vergebende Kraft des Neuanfangs erst inszeniert wird: Die Sprache unter den Bedingungen der Différance inkorporiert die Tradition des Abrahamitischen Opfers, weil sie durch ihre schwebende Unbestimmtheit die Freiheit zu handeln garantiert, die abgründige Verantwortung des Autors/Abrahams unterstreicht, die dieser für die durch ihn verursachten Ereignisdéterminables, des réalités à la fois non-fictives ou pures de toute fiction, des réalités livrées, comme telles, par une intuition, à quelque jugement déterminant.«58|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 177: »C’est pourquoi j’inscris ici la question du secret comme secret de la littérature sous le signe apparemment improbable d’une origine abrahamique. Si l’essence de la littérature, strictu sensu, au sens que ce mot d’Oc-cident garde en Occident, n’était pas d’ascendance essentiellement grecque mais abrahamique. Comme si elle vivait de la mémoire de ce pardon impossible dont l’im-possibilité n’est pas la même des deux côtés de la frontière supposé entre la culture abrahamique et la culture grecque. Des deux côtés, non ne connaît pas le pardon, si je puis dire, on le connaît comme l’im-possible, mais l’expérience de cette impossibilité, c’est du mois mon hypothèse, s’y annonce comme différente.«59|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 177: »Le secret peut-être sans secret de cette phrase qui se tient en l’air, avant ou après une chute, selon le temps de cette chute possible, ce serait une sorte de météorite. Cette phrase paraît aussi phénoménale qu’un météorite [...]. Phénoménale, cette phrase paraît l’être, car d’abord elle paraît. Elle apparaît, cela est clair, c’est même l’hypothèse ou la cer titude de principe. Elle se manifeste, elle paraît mais ›en air‹, venue on ne sait d’où, de façon apparemment contingente. Con-tingente météorite au moment de toucher un sol (car une contingence dit aussi, selon l’étymologie, le toucher, le tact ou le contact) mais sans assurer de lecture per tinente (car la per tinence dit aussi, selon l’étymologie, le toucher, le tact ou le contact).«60|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 177: »Elle se tient encore suspendue, peut-être au-dessus d’une tête, par l’exemple celle d’Isaac au moment où Abraham lève son cou-teau au dessus de lui, quand il ne sait pas plus que nous ce qui va se passer, pourquoi Dieu lui a demandé en secret ce qu’il lui a demandé, et pourquoi il va peut-être le laisser faire ou l’empêcher de faire ce qu’il lui a demandé de faire sans lui en donner la moindre raison: secret absolu, secret à garder en par tage quant à un secret qu’on ne par tage pas. Dissymétrie absolue.«
5. Die absolute Hingabe im Opfer285se übernehmen muss, aber nie ganz kontrollieren kann.61 Die Schrift bittet gleichsam um Vergebung, weil sie den Schwebezustand der Différance über die menschliche Ethik verhängt, weil sie Moral, ökonomisches Handeln, unsere Verantwortung gegenüber dem eigenen Tod, unsere Verantwortung gegenüber dem Tod des Nächsten in einer aporetischen Unmöglichkeit verflüchtigt. Die Schrift bittet um Vergebung – das heißt aber auch, dass erst diese aporetische Verstellung zu einer authentischen Inszenierung führt: Die schriftliche Formation von Gabe, Hingabe und Vergebung ermöglicht erst deren sinnvollen Übergang und damit die Entstehung eines kohärenten ethischen Problembereichs.6261|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 205-208.62|Vgl. Derrida, Jacques: Dlm, 208-209: »[...] alors la littérature hérite, cer tes, d’une histoire sainte dont le moment abrahamique reste le secret essentiel [...], mais elle renie aussi cette histoire, cette appar tenance, cet héritage. Elle renie cette filiation. Elle la trahit au double sens du mot: elle lui est infidèle, elle rompt avec elle au moment même d’en manifester la ›vérité‹ et d’en dévoiler le secret. À savoir sa propre filiation: possible, impossible. Cette ›vérité‹ est à la condition d’un reniement dont la ligature d’Isaac impliquait déjà la possibilité. De cette double trahison la littérature qui ne de-mande, dès son premier mot, pardon. Au commencement, il y eut le pardon. Pour rien. Pour rien vouloir dire.«
5.Die absolute Hingabe im OpferSo kommt es, dass der Begriff des Opfers und der Hingabe eine weitere Supplementierung der Gabe und der Vergebung bedeuten, eine weitere unwesentliche Hinzufügung, die jedoch erst das Wesen dieser beiden in ihrer Aporetik zum Ausdruck bringt. Im paradoxen Opferbegriff, wie ihn Derrida entfaltet, erweitert sich die Vergebung um den Aspekt des »Wozu?«. Die Aporie von der nicht wiedergutzumachenden Einmaligkeit der Untat und dem wundersamem Neuanfang für Täter und Opfer im gemeinsamen Menschsein öffnet sich im Hinblick auf die Frage: Warum soll man vergeben? Lohnt sich das Opfer des Verzichts auf die Rache? Inwieweit ergibt es einen Sinn, wenn ich meine berechtigten Forderungen hingebe? Inwieweit ergibt sich aus einem solchen Opfer eine gemeinsame Würdigung? Wie ist das menschliche Leben zu bewerten, angesichts seiner Hinfälligkeit im Tod?5.1 Di e kn o t e n s t r u k t u rD e s oP f e r sEine Annäherung an den Opferbegriff unternimmt Derrida im Nachvollzug eines Gedichts von Paul Celan mit dem Titel »Große glühende Wölbung«, aus dessen Interpretation er einen Überblick über die Tragweite des Opfers gewinnt:»Große, glühende Wölbungmit dem sichhinaus- und hinweg-wühlenden Schwarzgestirn-Schwarm:der verkieselten Stirn eines Widdersbrenn ich dies Bild ein, zwischendie Hörner, darin, im Gesang der Windungen, das Mark der geronnenenHerzmeere schwillt.
Die vergebliche Gabe264Wo-gegenrennt er nicht an?Die Welt ist for t, ich muß dich tragen.«1Derrida versucht, diesem Gedicht Leitmotive seiner ethischen Arbeit abzuringen. Leitgedanken, die weniger einer methodischgeleiteten Symbolanalyse entspringen, sondern das Gedicht Celans als Initial auffassen für den spurhaften Vollzug der eigenen Philosophie.25.1.1 Metaphorischer Begriffsumfang des OpfersDie Interpretation dieses Gedichts lässt sich bei Derrida an verschiedenen Knotenpunkten ablesen, auf die sich verschiedene Motive verdichten.Ein erstes Leitmotiv, das Derrida dem Gedicht Celans entzieht, besteht in einer Kosmologie des Kreislaufs. Nicht nur die »große glühende Wölbung« selbst, sondern auch der »SchwarzgestirnSchwarm« spielen auf das Himmelsgewölbe an, das sich in der Rundung des Geweihs eines Opferbocks aufspannt. Insofern ist hier eine Anspielung auf die Struktur des Kreises und des Geflechts zu erkennen, die als aporetische Formprinzipen die Wahrnehmung der Welt konturieren.3 Die Himmelswölbung entspricht der Krümmung des Widdergeweihs. Der Fortlauf der Welt wird so mit der Wucht eines Rammbocks in Verbindung gebracht. Die gekrümmten Hörner des Widders bestimmen als Abbild die Beschaffenheit des Alls und künden von der rücksichtsloszerstörerischen Wucht, in der die Welt abläuft, sich »hinaus und hinweg«wühlt.Des Weiteren ist in der Figur des Widders eine Sichtbarmachung der Zeit zu bemerken. Das Horoskop und seine astrologische Bewertung knüpfen an das Symbol des Widders ein bestimmtes Schicksal des Menschen, der unter dieser Planetenkonstellation zu einem bestimmten Datum geboren worden ist. 1|Wiedemann, Barbara (Hg.): Paul Celan. Die Gedichte. Kommentier te Gesamtausga-be in einem Band, Frankfur t a.M. 2003, 210.2|Vgl. Derrida, Jacques: Béliers. Le dialogue ininterrompu: entre deux infinis, le poème, Paris 2003, 43-80. Vgl. Derrida, Jacques: Sovereignties in Question. The Poe-tics of Paul Celan, New York 2005.3|Vgl. Derrida, Jacques: Fg, 15: »Nichts kommt ans Licht oder an den Tag, kein Phäno-men, das nicht dem Wechsel von Tag und Nacht gehorchte, anders gesagt dem Rhyth-mus jener Revolution, die die Bahn der Sonne von ihrem Ende her orientier t: vom Auf-gang im Osten hin auf den Untergang im Westen. [...] Wir werden dem Sog des Wor tes Revolution folgen. Es geht darin um einen bestimmten Kreis, dessen Figur sowohl die Zeit wie auch die Gabe in die Möglichkeit ihrer Unmöglichkeit stürzt.«
5. Die absolute Hingabe im Opfer265Der Lauf der Planeten über das Himmelsgewölbe, der Lauf der Welt und der Zeit schreiben sich ein in das Leben des Menschen, das er als Gabe erhalten hat. Mit der Gewalt eines Rammbocks wird ein geregelter, chronologischer Ablauf durchbrochen und das Geburtsdatum als ereignishafte Gabe gelesen.4 Der Weltwidder steht für die Ereignishaftigkeit des Datums,5 das in der Geburt eines Menschen einen Neuanfang in den Ablauf der eigentlich unabänderlichen Weltgeschehnisse zwängt.Die Intervention des Menschen in dieser gewaltsamunabänderlichen Welt ist auf die Zeichengebung beschränkt. Die Rolle des Menschen ist auf die Tätigkeit der Namensgebung begrenzt, die das lyrische Ich vorführt (»brenn ich dies Bild ein«). Dieses Vergeben von Namen geschieht in einer Art der Brandmarkung, die nicht nur das Schicksal des Menschen ankündigt,6 seine Zerstörbarkeit und Fragilität betont (das Brandmal befindet sich zwischen dem Geweih des Widders, mit dem er die Welt umpflügt), sondern auch auf die Wiederauferstehung nach dem Weltenbrand verweist (wie der Phönix aus der Asche). Diese Brandmarkung macht den entrückterhabenen Weltenlauf nachvollziehbar, emblematisch repräsentiert und symbolisch wiederholbar. In dieser Autopoiesis der Schrift wird die Geheimnishaftigkeit der Welt erfahrbar. Das eingebrannte »Bild«, das die »verkieselte Stirn eines Widders« repräsentiert, macht eine Entschlüsselung der Welt erst möglich: »im Gesang der Win4|Vgl. Derrida, Jacques: Béliers, 64: »Si l’allitération rappelle la violence du sacrifice [...], la charge ou la ruée du bélier peut aussi bien décrire le mouvement de la bête que celle de la poutre de bois, du tronc d’arbre même. Leur course, leur poussée, leur ruée les précipitent, la tête la première, pour attaquer ou se défendre, pour ébranler les dé-fenses de l’adversaire. Il y a la guerre et le bélier, le bélier de chair ou de bois, le bélier sur terre ou dans le ciel s’élance dans une course.«5|Vgl. Derrida, Jacques: Béliers, 58-59: »Le zôdiakôs (de zôdion, diminutif de zôon, l’animal) donne à lire et l’heure (selon la lueur apparente sur le plan de l’écliptique) et la date. Dans la conjonction astrale d’une naissance, l’horoscope montre. Comme son nom l’indique, l’horoscopie donne à voir les heures en annonçant le destin d’une exist-ence. On assiste ainsi au devenir-calendrier d’une voûte céleste dont le tableau figure le fond même du poème. Ellipse d’une interminable médiation sur ce que Heidegger nomma la databilité (Datierbarkeit).«6|Vgl. Heine, Heinrich: Sämtliche Werke. Band I Gedichte, München 1984, 85-86 (Belsazar): »Die Magier kamen, doch keiner verstand/Zu deuten die Flammenschrift an der Wand.« — Die Funktion der Flammenschrift im Gedicht »Belsazar« bei Heine ist nicht nur die warnende Ankündigung des Schicksals, das dem frevelnden König Belsazar bevorsteht, sondern auch die rätselhafte Unzugänglichkeit der Schriftbedeutung, die die Opfer des Königs beschützt: Der König kommt ums Leben, weil er die Schrift nicht dechiffrieren kann, die sein Schicksal ankündigt. Er kann die Schrift nicht dazu heran-ziehen, seinen Tod abzuwenden.
Die vergebliche Gabe266dungen, das Mark der geronnenen Herzmeere schwillt.« Gleichzeitig schreibt sich der Mensch in den Lauf der Welt ein, macht sich im Begriff die Welt auch Untertan, muss dabei aber immer darauf stoßen, dass er schriftgemäß nie im unmittelbaren Vollbesitz der Welt ist, sie immer nur als in der Schrift abwesend verwenden kann. Im gegebenen Namen geschieht aber nicht nicht nur die Einsicht in den Verlust der verbrannten Welt, sondern auch eine schriftlich eigengesetzliche Befreiung des Menschen vor direkter Einflussnahme der Umwelt. In der Brandmarkung geschieht ein kreativer Akt; die Notwendigkeit einer künstlerischen Neuerfindung angesichts der Abwesenheit einer nachahmenswerten Natur: »Die Welt ist fort, ich muß dich tragen.«Diese Aspekte werden im Gedicht in Bezug auf das Opfertier gesehen. Es geschieht eine geheimnisvolle Substitution von Widdergestirn und Brandzeichen, das sowohl auf den Lauf der Gestirne verweist, ihn symbolisch wiederholbar macht, als auch die eigentliche Abwesenheit von menschlicher Beeinflussung einer erhabenen Eigengesetzlichkeit des Weltenlaufs herausstellt.5.1.2 Die Substitution im OpferDie geheimnisvolle Substitution von zeichenhaftem Brandmal und Opfertier bezieht sich auf das biblische Vorbild des Abraham,7 dessen Opfer letztendlich nicht in der Ermordung seines Sohns Isaak besteht, sondern, als er seine Opferbereitschaft bewiesen hat, in der Substitution eines Opfertieres, der Schlachtung eines Widders.8 Abraham erfährt es als paradoxe Gabe Gottes, dass er nicht seinen Sohn opfern muss, der ihm eine Nachkommenschaft, so zahlreich wie die Sterne am Himmel, verheißt (was im Gedicht mit »Schwarzgestirn« angesprochen ist), sondern dass er auf wundersame Weise einen Widder erhält, dessen »verkieselte Stirn« ihn an die Rückbeziehung von Kosmologie, ereignishaftem Datum und Zeichenhaftigkeit erinnern. In der absoluten Hingabe, im Opfer seines Sohnes, erhält er etwas zurück: paradox, eine Gabe, die sich in einem unzugänglichen Geheimnis entrückt.Diese Substitution, die im Opfer geschieht, interessiert Derrida wohl deshalb so sehr, weil sie als eine inhaltliche Reinszenierung einer formalen Substitution gelten kann, die wir unter dem Namen der Supplementierung kennengelernt haben. Im Opfer geschieht der paradoxe Übergang von der Ver7|Vgl. Genesis 22.8|Vgl. Derrida, Jacques: Béliers, 62: »[...] le bélier, ses cornes et la brûlure rappellent et ra-vivent sans doute le moment d’une scène sacrificielle dans le paysage de l’Ancien Testament. Plus d’un holocauste. Substitution du bélier. Brûlure. Ligature d’Isaac [...]. Après avoir dit une deuxième fois ›Me voici‹, lorsque l’ange envoyé par Dieu suspend le couteau levé pour égorger Isaac, Abraham se retourne et voit un bélier pris par les cornes dans la broussaille. Il l’offre en holocauste à la place de son fils.«
Kapitel in diesem Buch
- Frontmatter 1
- Inhalt 7
- Abkürzungsverzeichnis 11
- Aus gegebenem Anlass: Wie wir uns gegenwärtig verstehen 13
- Präliminarien 47
- 1. Jacques Derrida: Die Auffaltung der Paradoxie unter dem Namen: Différance 51
- 2. Verbundenheit sprachlicher und ethischer Paradoxien 117
- 3. Die Gabe 157
- 4. Die Vergebung 231
- 5. Die absolute Hingabe im Opfer 263
- 6. Die aporetische Grenzverschiebung 287
- Literaturverzeichnis 305
Kapitel in diesem Buch
- Frontmatter 1
- Inhalt 7
- Abkürzungsverzeichnis 11
- Aus gegebenem Anlass: Wie wir uns gegenwärtig verstehen 13
- Präliminarien 47
- 1. Jacques Derrida: Die Auffaltung der Paradoxie unter dem Namen: Différance 51
- 2. Verbundenheit sprachlicher und ethischer Paradoxien 117
- 3. Die Gabe 157
- 4. Die Vergebung 231
- 5. Die absolute Hingabe im Opfer 263
- 6. Die aporetische Grenzverschiebung 287
- Literaturverzeichnis 305