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Authentizität als literarischer Effekt: Auf der Suche nach dem echten Shakespeare

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Echte Geschichte
Ein Kapitel aus dem Buch Echte Geschichte
195AUTHENTIZITÄT ALS LITERARISCHER EFFEKT:AUF DER SUCHE NACH DEM ECHTEN SHAKESPEARETHORSTEN LEIENDECKERFrancis Bacon und Christopher Marlowe, der Earl of Derby und der Earl of Oxford, Mary und Philip Sidney, Elisabeth I. und James I. und letzt-endlich William Shakespeare sowie mindestens fünfzig weitere Zeitge-nossen des Englands um 1600 zählen zu den Anwärtern auf die Autor-schaft der Texte des artist formerly known as Shakespeare. Keine andere Debatte der englischen Literaturgeschichte beschäftigt Universitäten und die Öffentlichkeit über einen ähnlich langen Zeitraum und in entspre-chender Intensität wie die Frage nach dem ›tatsächlichen‹ Schöpfer der vermutlich bekanntesten und einflussreichsten Texte der Weltliteratur. Nach den ersten Zweiflern aus dem späten 18. Jahrhundert (die aber bis in die 1920er Jahre eher unbekannt blieben) stieg das Interesse an der Identität Shakespeares in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und verebbte erst wieder, als in den 1960er Jahren vorübergehend der ›Tod des Autors‹ beschlossen wurde. Eine Reihe von Publikationen sowie ein fingierter Schauprozess zur Urheberschaftsfrage in den USA 19871 be-lebten das Interesse erneut, das seither nicht nur den akademischen Dis-kurs, sondern auch öffentliche Medien beschäftigt. Besonders populär wurde die Debatte in den letzten zehn Jahren in Romanen, die das Thema einerseits in eine fiktive Geschichte einbetten, andererseits aber auch ge-zielt Elemente einsetzen, die den Wahrheitsanspruch des Erzählten un-termauern sollen.2 Über (und erst recht nicht von) Shakespeare existieren 1 Bei einer Veranstaltung der amerikanischen Rundfunkanstalt PBS und der University of America/Washington vertraten zwei Rechtswissenschaftler ihre ›Mandanten‹ – in diesem Fall William Shakespeare versus Edward de Vere, Earl of Oxford – vor drei Richtern des Supreme Court. Die Ent-scheidung fiel, wie auch fünf Jahre später bei einem ähnlichen Schaupro-zess, zugunsten Shakespeares aus (vgl. http://www.pbs.org/wgbh/pages/ frontline/shakespeare/debates/mtrial.html; Zugriff 28. August 2009). 2 Neben den später behandelten Werken sind hier exemplarisch Norma Ho-wes Kinderbuch Blue Avenger Cracks the Code (2000), Amy Freeds Thea-terstück The Beard of Avon (2001) und Sarah Smiths Universitätsroman
© 2015 transcript Verlag

195AUTHENTIZITÄT ALS LITERARISCHER EFFEKT:AUF DER SUCHE NACH DEM ECHTEN SHAKESPEARETHORSTEN LEIENDECKERFrancis Bacon und Christopher Marlowe, der Earl of Derby und der Earl of Oxford, Mary und Philip Sidney, Elisabeth I. und James I. und letzt-endlich William Shakespeare sowie mindestens fünfzig weitere Zeitge-nossen des Englands um 1600 zählen zu den Anwärtern auf die Autor-schaft der Texte des artist formerly known as Shakespeare. Keine andere Debatte der englischen Literaturgeschichte beschäftigt Universitäten und die Öffentlichkeit über einen ähnlich langen Zeitraum und in entspre-chender Intensität wie die Frage nach dem ›tatsächlichen‹ Schöpfer der vermutlich bekanntesten und einflussreichsten Texte der Weltliteratur. Nach den ersten Zweiflern aus dem späten 18. Jahrhundert (die aber bis in die 1920er Jahre eher unbekannt blieben) stieg das Interesse an der Identität Shakespeares in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und verebbte erst wieder, als in den 1960er Jahren vorübergehend der ›Tod des Autors‹ beschlossen wurde. Eine Reihe von Publikationen sowie ein fingierter Schauprozess zur Urheberschaftsfrage in den USA 19871 be-lebten das Interesse erneut, das seither nicht nur den akademischen Dis-kurs, sondern auch öffentliche Medien beschäftigt. Besonders populär wurde die Debatte in den letzten zehn Jahren in Romanen, die das Thema einerseits in eine fiktive Geschichte einbetten, andererseits aber auch ge-zielt Elemente einsetzen, die den Wahrheitsanspruch des Erzählten un-termauern sollen.2 Über (und erst recht nicht von) Shakespeare existieren 1 Bei einer Veranstaltung der amerikanischen Rundfunkanstalt PBS und der University of America/Washington vertraten zwei Rechtswissenschaftler ihre ›Mandanten‹ – in diesem Fall William Shakespeare versus Edward de Vere, Earl of Oxford – vor drei Richtern des Supreme Court. Die Ent-scheidung fiel, wie auch fünf Jahre später bei einem ähnlichen Schaupro-zess, zugunsten Shakespeares aus (vgl. http://www.pbs.org/wgbh/pages/ frontline/shakespeare/debates/mtrial.html; Zugriff 28. August 2009). 2 Neben den später behandelten Werken sind hier exemplarisch Norma Ho-wes Kinderbuch Blue Avenger Cracks the Code (2000), Amy Freeds Thea-terstück The Beard of Avon (2001) und Sarah Smiths Universitätsroman
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Kapitel in diesem Buch

  1. Frontmatter 1
  2. Inhalt 7
  3. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen: Annäherungen 11
  4. Babylon & Tutanchamun: Zwei Ausstellungen, Zwei Konzepte 31
  5. »Ich weiss zwar, dass es kein Original sein muss, aber dennoch …«: Fetischistische Grundlagen der Authentizität musealer Objekte 47
  6. Vom Nachstellen zum Nacherleben? Vormoderne Ritualität im Geschichtsunterricht 61
  7. »... authentischer als alle vorherigen«: Zum Umgang mit Ego-Dokumenten in der populären Geschichtskultur 75
  8. Der Fund als Fakt? Zur rolle und Funktion archäologischer Funde in Dokumentarfilmen 93
  9. Reflexive Authentizitätsfiktionen als situierte Geschichtsversionen am Beispiel des Living History-Formats Die Bräuteschule 1958 123
  10. Die ›50er‹ Jahre werden Geschichte: Geschichtskultur und Authentizitätsfiktionen am Beispiel von Was wären wir ohne uns 147
  11. Effekte des Authentischen im Geschichtskrimi 173
  12. Authentizität als literarischer Effekt: Auf der Suche nach dem echten Shakespeare 195
  13. Visuelle Authentizität und Faktentreue im Geschichtsfernsehen: Die Histosoap The Tudors 215
  14. Zirkelschlüsse der Authentizität: Das Erleben von Geschichte im australischen TV-Reenactment Outback House 233
  15. Schweiss, neue Traditionen, ehrwürdige Erzähler: Authentisches Erinnern als symbolisches Kapital 251
  16. Fiktion, die Zeugen schafft: Nachbilder des Verschwindens in der zeitgenössischen argentinischen Literatur 269
  17. Das Echte im Falschen: Die angebliche Rekonstruktion der Kriege im Libanon in den Arbeiten der Atlas Group 287
  18. Autorinnen und Autoren 301
  19. Register 305
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