Startseite Literaturwissenschaften 22 WALTER BENJAMIN: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows (1936)
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22 WALTER BENJAMIN: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows (1936)

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gung eine viel schärfere Abstraktion und Organisierung. Der alte Roman deckte Partialgebiete; er war Bildungs-, war Sozial-, war Seelenroman und zu seinen großen Leistungen ist zu zählen, daß er in diesen Partialgebieten vielfach Vorläufer der Wissenschaft, besonders der psychologischen gewesen ist. Heute, in einer Zeit ausgesprochener Radikalität, gibt es keine belletristische Pseudo-wissenschaftlichkeit mehr, und die vom Roman vermittelten Er-kenntnisse dieser Art sind bestenfalls popularisierende Plati-tüden. Dagegen vermag die Wissenschaft keine Totalitäten zu liefern, vielmehr muß sie eben das der Kunst, also auch dem Roman überlassen. Die Totalitätsforderung an die Kunst hat hiedurch eine früher ungeahnte Radikalität gewonnen, und um ihr zu genügen, benötigt der Roman eine Vielschichtigkeit, zu deren Etablierung die alte naturalistische Technik sicherlich nicht ausreicht: der Mensch in seiner Ganzheit soll dargestellt werden, die ganze Skala seiner Erlebnismöglichkeiten, angefangen von den physischen und gefühlsmäßigen bis hinauf zu den morali-schen und metaphysischen, und damit wird unmittelbar ans Lyri-sche appelliert, da nur dieses die hiefür nötige Prägnanz aufzu-bringen imstande ist. Und dies ist auch einer der Gründe, die hier zur Einschaltung der lyrischen „Stimmen" geführt haben, um so mehr als Novellen an sich keine Lebenstotalitäten, sondern Situationstotalitäten geben, sich auch nicht durch Addition dar-in ändern, wohl aber ihren weiteren Sinn zu enthüllen ver-mögen, wenn sie in ein rein lyrisches Medium, dem solche Sinn-gebung aufgetragen wird, eingebettet werden, wie dies eben hier geschehen ist. Soferne das geglückt ist, darf die damit erzielte Totalitätsdarstellung wohl als Roman bezeichnet werden. [...] 22 WALTER BENJAMIN: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows (1936) [...] Das früheste Anzeichen eines Prozesses, an dessen Abschluß der Niedergang der Erzählung steht, ist das Aufkommen des Romans zu Beginn der Neuzeit. Was den Roman von der Er-zählung (und vom Epischen im engeren Sinne) trennt, ist sein wesentliches Angewiesensein auf das Buch. Die Ausbreitung des Romans wird erst mit Erfindung der Buchdruckerkunst möglich. 60

gung eine viel schärfere Abstraktion und Organisierung. Der alte Roman deckte Partialgebiete; er war Bildungs-, war Sozial-, war Seelenroman und zu seinen großen Leistungen ist zu zählen, daß er in diesen Partialgebieten vielfach Vorläufer der Wissenschaft, besonders der psychologischen gewesen ist. Heute, in einer Zeit ausgesprochener Radikalität, gibt es keine belletristische Pseudo-wissenschaftlichkeit mehr, und die vom Roman vermittelten Er-kenntnisse dieser Art sind bestenfalls popularisierende Plati-tüden. Dagegen vermag die Wissenschaft keine Totalitäten zu liefern, vielmehr muß sie eben das der Kunst, also auch dem Roman überlassen. Die Totalitätsforderung an die Kunst hat hiedurch eine früher ungeahnte Radikalität gewonnen, und um ihr zu genügen, benötigt der Roman eine Vielschichtigkeit, zu deren Etablierung die alte naturalistische Technik sicherlich nicht ausreicht: der Mensch in seiner Ganzheit soll dargestellt werden, die ganze Skala seiner Erlebnismöglichkeiten, angefangen von den physischen und gefühlsmäßigen bis hinauf zu den morali-schen und metaphysischen, und damit wird unmittelbar ans Lyri-sche appelliert, da nur dieses die hiefür nötige Prägnanz aufzu-bringen imstande ist. Und dies ist auch einer der Gründe, die hier zur Einschaltung der lyrischen „Stimmen" geführt haben, um so mehr als Novellen an sich keine Lebenstotalitäten, sondern Situationstotalitäten geben, sich auch nicht durch Addition dar-in ändern, wohl aber ihren weiteren Sinn zu enthüllen ver-mögen, wenn sie in ein rein lyrisches Medium, dem solche Sinn-gebung aufgetragen wird, eingebettet werden, wie dies eben hier geschehen ist. Soferne das geglückt ist, darf die damit erzielte Totalitätsdarstellung wohl als Roman bezeichnet werden. [...] 22 WALTER BENJAMIN: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows (1936) [...] Das früheste Anzeichen eines Prozesses, an dessen Abschluß der Niedergang der Erzählung steht, ist das Aufkommen des Romans zu Beginn der Neuzeit. Was den Roman von der Er-zählung (und vom Epischen im engeren Sinne) trennt, ist sein wesentliches Angewiesensein auf das Buch. Die Ausbreitung des Romans wird erst mit Erfindung der Buchdruckerkunst möglich. 60

Kapitel in diesem Buch

  1. Frontmatter I
  2. INHALTSVERZEICHNIS V
  3. 1 THOMAS MANN: Versuch über das Theater (1908) 1
  4. 2 THOMAS MANN : Der autobiographische Roman (1916) 3
  5. 3 THOMAS MANN: Einführung in den „Zauberberg“ (1939) 5
  6. 4 THOMAS MANN: Die Kunst des Romans (1939) 7
  7. 5 CARL EINSTEIN: Anmerkungen über den Roman (1912) 12
  8. 6 GEORG LUKÁCS: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1916) 15
  9. 7 ALFRED DÖBLIN: Bemerkungen zum Roman (1917) 20
  10. 8 ALFRED DÖBLIN : Der Bau des epischen Werkes (1929) 23
  11. 9 ALFRED DÖBLIN: Der historische Roman und wir (1936) 31
  12. 10 OTTO FLAKE: Vorwort zu „Die Stadt des Hirns“ (1919) 34
  13. 11 ROBERT MUSIL: Interview mit Oskar Maurus Fontana: Was arbeiten Sie? (1926) 36
  14. 12 ROBERT MUSIL: Manas (Alfred Döblin: Manas. Epische Dichtung) (1927) 40
  15. 13 ROBERT MUSIL: Der Mann ohne Eigenschaften (1930) 42
  16. 14 ROBERT MUSIL: Aus einem Notizbuch (1932) 43
  17. 15 Robert Musil: Aufzeichnungen zur Krisis des Romans (ca. 1930-1932) 44
  18. 16 JAKOB WASSERMANN: Über „Publikumserfolg“ (1928) 46
  19. 17 HERMANN BROCH : Brief an Daniel Brody vom 5.8.1931 48
  20. 18 HERMANN BROCH: James Joyce und die Gegenwart (1932) 49
  21. 19 HERMANN BROCH: Das Weltbild des Romans (1933) 55
  22. 20 HERMANN BROCH: Bemerkungen zum „Tod des Vergil“ (ca. 1945) 57
  23. 2 1 HERMANN BROCH: Entstehungsbericht der „Schuldlosen“ (1950) 59
  24. 22 WALTER BENJAMIN: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows (1936) 60
  25. 23 BERTOLT BRECHT: Über den formalistischen Charakter der Realismustheorie (ca. 1938) 65
  26. 24 BERTOLT BRECHT: Übergang vom bürgerlichen zum sozialistischen Realismus (ca. 1940) 66
  27. 25 GOTTFRIED BENN: Brief an Friedrich Wilhelm Oelze vom 3.5.1944 68
  28. 26 GOTTFRIED BENN: Doppelleben (1950) 69
  29. 27 HEINRICH MANN : Ein Zeitalter wird besichtigt (1947) 70
  30. 28 FRANK THIESS: Zum Gestaltwandel des Romans (1950) 71
  31. 29 ERICH KAHLER: Untergang und Übergang der epischen Kunstform (1953) 73
  32. 30 THEODOR W. ADORNO : Form und Gehalt des zeitgenössischen Romans (1954) 77
  33. 31 ARNOLD ZWEIG: Der Roman lebt (1955) 81
  34. 32 HEIMITO VON DODERER: Grundlagen und Funktion des Romans (1958) 83
  35. 33 ERNST KREUDER: Das Unbeantwortbare. Die Aufgaben des modernen Romans (1959) 91
  36. 34 HERBERT EISENREICH: Roman und Zeitgeist (1959) 93
  37. 35 HERBERT EISENREICH: Der Roman. Keine Rede von der Krise (1961) 96
  38. 36 HEINRICH BÖLL : Über den Roman (1960) 98
  39. 37 ALFRED ANDERSCH: Interview mit Horst Bienek (1962) 100
  40. 38 JÜRGEN BECKER : Gegen die Erhaltung des literarischen status quo (1964) 103
  41. 39 ALBERT PARIS GÜTERSLOH: Der innere Erdteil. Aus den „Wörterbüchern“ (1966) 108
  42. 40 REINHARD BAUMGART: Aussichten des Romans oder Hat Literatur Zukunft? Frankfurter Vorlesungen (1968) 111
  43. 41 WOLFGANG HILDESHEIMER: Frankfurter Vorlesungen (1969) 116
  44. 42 HELMUT HEISSENBÜTTEL: Briefe an Heinrich Vormweg (1969) 119
  45. 43 DIETER WELLERSHOFF: Fiktion und Praxis (1969) 122
  46. NACHWORT 125
  47. QUELLENVERZEICHNIS 131
  48. LITERATURHIΝWEISE 135
  49. ZUR NEUAUFLAGE 143
  50. REGISTER 147
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