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5. Anthropologiebasierte Transformierung. Selbstaufklärung im literarischen Vorurteilsdiskurs

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Vorurteil - Anthropologie - Literatur
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2135 Anthropologiebasierte Transformierung. Selbstaufklärung im literarischen Vorurteilsdiskurs Rehabilitierende Formen des Vorurteilsdiskurses erkennen die spezifische Proble-matik der Normativität des Vorurteilsdiskurses, doch vermögen sie diese noch nicht zu lösen. Angesichts der Unzulänglichkeit der Formationsregeln des Diskur-ses greifen sie zwar auf das interdiskursive anthropologische Reservoir zurück, legen aber überwiegend logisch-konzeptionelle Zugänge zugrunde. In einer ersten Variante führen Sozialisierung und prospektive Historisierung dazu, daß der politi-sche Interdiskurs als externe Norm herangezogen wird. Sozialpragmatische Reha-bilitierungsformen – die zweite Variante – vertrauen auf eine soziologische Ab-grenzung der Adressaten des Vorurteilsdiskurses, um innerhalb eines umgrenzten Raumes eine Normierung durchzusetzen. Steht in der dritten Variante eine sensua-listische Vorurteilsrehabilitierung im Vordergrund, die das Vorurteil mit der Ak-zeptanz oder Geltendmachung der unteren, dunklen Erkenntniskräfte aufwertet, verstärkt sich das Problem des Maßstabs und der Mittel des Vorurteilsdiskurses: Wie kann über eine zum Individualismus tendierende Sensualisierung aufkläreri-sche Progression erzeugt werden? Die anthropologiebasierte Rehabilitierung des Vorurteils resultiert nicht aus der Furcht der Aufklärung vor der Wahrheit. Sie ist kein Rückfall in die Mythologie, sondern sie erprobt Alternativen zum einseitigen Rationalismus, weil sie um dessen Defizite weiß.1 Rehabilitierend-restitutive Verwendungsformen des Vorurteils erweisen sich in dreifacher Weise als limitiert. Sie rezipieren zum ersten nur ein eingeschränktes Reservoir anthropologiebasierter Argumentationsfiguren, da sie sich überwiegend noch im Rahmen des philosophisch-definitorischen Diskurses bewegen. Die ratio-nale Wahrheitskontrolle wird nicht aufgegeben. Zweitens: Zusehends wird als (ungelöstes) Problem sichtbar, wie ein solcher Vorurteilsdiskurs einen Beitrag zur Dynamik der Aufklärung noch zu leisten imstande sein könnte: Wie ist Aufklärung möglich, wenn die Kritik der Vorurteile für unmöglich oder unnötig erklärt wird?2Drittens: Die neue Komplexität des Vorurteilsdiskurses läßt den Bezug zur in der Popularphilosophie der Spätaufklärung intendierten Praxis brüchig werden. Der Vorurteilsdiskurs fluktuiert zwischen dem Normbedürfnis der praktischen Vorur-teilskritik und der rezeptionsbezogenen Wirksamkeit der neuen anthropologieba-1 Vgl. dagegen Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophi-sche Fragmente. Frankfurt/M. 1998, S. 3f. 2 Die Argumente der Rehabilitierung werden auch in Frankreich zu Kernen politischer Thesen, doch reichen sie über die anti-philosophische und gegenrevolutionäre Debatte hinaus. Vgl. Delon: Réhabilitation des préjugés, S. 152f., auch ders.: Les Lumières et la dialectique du pré-jugé. L’exemple de Mme de Staël, in: Ruth Amossy / ders. (Hg.): Critique et légitimité du pré-jugé (XVIIIe–XXe siècle). Bruxelles 1999, 65–72.

2135 Anthropologiebasierte Transformierung. Selbstaufklärung im literarischen Vorurteilsdiskurs Rehabilitierende Formen des Vorurteilsdiskurses erkennen die spezifische Proble-matik der Normativität des Vorurteilsdiskurses, doch vermögen sie diese noch nicht zu lösen. Angesichts der Unzulänglichkeit der Formationsregeln des Diskur-ses greifen sie zwar auf das interdiskursive anthropologische Reservoir zurück, legen aber überwiegend logisch-konzeptionelle Zugänge zugrunde. In einer ersten Variante führen Sozialisierung und prospektive Historisierung dazu, daß der politi-sche Interdiskurs als externe Norm herangezogen wird. Sozialpragmatische Reha-bilitierungsformen – die zweite Variante – vertrauen auf eine soziologische Ab-grenzung der Adressaten des Vorurteilsdiskurses, um innerhalb eines umgrenzten Raumes eine Normierung durchzusetzen. Steht in der dritten Variante eine sensua-listische Vorurteilsrehabilitierung im Vordergrund, die das Vorurteil mit der Ak-zeptanz oder Geltendmachung der unteren, dunklen Erkenntniskräfte aufwertet, verstärkt sich das Problem des Maßstabs und der Mittel des Vorurteilsdiskurses: Wie kann über eine zum Individualismus tendierende Sensualisierung aufkläreri-sche Progression erzeugt werden? Die anthropologiebasierte Rehabilitierung des Vorurteils resultiert nicht aus der Furcht der Aufklärung vor der Wahrheit. Sie ist kein Rückfall in die Mythologie, sondern sie erprobt Alternativen zum einseitigen Rationalismus, weil sie um dessen Defizite weiß.1 Rehabilitierend-restitutive Verwendungsformen des Vorurteils erweisen sich in dreifacher Weise als limitiert. Sie rezipieren zum ersten nur ein eingeschränktes Reservoir anthropologiebasierter Argumentationsfiguren, da sie sich überwiegend noch im Rahmen des philosophisch-definitorischen Diskurses bewegen. Die ratio-nale Wahrheitskontrolle wird nicht aufgegeben. Zweitens: Zusehends wird als (ungelöstes) Problem sichtbar, wie ein solcher Vorurteilsdiskurs einen Beitrag zur Dynamik der Aufklärung noch zu leisten imstande sein könnte: Wie ist Aufklärung möglich, wenn die Kritik der Vorurteile für unmöglich oder unnötig erklärt wird?2Drittens: Die neue Komplexität des Vorurteilsdiskurses läßt den Bezug zur in der Popularphilosophie der Spätaufklärung intendierten Praxis brüchig werden. Der Vorurteilsdiskurs fluktuiert zwischen dem Normbedürfnis der praktischen Vorur-teilskritik und der rezeptionsbezogenen Wirksamkeit der neuen anthropologieba-1 Vgl. dagegen Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophi-sche Fragmente. Frankfurt/M. 1998, S. 3f. 2 Die Argumente der Rehabilitierung werden auch in Frankreich zu Kernen politischer Thesen, doch reichen sie über die anti-philosophische und gegenrevolutionäre Debatte hinaus. Vgl. Delon: Réhabilitation des préjugés, S. 152f., auch ders.: Les Lumières et la dialectique du pré-jugé. L’exemple de Mme de Staël, in: Ruth Amossy / ders. (Hg.): Critique et légitimité du pré-jugé (XVIIIe–XXe siècle). Bruxelles 1999, 65–72.
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