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Szenische Interpretation von Dramentexten

Ingo SCHELLER (Oldenburg) Szenische Interpretation von Dramentexten In Alexander Kluges Film „Die Macht der Gefühle" interviewt die Reporte-rin Pichota den Kammersänger B. nach der 84. Aufführung einer Oper: Frau Pichota: „Herr Kammersänger, Sie sind berühmt für den leidenschaftli-chen Ausdruck im ersten Akt. Man hat geschrieben, daß ein Funke der Hoff-nung in Ihrem Gesicht stünde. Wie bringen Sie es fertig, wenn Sie als vernünftiger Mensch den gräßlichen Ausgang im fünften Akt doch kennen?" Kammersänger: „Das weiß ich im ersten Akt noch nicht." Frau Pichota: „Vom letztenmal her, Sie spielen das Stück zum 84.mal?" Kammersänger: „Ja, es ist ein sehr erfolgreiches Stück." Frau Pichota: „Da müßten Sie den schrecklichen Ausgang doch allmählich kennen!" Kammersänger: „Kenne ich auch. Aber nicht im ersten Akt." Frau Pichota: „Aber Sie sind doch nicht dumm!" Kammersänger: „Die Bezeichnung würde ich mir auch verbitten." (Kluge 1984, S. 77 ff.) Wenn ich mir die literaturwissenschaftliche und didaktische Literatur zur Drameninterpretation ansehe, aber auch, wenn ich beobachte, wie Lehrer im Unterricht mit Dramen umgehen, dann habe ich häufig den Eindruck, daß Leute, die professionell mit Literatur umgehen, vernünftige, historisch und literaturwissenschaftlich gebildete Menschen sind, die - wie die Repor-terin Pichota - Schwierigkeiten haben, den „Funken der Hoffnung im Gesicht" einer Figur im ersten Akt zu sehen, weil sie den gräßlichen Ausgang im 5. Akt, aber auch Leben und Werk des Autors und sozial-und kulturgeschichtliche Voraussetzungen des Geschehens so gut kennen. Dieses Wissen grenzt den Handlungsspielraum der Figuren ein, legt sie quasi an die Kandarre der aufgeklärten Wahrnehmungs- und Deutungslogik (die meist die der bürgerlichen Biografie ist), steht in der Gefahr, das Hier und Jetzt des Geschehens und der Dramenfiguren, ihre Gefühle, Wünsche und Phantasien, ihre bewußten und halbbewußten Haltungen und Hand-lungsweisen auszublenden. Daß es dem Kammersänger noch in der 84. Vorstellung gelingt, den Funken der Hoffnung im 1. Akt zu zeigen, hängt damit zusammen, daß er in der Lage ist, sich bei jeder Aufführung von neuem so in das Hier und Jetzt der Dramenfigur einzufühlen, daß er dabei Teile von sich selbst -sinnliche Vorstellungen, Erlebnisse, Wünsche und Gefühle - aktiviert und sein Handeln so gegenwärtig und real erlebt, daß sich das Gefühl der Hoffnung jedesmal wieder aufs neue einstellt. Diese Fähigkeit zur Einfüh-lung, die nur wenige Schauspieler wirklich beherrschen viele greifen zu konventionalisierten Haltungen und Posen, von denen sie glauben, daß sie Gefühle darstellen -, hat der Schauspieler und Regisseur Stanislawski zu
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

Ingo SCHELLER (Oldenburg) Szenische Interpretation von Dramentexten In Alexander Kluges Film „Die Macht der Gefühle" interviewt die Reporte-rin Pichota den Kammersänger B. nach der 84. Aufführung einer Oper: Frau Pichota: „Herr Kammersänger, Sie sind berühmt für den leidenschaftli-chen Ausdruck im ersten Akt. Man hat geschrieben, daß ein Funke der Hoff-nung in Ihrem Gesicht stünde. Wie bringen Sie es fertig, wenn Sie als vernünftiger Mensch den gräßlichen Ausgang im fünften Akt doch kennen?" Kammersänger: „Das weiß ich im ersten Akt noch nicht." Frau Pichota: „Vom letztenmal her, Sie spielen das Stück zum 84.mal?" Kammersänger: „Ja, es ist ein sehr erfolgreiches Stück." Frau Pichota: „Da müßten Sie den schrecklichen Ausgang doch allmählich kennen!" Kammersänger: „Kenne ich auch. Aber nicht im ersten Akt." Frau Pichota: „Aber Sie sind doch nicht dumm!" Kammersänger: „Die Bezeichnung würde ich mir auch verbitten." (Kluge 1984, S. 77 ff.) Wenn ich mir die literaturwissenschaftliche und didaktische Literatur zur Drameninterpretation ansehe, aber auch, wenn ich beobachte, wie Lehrer im Unterricht mit Dramen umgehen, dann habe ich häufig den Eindruck, daß Leute, die professionell mit Literatur umgehen, vernünftige, historisch und literaturwissenschaftlich gebildete Menschen sind, die - wie die Repor-terin Pichota - Schwierigkeiten haben, den „Funken der Hoffnung im Gesicht" einer Figur im ersten Akt zu sehen, weil sie den gräßlichen Ausgang im 5. Akt, aber auch Leben und Werk des Autors und sozial-und kulturgeschichtliche Voraussetzungen des Geschehens so gut kennen. Dieses Wissen grenzt den Handlungsspielraum der Figuren ein, legt sie quasi an die Kandarre der aufgeklärten Wahrnehmungs- und Deutungslogik (die meist die der bürgerlichen Biografie ist), steht in der Gefahr, das Hier und Jetzt des Geschehens und der Dramenfiguren, ihre Gefühle, Wünsche und Phantasien, ihre bewußten und halbbewußten Haltungen und Hand-lungsweisen auszublenden. Daß es dem Kammersänger noch in der 84. Vorstellung gelingt, den Funken der Hoffnung im 1. Akt zu zeigen, hängt damit zusammen, daß er in der Lage ist, sich bei jeder Aufführung von neuem so in das Hier und Jetzt der Dramenfigur einzufühlen, daß er dabei Teile von sich selbst -sinnliche Vorstellungen, Erlebnisse, Wünsche und Gefühle - aktiviert und sein Handeln so gegenwärtig und real erlebt, daß sich das Gefühl der Hoffnung jedesmal wieder aufs neue einstellt. Diese Fähigkeit zur Einfüh-lung, die nur wenige Schauspieler wirklich beherrschen viele greifen zu konventionalisierten Haltungen und Posen, von denen sie glauben, daß sie Gefühle darstellen -, hat der Schauspieler und Regisseur Stanislawski zu
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

Kapitel in diesem Buch

  1. Frontmatter I
  2. Vorwort V
  3. Inhaltsverzeichnis VII
  4. Die Geisteswissenschaften in der Hochschulpolitik des letzten Jahrzehnts 1
  5. Vorträge der Sektionen „Germanistische Sprachwissenschaft“. Sektion A
  6. Sektion A I: Lexikologie und Lexikographie
  7. Lexikologie und Wortgeschichte 27
  8. Deutsche Wörterbücher - ihre Geschichte und Zukunft 44
  9. Methodologische Prinzipien der Bedeutungsermittlung und Bedeutungsbeschreibung 55
  10. Einige Anmerkungen zur heutigen Lexikographie 63
  11. Zum Verhältnis von germanistischer Lexikologie und Lexikographie 69
  12. Zur Typologisierung der zweisprachigen Wörterbücher 74
  13. Sektion A II: Sprachgeschichte
  14. Sprache und Politik im 19./20. Jh. 80
  15. Gruppensprache und Sprachgeschichte 91
  16. Zur Entwicklung der Prosasyntax im 15. und 16. Jahrhundert 107
  17. Wortfamilienforschung als Grundlage einer Bedeutungsgeschichte des deutschen Wortschatzes 116
  18. Johann Christoph Adelungs und Jacob Grimms Auffassungen von Sprachentstehung und Sprachentwicklung 124
  19. Wortfamilien im Althochdeutschen 134
  20. Der sog. modale Infinitiv im Lichte der historischen Wortbildungslehre 154
  21. Was bedeutet das deutsche Präterium? 173
  22. Sektion A III: Ortssprachen, Stadtsprachen, Regionalsprachen
  23. Ortssprachen-Analysen, Prinzipien und Probleme 183
  24. Kommunikation in der Stadt. Bericht aus einem Projekt 193
  25. Gesprochene Sprache im Ruhrgebiet 204
  26. Substandard als Regionalsprache 211
  27. Sektion A IV: Sprachkritik und Sprachbewertung
  28. Zur Einführung 219
  29. Sprache und Politik 222
  30. Die Rückkehr der Mythen in die Sprache der Politik 231
  31. Herrschaft durch Sprache durch Herrschaft über Begriffe 245
  32. Chancen der Sprachkritik 253
  33. Was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen 264
  34. „Niederländer, blickt nach dem Osten!“ Die „Nederlandsche Oost-Compagnie“ in der NS-Sprachpolitik 278
  35. Zur normierenden Rolle der Linguistik 319
  36. Vom Juristen-Deutsch 325
  37. Schriftlichkeit und Mündlichkeit – Vereinheitlichung und Verständlichkeit 346
  38. Glaubwürdigkeit 366
  39. Argumentation in politisch-parlamentarischer Debatte 380
  40. Vorträge der Sektionen „Didaktik der deutschen Sprache und Literatur". Sektion D
  41. Sektion D I: Literaturdidaktik
  42. Historisches Wissen oder produktive Vernunft 409
  43. Historisches Wissen oder produktive Vernunft 418
  44. Nachspielen oder nachdenken 434
  45. Szenische Interpretation von Dramentexten 442
  46. Sektion D II: Sprachdidaktik
  47. Die Funktion der Linguistik für die Ausbildung von Deutschlehrern 454
  48. Thesen zum Verhältnis zwischen Sprachlernen, Sprachdidaktik und Schriftkultur 470
  49. Schriftspracherwerb und Schriftsprachlichkeit 487
  50. Zum Verhältnis von Deutschdidaktik und Bildungssoziologie am Beispiel der kommunikativen (Aufsatz-)Didaktik 497
  51. Didaktik der deutschen Sprache und Literatur 512
  52. Die kanonischen deutschen Adhortative im Auslandsdeutschunterricht 518
  53. Sektion D III: Mediendidaktik
  54. Ergebnisse der Medienforschung in ihrer Bedeutung für den Deutschunterricht 535
  55. Der jugendliche Leser im Kontext der Medien 552
  56. ,Vertrauenswürdigkeit‘ als dominante Textstruktur in politischen Medientexten 562
  57. Jugendfilm und produktive Filmanalyse 588
  58. Theaterkritiken als mediendidaktische Informationsgrundlage 604
  59. Sektion D IV: Praxis des Deutschunterrichts
  60. Das Wissen der Deutschlehrer, das Wissen der Deutschdidaktiker und das Wissen der Bildungspolitiker 615
  61. Alfred Schütz und seine Bedeutung für die Deutschdidaktik 633
  62. Sprachspiele und die didaktische Modellierung von Wissensstrukturen 658
  63. Wissenschaftsorientiertes Lernen im Sprachunterricht 668
Heruntergeladen am 14.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/9783110861501-036/html?lang=de&srsltid=AfmBOorhLMIfi-WHh97vh99SEsp25lmog-phTdPzNPZdxiHzVnSKFl2w
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