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4 Intermundien der revolutionierten Welt. Büchners Dantonʼs Tod

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Theorie des Revolutionsdramas
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https://doi.org/10.1515/9783110771756-005Intermundien der revolutionierten Welt. Büchners Dantonʼs Tod .Satzzeichen/Geschichtszeichen ..Interpunktionen revolutionärer Phraseologie Georg Büchner macht hinter der Revolution einen Punkt. Während der Autor seine eigenen Revolutionsbestrebungen niemals widerrufen hat und das Ver-hältnis seiner politischen Agitation zu seinem Werk bis heute als offene Frage gelten kann, so ist sich die Forschung auffällig einig darin, dass Büchners Dan-tonʼs Tod als Aufkündigung politischer, historischer wie ästhetischer Modelle der klassisch-romantischen Tradition zu lesen ist. So wird der romantische To-pos einer Identifikation von Volks- und Mutterliebe, der Büchner in seiner Kor-respondenz noch als Folie seiner Autorgenese dient, im Drama als individuelle Liebestodphantasie desavouiert und gezeigt, dass ein genuiner Begriff des Volks gerade im Entzug seiner revolutionären Fürsprecher und politischen Re-präsentanten Konturen gewinnt.1 Analog zu diesem politischem Antagonismus zwischen Revolution und Volk wird der ästhetische Bruch mit der klassischen Geschichtstragödie und ihrem Ideal eines lebendigen Werkorganismus situiert. Anstatt das historische Quellenmaterial dem Postulat ästhetischer Totalität zu unterwerfen, um dem Publikum eine Identifizierung mit der Vergangenheit in fiktiver Präsenz zu ermöglichen, präsentiert Dantonʼs Tod seine Figuren als entfremdete Zuschauer ihrer selbst und vollzieht mit der Exponierung der Be-obachterposition einen guillotinenartigen Schnitt durch den klassischen Büh-nenkörper.2 Diese Versehrung ist nicht nur für den Bühnenkörper, sondern gleichermaßen für den Textkorpus in Anschlag gebracht worden. Die offen zur Schau gestellte Zitathaftigkeit der Sprache widerruft das Ideal eines authenti-schen Sprachkunstwerks und indem die Figuren ihre Parolen als Wiederholung historischer Sentenzen und Phrasen ausweisen, zeigt das Drama konträr zum Pathos eines revolutionären Neuanfangs, dass sich die Optionen der Geschichte insgesamt erschöpft haben und das Stück mithin als frühes Zeugnis des posthis-66 1 Vgl. Clemens Pornschlegel, Das Drama des Souffleurs. Zur Dekonstitution des Volks in den Texten Georg Büchners. In: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissen-schaft, hg. von Gerhard Neumann, Stuttgart, Weimar 1997, S. 557–574, hier: S. 563. 2 Vgl. Helmut J. Schneider, Tragödie und Guillotine. „Dantons Tod“: Büchners Schnitt durch den klassischen Bühnenkörper. In: Die deutsche Tragödie. Neue Lektüren einer Gattung im europäischen Kontext, hg. von Volker C. Dörr und Helmut J. Schneider, Bielefeld, S. 127–155.
© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

https://doi.org/10.1515/9783110771756-005Intermundien der revolutionierten Welt. Büchners Dantonʼs Tod .Satzzeichen/Geschichtszeichen ..Interpunktionen revolutionärer Phraseologie Georg Büchner macht hinter der Revolution einen Punkt. Während der Autor seine eigenen Revolutionsbestrebungen niemals widerrufen hat und das Ver-hältnis seiner politischen Agitation zu seinem Werk bis heute als offene Frage gelten kann, so ist sich die Forschung auffällig einig darin, dass Büchners Dan-tonʼs Tod als Aufkündigung politischer, historischer wie ästhetischer Modelle der klassisch-romantischen Tradition zu lesen ist. So wird der romantische To-pos einer Identifikation von Volks- und Mutterliebe, der Büchner in seiner Kor-respondenz noch als Folie seiner Autorgenese dient, im Drama als individuelle Liebestodphantasie desavouiert und gezeigt, dass ein genuiner Begriff des Volks gerade im Entzug seiner revolutionären Fürsprecher und politischen Re-präsentanten Konturen gewinnt.1 Analog zu diesem politischem Antagonismus zwischen Revolution und Volk wird der ästhetische Bruch mit der klassischen Geschichtstragödie und ihrem Ideal eines lebendigen Werkorganismus situiert. Anstatt das historische Quellenmaterial dem Postulat ästhetischer Totalität zu unterwerfen, um dem Publikum eine Identifizierung mit der Vergangenheit in fiktiver Präsenz zu ermöglichen, präsentiert Dantonʼs Tod seine Figuren als entfremdete Zuschauer ihrer selbst und vollzieht mit der Exponierung der Be-obachterposition einen guillotinenartigen Schnitt durch den klassischen Büh-nenkörper.2 Diese Versehrung ist nicht nur für den Bühnenkörper, sondern gleichermaßen für den Textkorpus in Anschlag gebracht worden. Die offen zur Schau gestellte Zitathaftigkeit der Sprache widerruft das Ideal eines authenti-schen Sprachkunstwerks und indem die Figuren ihre Parolen als Wiederholung historischer Sentenzen und Phrasen ausweisen, zeigt das Drama konträr zum Pathos eines revolutionären Neuanfangs, dass sich die Optionen der Geschichte insgesamt erschöpft haben und das Stück mithin als frühes Zeugnis des posthis-66 1 Vgl. Clemens Pornschlegel, Das Drama des Souffleurs. Zur Dekonstitution des Volks in den Texten Georg Büchners. In: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissen-schaft, hg. von Gerhard Neumann, Stuttgart, Weimar 1997, S. 557–574, hier: S. 563. 2 Vgl. Helmut J. Schneider, Tragödie und Guillotine. „Dantons Tod“: Büchners Schnitt durch den klassischen Bühnenkörper. In: Die deutsche Tragödie. Neue Lektüren einer Gattung im europäischen Kontext, hg. von Volker C. Dörr und Helmut J. Schneider, Bielefeld, S. 127–155.
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