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Liebe und Ökonomie im deutschen und französischen Realismus. Abschied von der Romantik?

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Ingo MeyerLiebe und Ökonomie im deutschenund französischen Realismus.Abschied von der Romantik?Liebestheorien sind seit einiger Zeit en vogue,1Fragen nach der Zukunft des(Neo-)Liberalismus und Kapitalismus ohnehin, wie bereits ein Blick auf die Neu-erscheinungen des Suhrkamp-Programms der letzten Jahre zeigt. Das könntemich kalt lassen, kennte ich mich als Literaturwissenschaftler nicht mit dem Rea-lismus, der Gattungen wie etwa den Desillusionsroman und die Resignationsno-velle gepflegt hat, als Nebenfachsoziologe hingegen mit Georg Simmel, dessenberühmtestes Buch bekanntlichPhilosophie des Geldesheißt, am wenigstenschlecht aus. Der Simmel-Exegese zurzeit aber einigermaßen überdrüssig, wendeich mich tiefer zurück ins 19. Jahrhundert und frage nach dem, so viel sei vor-weggenommen, intrikaten Übergang von romantischen Vorstellungen über dieLiebe hin zu einer härteren, doch soziologisch sensibleren Präsentation des vor-nehmsten literarischen Themas überhaupt im französischen und deutschen Rea-lismus unter Bedingungen eines sich als kapitalistisch ausdifferenzierendenWirtschaftssystems. Überraschend dabei ist im Vorfeld, dass die Romantik, derenLiebessemantik nach 200 Jahren auch heute noch wesentlich in Kraft ist, wenigSchwierigkeiten mit der Ökonomie bzw. dem Geld hat,2sehr wohl aber der Realis-mus.3Die Einsicht, dass Liebe und Ökonomie, das sehr Konkrete, ja Individuellepar excellence und derkalteBereich der Wirtschaft keineswegs oppositionelleSeinssphärensind, fällt dem deutschen Realismus (Storm, Freytag, Fontane),dessen Autoren beinahe durchweg demBildungsbürgertum entstammen,4nichtSiehe nur Barbara Kuchler, Stefan Beher (Hg.): Soziologie der Liebe. Romantische Beziehun-gen in theoretischer Perspektive. Berlin 2014.Ingo Meyer: Aus der Romantik-Forschung. Romantik international und kontrovers, Schleier-machers späte Ästhetik (Teil II). In: Philosophische Rundschau 66 (2019), S. 223270, hierS. 224226, 258259.Pionierstudien zum weiteren thematischen Komplex bei Jochen Hörisch: Gott, Geld undGlück. Zur Logik der Liebe. Frankfurt a. M. 1983; Ders.: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes.Frankfurt a. M. 1996.Zu dieser europäischen Spezialität akademisch gebildeterGeneralisten, die reputativhöher standen als das nicht selten von ihnen verachtete Besitzbürgertum ausführlich Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von derDeutschen Doppelrevolutionbis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 18491914. München 1995, S. 125130, 730750. DieAusnahme ist Fontane, der seine Bildung aus Tageszeitungen und dem Brockhaus bezog,https://doi.org/10.1515/9783110740806-010
© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Ingo MeyerLiebe und Ökonomie im deutschenund französischen Realismus.Abschied von der Romantik?Liebestheorien sind seit einiger Zeit en vogue,1Fragen nach der Zukunft des(Neo-)Liberalismus und Kapitalismus ohnehin, wie bereits ein Blick auf die Neu-erscheinungen des Suhrkamp-Programms der letzten Jahre zeigt. Das könntemich kalt lassen, kennte ich mich als Literaturwissenschaftler nicht mit dem Rea-lismus, der Gattungen wie etwa den Desillusionsroman und die Resignationsno-velle gepflegt hat, als Nebenfachsoziologe hingegen mit Georg Simmel, dessenberühmtestes Buch bekanntlichPhilosophie des Geldesheißt, am wenigstenschlecht aus. Der Simmel-Exegese zurzeit aber einigermaßen überdrüssig, wendeich mich tiefer zurück ins 19. Jahrhundert und frage nach dem, so viel sei vor-weggenommen, intrikaten Übergang von romantischen Vorstellungen über dieLiebe hin zu einer härteren, doch soziologisch sensibleren Präsentation des vor-nehmsten literarischen Themas überhaupt im französischen und deutschen Rea-lismus unter Bedingungen eines sich als kapitalistisch ausdifferenzierendenWirtschaftssystems. Überraschend dabei ist im Vorfeld, dass die Romantik, derenLiebessemantik nach 200 Jahren auch heute noch wesentlich in Kraft ist, wenigSchwierigkeiten mit der Ökonomie bzw. dem Geld hat,2sehr wohl aber der Realis-mus.3Die Einsicht, dass Liebe und Ökonomie, das sehr Konkrete, ja Individuellepar excellence und derkalteBereich der Wirtschaft keineswegs oppositionelleSeinssphärensind, fällt dem deutschen Realismus (Storm, Freytag, Fontane),dessen Autoren beinahe durchweg demBildungsbürgertum entstammen,4nichtSiehe nur Barbara Kuchler, Stefan Beher (Hg.): Soziologie der Liebe. Romantische Beziehun-gen in theoretischer Perspektive. Berlin 2014.Ingo Meyer: Aus der Romantik-Forschung. Romantik international und kontrovers, Schleier-machers späte Ästhetik (Teil II). In: Philosophische Rundschau 66 (2019), S. 223270, hierS. 224226, 258259.Pionierstudien zum weiteren thematischen Komplex bei Jochen Hörisch: Gott, Geld undGlück. Zur Logik der Liebe. Frankfurt a. M. 1983; Ders.: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes.Frankfurt a. M. 1996.Zu dieser europäischen Spezialität akademisch gebildeterGeneralisten, die reputativhöher standen als das nicht selten von ihnen verachtete Besitzbürgertum ausführlich Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von derDeutschen Doppelrevolutionbis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 18491914. München 1995, S. 125130, 730750. DieAusnahme ist Fontane, der seine Bildung aus Tageszeitungen und dem Brockhaus bezog,https://doi.org/10.1515/9783110740806-010
© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Chapters in this book

  1. Frontmatter I
  2. Vorwort V
  3. Inhalt XI
  4. Liebe in Zeiten vormoderner Ökonomie
  5. Munus amoris: Beobachtungen zur Liebesgabe im Parzival Wolframs von Eschenbach 1
  6. Überlieferungsvarianz als Kalkül? Überlegungen zur Ökonomisierung der Liebe im Minnesang 17
  7. minne und kraeme – Pulsationsdynamiken als Daseinsprinzip in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg 31
  8. Ökonomische Liebeshändel: Zweisamkeit und Geld in Ruprechts von Würzburg Die zwei Kaufleute 49
  9. Zwischen Idealismus und Realismus
  10. Zur Korrumpierbarkeit der Liebe in Schillers Verschwörung des Fiesko zu Genua 69
  11. „Nun mußt du dich allmählich zur Ökonomie bilden“. Friedrich Schlegels Lucinde (1799) – Ein Vorschlag zur Neu-Fundierung der Ehe 87
  12. Des Leb/sens Überfluss (Ludwig Tieck) 99
  13. Beherrschung und Transgression: Liebe in der bürgerlichen Ordnung
  14. Die Disziplinierung der Leidenschaft im Konzept des bürgerlichen Liebes- und Familienideals: eine variable Konstante in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts 135
  15. Transaktionale Geschlechterbeziehungen bei Fontane: Cécile und Der Stechlin 151
  16. Liebe und Ökonomie im deutschen und französischen Realismus. Abschied von der Romantik? 171
  17. Heine, Kraus, Adorno – Liebe und Ökonomie im lyrischen Tausch 213
  18. Zwischen den Kriegen – Zwischen den Systemen
  19. Eros als Machtinstrument: Zur Verflechtung von Liebe und Ökonomie in Schnitzlers Erzählung Spiel im Morgengrauen 231
  20. Liebe und Sexualität in Bertolt Brechts frühen Stücken 257
  21. Zur Kritik der libidinösen Ökonomie: Liebe und Klassenkampf in der Literatur der chinesischen Moderne 271
  22. Aufhebungen der Ökonomie: Liebe und Krieg in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften 287
  23. Liebe als Provokation: Prä/Post 68
  24. Affektivität und Geschlecht: Zur Rezeption der frühen Lyrik von Ingeborg Bachmann und Paul Celan 305
  25. Erotischer Widerstand: Liebe und Ökonomie in Botho Strauß’ Paare, Passanten 335
  26. Der Homo oeconomicus als Lustmörder. Liebe und Ökonomie in Elfriede Jelineks Gier 353
  27. Ubiquität vs. Exzess: Liebe abseits der Norm 369
  28. Sexuell-ökonomische und therapeutisch-künstlerische Gemeinschaften in der Mühl-Kommune 383
  29. Unheimliches Familienglück: Zur Persistenz traditioneller Gesellschaftsund Geschlechterordnungen in der Bestseller Trilogie Fifty Shades of Grey 397
  30. Autorinnen und Autoren 417
Downloaded on 9.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/9783110740806-010/html?licenseType=restricted&srsltid=AfmBOooYQO_AyNDEHkRWtbWv5TZpRWp75JXYKwQUA_OfFd1KcSn953I2
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