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Eine Aufklärung der Tugend?

Schlussbetrachtung
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Tugend und Kraft
This chapter is in the book Tugend und Kraft
Eine Aufklärung der Tugend?SchlussbetrachtungIn den Debatten über die Wirksamkeit der verschiedenen Darstellungsmodi in der Poesie und den schönen Künsten des 18. Jahrhunderts war man sich euro-paweit darüber einig, dass die Herausstellung bestimmter Wendepunkte inner-halb einer größeren Entwicklung von Motiven und Handlungen für Präzision und zugleich potentiell unendliches Nachdenken sorgen konnte. „The Artist“, schrieb beispielsweise Shaftesbury in The Judgement of Hercules, „has power to leave still in his Subject the Tracks or Footsteps of its Predecessor; so as to let us behold not only a rising Passion together with a declining one, but, what is more, a strong and determinate Passion, with its contrary already discharg’d and banish’d.”1Diesen Gedanken griff Lessing bekanntlich auf und sprach im Laokoon von einem „einzigen Augenblick“, der „fruchtbar genug“ sein soll, um „lange und wieder-holtermaßen betrachtet zu werden“.2 Aus einem solchen Augenblick werde „das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten“.3Die vorliegende Arbeit hat aus dem Blickwinkel der Literaturwissenschaft versucht, ein solches Moment in der spätaufklärerischen Geschichte von Tugend in den Blick zu nehmen. Sie hat gezeigt, wie die prägnante Arbeit an der Tugend-semantik um 1800 sowohl mit einem markierten Bezug auf das Vorhergehende (die klassische Antike) als auch mit einer hoffnungsvollen Projektion in die Zukunft (eine Gesellschaft von autonom-freien Individuen) einherging. Diese doppelte Bewegung, gleichzeitig nach hinten und nach vorn, hätten die Zeitge-nossen wohl mit dem Terminus ‚revolutio‛ bezeichnet. Über die Ursprünge der Tugend und ihre Verwandtschaft mit der Kraft wollten sie allgemein aufklären, um damit konkret zur Gestaltung eines Tugendideals für die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft beizutragen. Aufklärendes Handeln verstand sich für sie als energische Umsetzung einer tugendhaften Lebensführung. Wie sich gezeigt hat, lassen sich Phänomene einer semantischen Aufklärung der Tugend in den letzten Jahren des Jahrhunderts, nicht zuletzt in direkter Verbindung mit der politischen Revolution in Frankreich, beobachten.1 [Anthony Ashley Cooper Earl of Shaftesbury]: A Notion of the Historical Draught or Tablature of the Judgment of Hercules, According to Prodicus. O. O. 1713, S. 11.2 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie, Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Erster Theil. Berlin 1766, S. 24.3 Ebd., S. 154.https://doi.org/10.1515/9783110705782-006
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

Eine Aufklärung der Tugend?SchlussbetrachtungIn den Debatten über die Wirksamkeit der verschiedenen Darstellungsmodi in der Poesie und den schönen Künsten des 18. Jahrhunderts war man sich euro-paweit darüber einig, dass die Herausstellung bestimmter Wendepunkte inner-halb einer größeren Entwicklung von Motiven und Handlungen für Präzision und zugleich potentiell unendliches Nachdenken sorgen konnte. „The Artist“, schrieb beispielsweise Shaftesbury in The Judgement of Hercules, „has power to leave still in his Subject the Tracks or Footsteps of its Predecessor; so as to let us behold not only a rising Passion together with a declining one, but, what is more, a strong and determinate Passion, with its contrary already discharg’d and banish’d.”1Diesen Gedanken griff Lessing bekanntlich auf und sprach im Laokoon von einem „einzigen Augenblick“, der „fruchtbar genug“ sein soll, um „lange und wieder-holtermaßen betrachtet zu werden“.2 Aus einem solchen Augenblick werde „das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten“.3Die vorliegende Arbeit hat aus dem Blickwinkel der Literaturwissenschaft versucht, ein solches Moment in der spätaufklärerischen Geschichte von Tugend in den Blick zu nehmen. Sie hat gezeigt, wie die prägnante Arbeit an der Tugend-semantik um 1800 sowohl mit einem markierten Bezug auf das Vorhergehende (die klassische Antike) als auch mit einer hoffnungsvollen Projektion in die Zukunft (eine Gesellschaft von autonom-freien Individuen) einherging. Diese doppelte Bewegung, gleichzeitig nach hinten und nach vorn, hätten die Zeitge-nossen wohl mit dem Terminus ‚revolutio‛ bezeichnet. Über die Ursprünge der Tugend und ihre Verwandtschaft mit der Kraft wollten sie allgemein aufklären, um damit konkret zur Gestaltung eines Tugendideals für die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft beizutragen. Aufklärendes Handeln verstand sich für sie als energische Umsetzung einer tugendhaften Lebensführung. Wie sich gezeigt hat, lassen sich Phänomene einer semantischen Aufklärung der Tugend in den letzten Jahren des Jahrhunderts, nicht zuletzt in direkter Verbindung mit der politischen Revolution in Frankreich, beobachten.1 [Anthony Ashley Cooper Earl of Shaftesbury]: A Notion of the Historical Draught or Tablature of the Judgment of Hercules, According to Prodicus. O. O. 1713, S. 11.2 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie, Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Erster Theil. Berlin 1766, S. 24.3 Ebd., S. 154.https://doi.org/10.1515/9783110705782-006
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston
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