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Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten
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Ottmar Ette
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Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne
Ette, Ottmar. "Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten". Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne: Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der Romanischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts, Berlin, Boston: De Gruyter, 2021, pp. 494-548. https://doi.org/10.1515/9783110703450-023
Ette, O. (2021). Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten. In Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne: Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der Romanischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts (pp. 494-548). Berlin, Boston: De Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783110703450-023
Ette, O. 2021. Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten. Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne: Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der Romanischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts. Berlin, Boston: De Gruyter, pp. 494-548. https://doi.org/10.1515/9783110703450-023
Ette, Ottmar. "Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten" In Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne: Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der Romanischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts, 494-548. Berlin, Boston: De Gruyter, 2021. https://doi.org/10.1515/9783110703450-023
Ette O. Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten. In: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne: Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der Romanischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts. Berlin, Boston: De Gruyter; 2021. p.494-548. https://doi.org/10.1515/9783110703450-023
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Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller GeschichtenEine der Grundfragen unserer Überlegungen zu den Literaturen im Zeichen der Postmoderne lautet: Wie ist das literarische Beziehungsgeflecht zwischen Europa und Hispanoamerika zu denken? Welche sind die verschiedenen Etappen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu führten, dass die lateinamerika-nischen Literaturen innerhalb weltumspannender literarischer Entwicklungen nicht mehr länger wegzudenken waren? Wie ist ihr Vorrücken im Bewusstseins-horizont nordamerikanischer, europäischer, aber auch anderer Lesergruppen zu erklären?Ich möchte versuchen, im Anschluss an unsere Überlegungen zum Zeitraum der historischen Avantgarden auf beiden Seiten des Atlantiks nun bei Jorge Luis Borges unsere Erkenntnisse bezüglich der transatlantischen und vor allem trans-arealen Literaturbeziehungen weiter voranzutreiben.1 Wie auch immer unsere Antworten auf die historisch seit der Kolonialzeit geschaffene Asymmetrie der Beziehungen und die sich postkolonial komplexer werdenden, aber gleichwohl die Asymmetrie fortschreibenden Relationen ausfallen werden: An einem Namen werden wir nicht vorbeikommen, dem des Argentiniers Jorge Luis Borges. Begin-nen wir zunächst mit einigen Biographemen des Autors der Ficciones, wobei wir uns etwas kürzer halten können, insofern wir in unserer Vorlesung LiebeLesenden Dichter, Erzähler und Essayisten bereits vorgestellt hatten.2Dabei möchte ich Sie an den großen südamerikanischen Schriftsteller medial heranführen und ihnen den Argentinier in vivo – und das heißt: im Video – vor-stellen. Es handelt sich um Aufnahmen, die wenige Jahre vor Borgesʼ Tod gemacht wurden, zu einem Zeitpunkt also, zu dem der höchst medienbewusste Autor längst zu einer Berühmtheit, ja Ikone eines weltweiten öffentlichen Interesses geworden war. Ich verfolge mit dieser medialen Eröffnung zumindest zwei Ziele. Zum einen sagt ein Bild, wie ein chinesisches Sprichwort weiß, mehr als tausend Worte; und so könnte es sein, dass dieser Auftritt von Borges – sollten Sie den Autor noch nicht visuell erlebt haben – ein sehr starkes Bild in Ihnen zurück-lassen könnte. Zum anderen ist Jorge Luis Borges zumindest seit seiner interna-1 Vgl. auch zur Bedeutung von Borges für die transatlantischen Literaturbeziehungen Ette, Ott-mar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Literaturen Lateinamerikas und Europas. In: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1994, S. 297–326.2 Vgl. Ette, Ottmar: LiebeLesen. Potsdamer Vorlesungen zu einem großen Gefühl und dessen An-eignung (2020), S. 633–674. Open Access. © 2021 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110703450-023
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 495tionalen Berühmtheit, mithin seit der Nachkriegszeit und in größerem Maße seit den sechziger Jahren, ein überaus geschickter Verwerter und Nutzer der neuen elektronischen Massenmedien. Es handelt sich um einen Autor, der eine unge-heure Vielzahl von Interviews gab und seine Interviewpartner so geschickt zu manipulieren wusste, dass er uns dadurch eine Reihe von Hinweisen gab auf das inter- und transmediale Zusammenspiel von Literatur und neuen Massenmedien im postmodernen Kontext.In den ersten Einstellungen sehen Sie noch vor den Interviewpassagen auch, wie Borges für die Medien ‚hergerichtet‘ wurde, wie er eine bestimmte Position einnahm, einen ganz bestimmten Kontext, den der omnipräsenten Bücher, zugeteilt bekam und sich auf diese Weise nicht nur der Massenmedien bediente, sondern sich umgekehrt die Massenmedien ihr Bildnis von Jorge Luis Borges schufen. Wir werden uns mit diesen Fragestellungen angesichts der medialen Verhaltensweisen, der „comportamientos ante el televisor“, noch ausführlich auseinandersetzen. Sehen und hören wir aber zunächst einmal die den gesam-ten Film einführende Passage von gut fünf Minuten Dauer, die uns eine Vielzahl von Hinweisen geben wird, bis hin zu Borgesʼ einflussreichen Überlegungen zum argentinischen Schriftsteller und seinem Verhältnis zur kulturellen und literari-schen Tradition! Und genießen Sie die mediale Inszenierung, die Ihnen Borges offeriert ...3Lassen Sie mich nur einige wenige biographische Hinweise zu diesem großen argentinischen Autor einfügen: Jorge Luis Borges wurde am 24. August 1899 in eine traditionsreiche und wohlhabende Familie in Buenos Aires hinein-geboren. Seine Vorfahren sind teils spanischer, teils portugiesischer Herkunft, während seine Großmutter väterlicherseits einer englischen Methodistenfamilie entstammte. Ausgerechnet 1914, im Jahr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, reiste die Familie nach Europa und bezog ihren Wohnsitz in Genf und Lugano. 1919 knüpfte der junge Borges auf einer Reise seiner Familie wichtige Kontakte zu den spanischen und lateinamerikanischen Avantgarden. Der junge Mann, der damals noch keinerlei Probleme mit seinem Sehvermögen hatte, war vom kreati-ven Potential der historischen Avantgarden und insbesondere vom entstehenden Ultraísmo stark beeindruckt. Seine schriftstellerischen Anfänge situierten sich folglich im Umfeld dieser avantgardistischen Zirkel.Nach seiner Rückkehr in sein Heimatland im Jahr 1921 begründete der ange-hende Autor erste literarische Zeitschriften. Doch sollte er sich von den histori-schen Avantgarden zunehmend distanzieren und seine frühen Bände, wo ihm dies möglich war, sachte wieder aus dem Verkehr ziehen. Man sagte ihm nach, 3 Vgl. Roberto D’Avilas und Walter Sallesʼ im Juli 1985 mit Jorge Luis Borges geführtes Interview.
496 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten eigenhändig Exemplare aus Bibliotheken entwendet zu haben, um seine avant-gardistisch-ultraistischen Anfänge zu verbergen. Doch kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese avantgardistischen ‚Ausflüge‘ seine Orientierungen als Schriftsteller auch weiterhin, freilich unter der Oberfläche, prägten.Die finanziell gut abgesicherte Familie bot Borges reichlich Gelegenheit, sich in den intellektuellen Zirkeln der Metropole Buenos Aires ausgiebig umzu-sehen. Es ließe sich mit guten Gründen sehr wohl behaupten, dass die Hauptstadt Argentiniens damals zu einem der Zentren internationaler Kunst und Literatur geworden war. Erst 1938, nach dem Tod seines Vaters, war Borges gezwungen, als Bibliothekar Geld zu verdienen. Doch sollte er Ende des Jahres bei einem Unfall einen Teil seines Augenlichts verlieren. Fortan wurde seine Mutter zu seiner Sekretärin und half dem familiär erblich vorbelasteten und langsam erblinden-den Sohn in vielen praktischen Belangen. Die Mutter diente Borges über lange Jahrzehnte als moralische Stütze und Begleiterin, eine Funktion, in der sie erst wenige Jahre vor Borgesʼ Tod von seiner späteren Ehefrau María Kodama abge-löst wurde. Es gehört zu den für Borgesʼ Leben charakteristischen Einschnitten, dass er 1946, im Jahr nach Peróns Machtergreifung, aufgrund der Unterzeichnung eines antiperonistischen Manifests seiner Anstellung als Bibliothekar enthoben und strafversetzt wurde auf einen Posten als Geflügelinspektor der städtischen Marktaufsicht. Jorge Luis Borges war zum damaligen Zeitpunkt freilich längst ein profilierter und eigenständiger Schriftsteller, der freilich auch unter der Perón-Regierung in seinem Heimatland leben wollte.1944 hatte Borges den Großen Preis des argentinischen Schriftstellerverban-des erhalten, zwischen 1950 und 1953 war er Präsident dieses Schriftstellerverban-des geworden und längst als einer der führenden Autoren des Landes anerkannt. Seit den zwanziger Jahren war er durch Gedichtbände hervorgetreten, hatte sein erzählerisches Werk aber dann seit den dreißiger Jahren konsequent weiter-entwickelt. Es sollten vor allem diese Erzählungen sein, die ihn weltberühmt machten. Die beiden bedeutendsten Sammlungen seiner Erzählungen sind zum einen seine Ficciones (1944) und zum anderen El Aleph (1949), die seinen interna-Abb. 93: Jorge Luis Borges (Buenos Aires, 1899 – Genf, 1986).
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 497tionalen Ruhm in der Tat begründeten. Mit beiden Prosasammlungen werden wir uns ausführlich beschäftigen. Es waren diese schriftstellerischen Juwelen, die ihn in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Referenzautor aufstei-gen ließen und ihn bei Intellektuellen wie Maurice Blanchot oder Roger Caillois bekannt machten.Die meisten dieser Erzählungen stehen in der Traditionslinie phantastischer Literatur, wobei es Borges gelang, durch ein ausgeklügeltes Spiel mit fremden (und zum Teil erfundenen) Texten ein Verweissystem zu schaffen, mit Hilfe dessen er die Grenzen von Fiktion und Diktion verschob und im Grunde friktionale Lite-raturformen entfaltete, die von ungeheurer Wirkkraft waren. So lassen sich seine Fiktionen letztlich als Friktionen verstehen, in denen er gerade die fiktionale Dimension literarischer Texte zur zentralen Frage erhob. Doch darauf komme ich zurück. Auf die mit Adolfo Bioy Casares gemeinsam verfassten oder ausgeheckten Werke kann ich in dieser Vorlesung jedoch leider nicht näher eingehen: Auch sie schufen nicht nur neue generische Formen etwa von Kriminalparodien, sondern stellten in diesen vierhändig geschriebenen Texten die Frage nach dem Autor in spielerischer Deutlichkeit.Nach Peróns Absetzung wurde Borges 1955 von der Militärregierung zum Direktor der Nationalbibliothek bestellt, ein Amt, das er bei zunehmender Erblin-dung bis 1983 bekleidete. Er wurde so nach José Mármol und Paul Groussac zum dritten großen Schriftsteller in der argentinischen Literaturgeschichte, der erblin-det die Leitung dieser größten Bibliothek Argentiniens übernahm – ein weltweit wohl einzigartiger Tatbestand.Die internationale Anerkennung wuchs beständig und weitete sich längst über die Grenzen Europas – wo Frankreich und Italien die ersten großen Ansatz-punkte seines beeindruckenden schriftstellerischen Renommees waren – auch in die USA aus, so dass er immer häufiger zu Gastdozenturen und -aufenthalten nach Europa und an die großen US-amerikanischen Universitäten eingeladen wurde. Mit dem Ruhm wuchsen auch die Feinde, gerade auch im literarischen Feld. Während des sogenannten „Boom“ der lateinamerikanischen Literaturen mit Autoren wie Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa oder Carlos Fuentes – um nur einige zu nennen – geriet Borges sowohl international als auch in Argentinien unter erheblichen politischen Druck, da man ihm eine ideologisch rechte Posi-tion, Kollaboration mit der Militärregierung und mangelndes politisches Gespür bescheinigte. In meiner Studentenzeit weigerten sich verschiedene argentinische Schriftsteller sogar, Borges als Argentinier anzuerkennen, sei er doch im Grunde ein europäischer Autor, der zufällig in Argentinien aufgewachsen sei.Doch über die Jahrzehnte wurde es still um derlei Anfeindungen: Die Schrift-steller Argentiniens fügten sich in ihr Schicksal, das Jahrhundert mit Borges teilen zu müssen. In Argentinien wurde man sich zunehmend der Tatsache bewusst,
498 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten wie ‚argentinisch‘ Borges schrieb, und vereinnahmte ihn zusehends. Spätestens mit Beatriz Sarlos Buch über Jorge Luis Borges4 war er postum auch von der (ehe-maligen) Linken nun unter kulturtheoretischen Vorzeichen als herausragender argentinischer Autor anerkannt: Nichts stand mehr im Wege, Jorge Luis Borges in die große Ikone seines Heimatlandes zu verwandeln.1986 heiratete er – seine Mutter war 1975 neunundneunzigjährig verstor-ben – seine langjährige Sekretärin María Kodama, und das Paar übersiedelte nach Genf. Dort starbt Borges, mit internationalen literarischen Auszeichnungen und Preisen (mit Ausnahme des Literaturnobelpreises, der ihm wohl auf Grund seiner zweideutigen Aussagen zur Nazi-Geschichte versagt blieb) überhäuft, am 14. Juni 1986. Seine bisweilen umstrittenen politischen Äußerungen kosteten ihn wohl nicht nur den Literaturnobelpreis, sondern auch die Sympathien seiner lateinamerikanischen Zeitgenossen, die am Ende freilich die überragende Quali-tät vieler seiner literarischen Texte anerkennen mussten. Längst aber ist sein internationales Renommee auch in Lateinamerika unbestritten; ein jahrzehnte-langer Prozess, der aber nicht in einem jahrzehntelangen „Purgatoire“ – wie man in Frankreich für die postume Abwertung eines ehedem dominanten Autors wie etwa Sartre sagt – enden sollte. Der „politische Dinosaurier“, wie ihn Ernesto Sábato einmal nannte, hat seine Erblindung als Autor und Mensch nicht nur ertragen, sondern in eine kreative Energie verwandelt, die ihn von allen anderen Schriftstellern abhob.Wenn wir uns mit den transatlantischen Literaturbeziehungen innerhalb der Hispanophonie beschäftigen, so sehen wir, dass sich die Rezeption latein-amerikanischer Literatur und lateinamerikanischer Autoren in Europa zwar punktuell seit dem hispanoamerikanischen Modernismo signifikant veränderte, gleichwohl aber noch während der Zwischenkriegszeit an kleine literarische und philosophische Zirkel sowie an persönliche Beziehungen zwischen einzel-nen Schriftstellern und Intellektuellen gebunden blieb. Diese Situation begann sich erst mit dem Namen und Werk von Jorge Luis Borges zu verändern, folg-lich geraume Zeit vor dem sogenannten „Boom“ der Literaturen Lateiname-rikas.Dass diese neue Phase gerade mit dem Werk des Argentiniers und in Frank-reich einsetzte, scheint mir in vielerlei Hinsicht bedeutungsvoll, nicht nur auf-grund der Tatsache, dass Paris unverkennbar zur zentralen Drehscheibe für die Rezeption lateinamerikanischer Literatur geworden war. Diese herausgehobene Rolle erstaunt dabei am wenigsten: Paris war nicht nur, wie Walter Benjamin4 Vgl. Sarlo, Beatriz: Jorge Luis Borges. A Writer on the Edge. Edited by John King. London – New York: Verso 1993.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 499einmal formulierte, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, sie blieb es auch bis etwa in die ausgehenden siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Auch wenn Paris heute nicht mehr die kulturelle Hauptstadt ist und sein kann, da ihr andere Städte wie insbesondere New York in einem multipolaren System der Literaturen der Welt den Rang abgelaufen haben, so war Paris doch gerade für die Latein-amerikaner eine zentrale Hauptstadt der Literatur geblieben. Die „ville lumière“ war das Mekka der hispanoamerikanischen Autoren des 19. Jahrhunderts, es sollte auch das Mekka der Intellektuellen, Künstlerinnen und Literat*innen His-panoamerikas für die längste Zeit im 20. Jahrhundert bleiben. Noch heute genießt Paris bei den Schriftsteller*innen aus Lateinamerika vor Barcelona und Madrid, London, Berlin oder Rom einen ausgezeichneten Ruf.Abb. 94: Jorge Luis Borges im Foyer des L’Hôtel, Paris, 1969.Der Aufstieg des Jorge Luis Borges war durchaus singulär. Dabei war zu Beginn der wesentlich von Roger Caillois initiierten Borges-Rezeption keineswegs abseh-bar, dass die Ficciones oder El Aleph sich einmal ein breites europäisches Lesepu-blikum erschließen würden. Denn die Gedichte, vor allem aber die Erzählungen von Borges wirkten zunächst in den französischen intellektuellen Zirkeln, aus denen sich der Neo- und Poststrukturalismus entwickeln sollte. Wir haben bereits gesehen, dass Michel Foucault in Les mots et les choses von einem Borges-Zitat ausging, das ihn in die archäologische Ordnung der Dinge einführte. Als Motti oder Epigraphe dienten Fragmente aus Borgesʼ Werken ungezählten Publika-tionen der sechziger und beginnenden siebziger Jahre als Prä-Texte – nun nicht mehr allein in Frankreich, sondern auch in anderen europäischen Ländern oder in Nordamerika. Ein lateinamerikanischer Schriftsteller war damit – weitaus mehr als die Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral – zum gemeinsamen Bezugs-punkt breiter intellektueller Kreise im internationalisierten Kulturhorizont gewor-den. So sehr Gabriela Mistral mit ihrem Literaturnobelpreis auch den Bann der lateinamerikanischen Literaturen gebrochen hatte: Dies kam in der Folge weniger ihrem eigenen Werk als dem eines Argentiniers zugute, der lange vor den jungen
500 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten Intellektuellengenerationen Lateinamerikas die Aufmerksamkeit innerhalb eines damals noch zentrierten weltliterarischen Systems auf sich zog.Jorge Luis Borges begann, in der Rezeption seiner seit Beginn der dreißiger Jahre verfassten Ficciones alle anderen Autoren seines Kontinents zu überstrah-len, eine Entwicklung, die durch seine zunehmend geschickter werdenden Inter-views noch verstärkt wurde. Sie konnten sich selbst vergewissern, wie clever der Argentinier mit den Medien umging und wie sehr er sie für das Bild, das er von sich projizieren wollte, einzusetzen verstand.Innerhalb kürzester Zeit verwandelte sich Jorge Luis Borges in eine Pflicht-lektüre angehender Autorinnen und Autoren; und nach einigen Jahrzehnten kam er selbst bei jenen Literaturwissenschaftlern an, die sich niemals zuvor mit Lateinamerika beschäftigt hatten und sich nun wie Hans Robert Jauss über Borges zu beugen und über ihn zu schreiben genötigt sahen.5 Dies war auch für die hispanoamerikanischen Literaten eine nicht immer leicht zu verkraftende Situation, galt Borges in Europa und den Vereinigten Staaten doch bald als Inbe-griff des lateinamerikanischen Autors, an dem die jüngeren zunächst gemessen werden mussten. Man könnte daher die These wagen, dass es in Europa bezüg-lich der hispanoamerikanischen Literaturen zunächst zur Grundlegung eines postmodernen Lektüremusters kam, bevor andere Lektüremodi dieses Muster zeitweilig wieder überdeckten und in den Hintergrund treten ließen. Im Zeichen des Boom verblasste Borgesʼ Prestige ein wenig, da er auch beim besten Willen nicht dieser Gruppe junger Schriftsteller zugeordnet werden konnte. So bildeten sich zwei Lektüre- und Rezeptionsmodi heraus, die über lange Jahrzehnte die Aufnahme der lateinamerikanischen Literaturen in Europa und Nordamerika beherrschten.In der an Borges ausgerichteten Rezeption wurden jene Elemente in den Vordergrund gestellt, welche nicht direkt auf einen spezifisch lateinamerika-nischen Verweisungszusammenhang hindeuten und quasi einen ‚neutralen‘ (und dies heißt letztlich: an Europa und den USA ausgerichteten oder von dort her leicht konsumierbaren) Hintergrund betonen. Ohne spezifische Kenntnisse über Lateinamerika schien eine solche Literatur leicht verstehbar zu sein. Die angeführten Studien von Beatriz Sarlo zeigten freilich mit aller wünschens-werten Deutlichkeit auf, wie stark ebenso der Entstehungskontext wie der not-wendige Interpretationshorizont bei Borges von Lateinamerika und vor allem 5 Vgl. Jauss, Hans Robert: Wege des Verstehens. München: Wilhelm Fink Verlag 1994; vgl. hierzu das Kapitel „Eine Hermeneutik des Verstehens, Vergessens und Verzeihens“ in Ette, Ottmar: Der Fall Jauss. Wege des Verstehens in eine Zukunft der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 501von Buenos Aires und Argentinien her geprägt waren. Borges beschäftigte sich sehr wohl in den verschiedensten literarischen Formen und Gattungen mit argentinischen Themen und Traditionen, doch standen diese Schöpfungen nicht im Zentrum der internationalen Rezeption, welche derlei Deutungskon-texte gerne geflissentlich ‚übersah‘. Gerade in Europa ging es vielmehr um den Einbau von Elementen, die mit den aktuellen Fragestellungen der philosophi-schen und literarischen Avantgarde der späten fünfziger und vor allem sechziger Jahre zu verbinden waren und innerhalb dieses Kontexts Impulse zu geben ver-mochten.Die internationale Borges-Lektüre war eine sehr spezifische, insofern sie die argentinischen und lateinamerikanischen Traditionslinien weitgehend margina-lisierte oder ganz ausklammerte. So dominierten in dieser Rezeption die Meta-phorologien von der Welt als unendlicher Bibliothek, vom Universum als Laby-rinth, von der Fiktion als Spiegel eines Spiegels, von der Auflösung der Differenz zwischen Urbild und Kopie, Original und Fälschung, zwischen binären Gegen-sätzen jeglicher Art. Borgesʼ Erzählungen gaben Themenbereiche vor, die von den Neoavantgarden in Europa begierig aufgegriffen wurden, um die fest gefügten Gegensatzpaare des Strukturalismus spielerisch zu überwinden und Bereiche zu schaffen, die sich zwischen Diachronie und Synchronie oder – um mit Barthes zu sprechen – im „Switch“ zwischen stimmhaft und stimmlos (S/Z) bewegten. Über-dies verwischte die kreative Aneignung akademischer oder literaturkritischer Dis-kursen in der Fiktion die Grenzen zwischen literarischem Diskurs und Metadis-kurs, eine Grenzüberschreitung, welche in den Theorien ab den späten fünfziger Jahren dankbar aufgegriffen wurden.Jorge Luis Borges wurde aller argentinischen Anfeindungen und ideologi-schen Widerstände und aller unerträglichen politischen Interviews in Zeiten der argentinischen Militärdiktatur zum Trotz rasch zum geistigen Vater einer Litera-tur, die sich selbst bald als „postmodern“ ausrief. Der argentinische Autor hat sich zu dieser Entwicklung mehrfach ironisch geäußert. Aus der Sicht unserer Vorlesung aber situierte sich sein Schreiben in seinen avantgardistischen Anfän-gen deutlich noch diesseits, in seiner weiteren Entwicklung aber dann ebenso deutlich jenseits jener großen Veränderung, welche wir mit Roland Barthes als „sanfte Apokalypse“ umschrieben. Sie erst brachte jenen Übergang der Moderne in die Postmoderne mit sich, welcher von grundlegender Bedeutung auch und gerade für Entwicklungen hin zu den Literaturen der Welt war. Borgesʼ litera-rische Texte wie deren internationale Rezeption können in ihrer Bedeutung für Literatur und Philosophie in diesem Zusammenhang gar nicht überschätzt werden.Zweifellos ist Jorge Luis Borges heute ein Klassiker, und ein Klassiker der Postmoderne allemal. Er selbst hat über den Umgang mit Klassikern viel geschrie-
502 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten ben; ich habe mich jedoch bereits in der Vorlesung LiebeLesen damit beschäftigt und will an dieser Stelle nicht mehr darauf zurückkommen. Festzuhalten aber bleibt, dass sich Borges der deutungsprägenden Signifikanz der Rezeption höchst bewusst war und dabei auch die Diachronie, den für die Moderne so entschei-denden historischen Zeitpfeil, gerne ‚verschob‘, zeige er doch auf, wie aktuelle Texte unser Verständnis beispielsweise antiker Autoren tagtäglich verändern. Auch Klassiker, dies wusste Borges sehr wohl, verändern sich im Verlauf einer langen und nicht vorhersehbaren Praxis des Lesens, beruhen mithin nicht auf überzeitlichen Einsichten, sondern sind fragile Gebilde, die von unserer Jetztzeit und ihren Lektüremodi stets abhängig sind. Klassiker sind in ständiger Bewegung und erweisen sich nur dann als solche, wenn Sie sich im Grunde unendlich vielen Deutungen und Interpretationsansätzen öffnen, ohne doch einem einzigen ganz anzugehören.Zugleich entkoppelte Borges die Texte der Klassiker von ihren originären Kon-texten, womit alle Texte gleichsam frei relationierbar und kombinierbar werden. In diesem freien Spiel der Texte (wie der Waren) konnten alle historisch akku-mulierten Texte jenseits ihrer ursprünglichen historischen, kulturellen oder lite-rarischen Kontexte vergleichzeitigt werden und in einen kreativen Dialog oder Polylog eintreten, der alles mit allem in einer einzigen Bibliothek, einer einzigen Intertextualität, miteinander verband. Wichtig und sogar entscheidend dabei ist, dass auch auf dieser Ebene der Zeitpfeil außer Kraft gesetzt und nichts gemäß einer gegebenen geschichtlichen Abfolge, sondern alles entlang der jeweiligen Kombinierbarkeit miteinander in Verbindung gesetzt werden konnte. Damit aber waren sowohl eine historische oder diachrone Linearität wie auch eine an einem vorgegebenen Zentrum ausgerichtete Struktur als Denkvorgaben aufgegeben und machten einer freien, historisch ‚befreiten‘ Anschlussfähigkeit Platz. Auch dies wurde als Infragestellung von Grundpfeilern der Moderne und einer modernen Sensibilität aufgefasst: Die Türen hin zu einer neuen Sensibilität schienen offen – oder das greifbar, was Michel Foucault am Ende der von uns zitierten Passage als ein Verschwinden jener Dispositionen umschrieb, welche im 18. Jahrhundert – und damit zu Beginn der Moderne – entstanden waren.Das Faszinierende an Jorge Luis Borges ist, dass sich sein Schaffen aus der Perspektivik unserer Vorlesung auf beiden Seiten der „sanften Apokalypse“ situiert und daher einen Platz im zentralen Scharnier zwischen Moderne und Postmoderne einnimmt. Sein erster großer Gedichtband, Fervor de Buenos Airesvon 1923, stand noch überdeutlich im avantgardistischen Zeichen des „Ultraísmo“ Vicente Huidobros, was sich in keiner Weise mehr wegdiskutieren ließ. Daher ent-schied sich Borges, diesem Text wie auch anderen aus seiner frühen Schaffens-phase ein neues und reichlich gerissenes Vorwort nachträglich mitzugeben, in welchem er sich selbst ironisch eine große Kontinuität bescheinigte.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 503Jorge Luis Borges, der die Grenzen zwischen Original, Kopie und Fälschung in seinen literarischen Texten immer wieder verschwimmen ließ, wurde auf diese Weise zum beglaubigten Fälscher seines eigenen Werkes, wusste er doch, wie einflussreich seine neuen Interpretationsvorgaben sein würden. Schauen wir uns dieses Vorwort im Auszug einmal an, in welchem der Borges von 1969, längst zum Vater der Postmoderne avanciert, dem jungen avantgardistischen Borges von 1923, der in der argentinischen Avantgarde des „Martinfierrismo“ um die einfluss-reichen Zeitschrift Martín Fierro schrieb, einige Dinge für die spätere Entwicklung mitgab:Ich habe dieses Buch nicht neu geschrieben. Ich habe seine barocken Exzesse abgemil-dert, habe an einigen rauen Stellen gefeilt, habe Gefühlsduseleien und Vagheiten getilgt sowie im Verlaufe dieser bisweilen dankbaren und bisweilen unangenehmen Arbeit emp-funden, dass jener Junge, der das 1923 schrieb schon im Wesentlichen – und was heißt schon im Wesentlichen? – jener Herr war, der jetzt resigniert oder korrigiert. Wir sind ein und derselbe; wir beide glauben nicht an das Scheitern oder an den Erfolg, glauben nicht an die literarischen Schulen und an ihre Dogmen; wir beide sind devote Anhänger von Schopenhauer, Stevenson und Whitman. Für mich nimmt Fervor de Buenos Aires all das vorweg, was ich später schreiben sollte. Denn es ließ schon erkennen und versprach auf eine gewisse Art bereits, was später großzügigerweise Enrique Díez-Canedo und Alfonso Reyes guthießen.6Diesem Text ist leicht zu entnehmen, dass sich hier ein älter gewordener Schrift-steller bemüht, sein eigenes Gesamtwerk zu runden und die Kontinuität seines eigenen Schaffens zu behaupten. Bei diesem Unterfangen ist er zweifellos gezwungen, sich in ein ‚ausgewogenes‘ Verhältnis zu jenem Teil seines Werkes und seines Lebens zu setzen, das sich auf Grund seiner avantgardistischen Anfänge so einfach nicht ‚runden‘ ließ. Daher verfolgte er eine in seinem Vorwort deutliche Doppelstrategie: Er feilte mit der Feile, veränderte also und strich, und brachte andererseits das Ergebnis dieser Arbeit in einen direkten Bezug zu dem, was er später sein wollte – wohlgemerkt mit der Feile und Tippex, wenn Sie das noch kennen, in der Hand.So wurde aus zweien ein einziger, ohne dass doch der erste verschwinden musste. Diese gesuchte Ambivalenz, diese gerissene Offenheit ist typisch für den medienerfahrenen Jorge Luis Borges in seinen späteren Jahren. Hierin ist er durch-aus ein Schüler Schopenhauers und der Welt als Wille und Vorstellung: Denn er wollte, ja er musste den avantgardistischen Borges der jungen Jahre zu einem Vor-läufer des postmodernen Borges der späten Jahre machen, um sein Gesamtwerk, 6 Borges, Jorge Luis: Fervor de Buenos Aires. Buenos Aires: Emecé 1996, Prólogo, S. 11.
504 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten das gewiss eine große Homogenität aufweist, zu arrondieren. Borges spielte in diesen Sätzen mit der philosophischen Vorstellung, um sein eigenes Früh-Werk als Wille und Vorstellung des späten Borges zu deuten und damit geflissentlich umzudeuten.Es gibt einen aufschlussreichen Text, den Borges wohl nicht in schriftlicher Form festhielt, aber einer 1967 auf Schallplatte veröffentlichten hörenswerten Selbstaufsprache seines Gedichts Fundación mítica de Buenos Aires voranstellte. Ich werde Ihnen ein wenig später diese Aufnahme und den vorangehenden, vom alten Borges vorgetragenen Text vorspielen, möchte aber bereits an dieser Stelle festhalten, dass sich der alte Borges in diesem kurzen Text noch wesentlich schär-fer vom jungen Borges distanzierte, der mit dem lesenden nichts mehr zu tun habe. Er sei ein anderer Borges, der nun sein eigenes Gedicht wie das Gedicht eines anderen lesen werde. Doch dazu und zu diesem Gedicht etwas später mehr ...Wir könnten an dieser Stelle auf all jene Versuche hinweisen, in welchen ein Schriftsteller oder Dichter seine frühen Schriften zu verbergen oder umzudeuten suchte: Auf Gustave Flaubert und seine erste, gescheiterte Education sentimen-tale, den frühen Honoré de Balzac, der sich nicht mehr gerne an seine ersten Romane erinnerte, den jungen Jules Verne, der seinen unveröffentlicht geblie-benen Romanerstling nicht mehr publizierte. Im lateinamerikanischen Bereich suchte Vicente Huidobro seine frühe modernistische Lyrik möglichst rasch in jenen Creacionismo einzuordnen, den er schon – eine kleine Änderung auf dem Titelblatt genügte – noch vor seiner Reise nach Frankreich und seiner Begegnung mit Reverdy erfunden haben wollte. Fast ein halbes Jahrhundert lag zwischen dem ultraistischen Gedichtband und dem späten, ein nachträgliches Vorwort verfassenden Borges, der sich seiner Bedeutung ganz und gar bewusst war. Und doch sollten wir uns nun weniger mit der Tatsache beschäftigen, dass Vicente Huidobro zur Avantgarde hin fälschte und Jorge Luis Borges von der Avantgarde weg – was schon ein wichtiges Indiz wäre –, sondern wodurch sich die Gedichte der zwanziger Jahre in Bezug auf Zeit und Raum auszeichnen und wie wir ihre Beziehung zum Gesamtwerk näher bestimmen können.Um dieses Ziel zu erreichen, werfen wir zuerst einen Blick auf einen etwas entfernt scheinenden Text aus dem Gedichtband Luna de enfrente von 1925 – das Gedicht Montevideo:Ich rutsche auf Deinem Nachmittag wie die Müdigkeit auf der Barmherzigkeit einer Steigung rutscht.Die neue Nacht ist wie ein Flügel über Deinen Dachterrassen.Du bist das Buenos Aires, das wir besaßen, das sich über die Jahre gemächlich von uns entfernte.Du bist unser und in Feierlaune, dem Sterne gleich, den die Wasser verdoppeln.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 505Als falsche Tür in der Zeit schauen Deine Straßen zur leichteren Vergangenheit.Helle, von wo der Morgen uns kommt, auf den süßen durchmischten Wassern.Noch bevor sie mein Gitter erhellt, beglückt Deine niedrige Sonne Deine Landhäuser.Stadt, die sich anhört wie ein Vers.Straßen mit dem Licht der Innenhöfe.7In dieser Hommage an das benachbarte oder besser gegenüberliegende Monte-video wird, wie in Fervor de Buenos Aires, eine Stadtlandschaft evoziert, die nun aber nicht die der argentinischen, sondern vielmehr der uruguayischen Hauptstadt ist. Dabei ist das strukturierende Element der Vergleich, die ständig wiederkehrenden „como“, welche das lyrische Ich in eine Beziehung zur mit Du angesprochenen Stadt setzen. Mit der Evokation von Abend („tarde“) und Nacht („noche“) wird zugleich eine zeitliche Dimension aufgerufen, die im dritten Vers konkretisiert wird: Die Hauptstadt Uruguays erscheint als die Ver-gangenheit der eigenen Hauptstadt, jener Stadt, die „wir besaßen“. Damit ist zugleich das lyrische Ich auf eine erste Person Plural hin geöffnet, die zweifel-los nicht die von Montevideo ist. Die Sichtweise Montevideos ist vielmehr eine von außerhalb des Raums, aber auch außerhalb der Zeit: Das alte Buenos Aires wird paradoxerweise durch Montevideo erreichbar und sichtbar, nicht aber das neue Montevideo. Auf diese Weise wird die Reise im Raum eine Reise in der Zeit, das Andere zugleich zum Vertreter, zum Substitut des Eigenen. Eine gewisse Großmannssucht, die man den Bewohnern von Buenos Aires ja nach-sagt, mag in diese Perspektivierung der Hauptstadt Uruguays sehr wohl hinein-spielen.Zugleich ist Montevideo aber auch die „Puerta falsa en el tiempo“, eine Fäl-schung also, in welcher die Straßen als Gebilde des Raumes sich als Phänomene der Zeit erweisen, welche in die Vergangenheit blicken, hin zu einer Vergangen-heit, die als „más leve“ erscheint. Die zuvor mit Abend und Nacht assoziierte Stadt wird nun mit dem Morgen verbunden, was der weiter östlich gelegenen geo-graphischen Position in gewisser Weise angemessen ist. An diesem Punkt indes wird Montevideo mit der Intimität des lyrischen Ich verknüpft, das jenes Licht in sein Zimmer hereinlässt, welches schon das ruhige Montevideo bescheint, seine Landhäuser, die „Quintas“, aber auch die Patios, die für die Mythologie der Stadt bei Borges eine so wichtige Rolle spielen.Es ist jenes Montevideo, von dem Borges an anderer Stelle einmal schrieb, dass die Stadt wie ein hübsches Viertel von Buenos Aires sei, das sich in die 7 Borges, Jorge Luis: Montevideo. In Frías, Carlos V. (Hg.): Jorge Luis Borges. Obras completas 1923–1972. Buenos Aires: Emecé 1974, S. 63.
506 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten Sommerfrische aufgemacht habe. Diese Aussage schien letztlich gar nicht so weit hergeholt, waren Montevideo und mehr noch Punta del Este doch mit die beliebtesten Aufenthaltsorte für die „Porteños“, die Bewohner von Buenos Aires, während der Sommerferien. Fast wirkt dies alles wie ein Klischee aus argenti-nischer Perspektive: Montevideo als die kleinere Stadt auf der anderen Seite des Río de la Plata, als die kleinere Schwester, die wie ein Viertel von Buenos Aires in der Zeit zurückblieb und wo alle Straßen in die Vergangenheit führen.Sicherlich stoßen wir in diesem Gedicht auf die Sicht eines „Porteño“, der sich in der argentinischen Hauptstadt im Hauptmeridian der Kultur weiß, während Montevideo eine eher nostalgisch zu beleuchtende, zurückgebliebene Welt darstellt. Borges war in jenen Jahren die Galionsfigur der Zeitschrift Martín Fierro, die zwischen 1924 und 1927 eine kaum zu überschätzende Rolle innerhalb des literarischen Feldes Argentiniens spielte. In dieser nach dem gleichnamigen argentinischen Gaucho-Epos von José Hernández benannten Zeitschrift erschie-nen damals die Gedichte der hispanoamerikanischen Avantgarden, aber auch der jüngsten französischen Literatur oder auch Texte unter anderem von James Joyce, an deren Übertragung sich der Argentinier als erster spanischsprachiger Über-setzer wagte. Die Autoren dieser Gruppe fühlten sich absolut auf der Höhe ihrer Zeit – und dies galt insbesondere für Jorge Luis Borges, der nicht nur Spanisch und Englisch, sondern auch Französisch, Deutsch und Italienisch sprach und mit den jeweiligen literarischen Entwicklungen bestens vertraut war. Man konnte sich in jenen Jahren in Buenos Aires in der Tat im Schnittpunkt aller maßgeblichen kulturellen Bewegungen fühlen: Buenos Aires war eine Metropole, die mit dem Rücken zum Rest von Argentinien, zum Rest von Lateinamerika lebte und den Blick fest auf Europa und vor allem Paris geheftet hatte.Zugleich war die Verbindung mit dem Moderneprojekt überdeutlich, mit Fra-gestellungen der Modernisierung, welche vor einem Jahrzehnt noch die Moder-nisten um José Enrique Rodó, aber aktuell auch die argentinischen Avantgar-disten stark beschäftigten. Gerade für die Dachterrassen, die „azoteas“, hatten sich Borges und der damals in Lateinamerika arbeitende Franzose Le Corbusier brennend interessiert; ein Element der Stadtlandschaft, auf dessen Bedeutung Raúl Antelo zurecht aufmerksam machte.8 Deutlich erkennbar waren in Borgesʼ Montevideo ferner ultraistische Elemente, für welche die Modernität mit der Beschleunigung der Zeit und mit den großen, sich rasch wandelnden Stadtland-schaften einhergingen. Dies waren durchaus zeittypische Charakteristika, die wir zusammen mit der Betonung, ja Verherrlichung von Technik durch die italie-8 Vgl. Antelo, Raúl: Una crítica acéfala para la modernidad latinoamericana. In: Iberoamericana(Frankfurt am Main – Madrid) VIII, 30 (junio 2008), S. 129–136.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 507nischen Futuristen bereits eingehend in unserer Vorlesung analysieren konnten. Auch sie bildeten einen wichtigen Verstehenshorizont für Borgesʼ Gedicht an Montevideo.Abb. 95: Le Corbusier: Skizzen für städtebauliche Projekte in Montevideo und São Paulo, 1929.Raum und Zeit spielen auch in einem weiteren Gedichtband des frühen Borgeseine zentrale Rolle: im Cuaderno San Martín von 1929. Daraus stammt das erste berühmt gewordene Gedicht mit dem Titel Fundación mítica de Buenos Aires, das ich Ihnen in einer Übersetzung von Gisbert Haefs vorstellen darf. Sie können sich übrigens das ganze Gedicht in der bereits kurz erwähnten, 1967 veröffentlichten Aufsprache des damals achtundsechzigjährigen Autors anhören. Schauen wir uns also diese Mythische Gründung von Buenos Aires, die natürlich im Wohnvier-tel von Borges, in Palermo, verortet wird, einmal an:Also auf diesem trägen und schlammigen Fluss wären damalsall die Boote gekommen, mir die Heimat zu gründen?Die bunten Schiffchen tanzten bestimmt auf den Wellen am Ufer,zwischen treibenden Büschen in der Brühe der Strömung.Um die Sache gut zu bedenken, lasst uns vermuten,dass der Fluss damals blau war, wie im Himmel entsprungen,samt seinem roten Sternchen für den Ort, an dem Juan Díazfrühstückte, und an dem ihn abends die Indios verspiesen.
508 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten Sicher ist, tausend Männer und weitere Tausende kamen,über ein Meer herüber, das damals fünf Monde breit war,und das noch bevölkert war von Sirenen und Drachenund von Magnetsteinen, die die Kompassnadeln verführten.Einige scheue Landstücke nahmen sie an die Küste,schliefen befremdet. Angeblich war das am Riachuelo,aber das ist ein Schwindel, erfunden im Viertel von Boca,es war ein ganzer Block in meinem Viertel, Palermo.Ein ganzer Block, aber mitten im Feld, und der Morgenröteausgesetzt und dem Regen und den südwestlichen Stürmen.Gleich dem Block der noch immer fortbesteht in meinem Viertel:Guatemala, Serrano, Paraguay, Gurruchaga.Ein Schankladen leuchtet rosa wie Spielkartenrücken,und im Hinterzimmer beredet man einen Truco;der rosa Schankladen blühte auf zu einem Halunken,bald schon der Boss der Ecke, bald schon hart und verschlagen.Den Horizont überwand eine erste Drehorgel, klapprigin der Bewegung, mit Habaneras und fremdem Geleier.Sicherlich stimmte der Wagenstall schon für YRIGOYEN,und irgendein Klavier spielte Tangos von Saborido.Ein Zigarrenladen räucherte wie eine Rosediese Öde. Der Abend war schon tief voll von gestern,eine Illusion von Vergangenheit teilten die Menschen.Eines nur fehlte noch: der Gehsteig von gegenüber.Dass Buenos Aires jemals begonnen hat, kann ich kaum glauben:mir erscheint es so ewig wie die Luft und das Wasser.9In diesem Gedicht führt Jorge Luis Borges seine Leidenschaft für Buenos Aires, die bereits im Titel seines ersten Gedichtbandes zum Ausdruck kam, entschlos-sen fort. Sie ließe sich durchaus autobiographisch deuten, ist doch das spek-takuläre Straßennetz der Großstadt für den jungen Borges in der Tat mythisch, ließ ihn doch seine Mutter nach einem Zusammenstoß des Jungen mit einer Straßenbahn, die er wegen seines schlechten Augenlichts nicht hatte kommen sehen, nicht mehr alleine auf die Straße. Borges erträumt sich fortan sein Viertel 9 Borges, Jorge Luis: Fundación mítica de Buenos Aires. In Haefs, Gisbert (Hg.): Jorge Luis Borges. Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte 1923 – 1965. München: C. Hanser 1982, S. 51 f.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 509und seine Stadt ganz so, wie er sich später als Direktor seine Nationalbibliothek imaginierte.So erträumte sich Borges, der die Welt aus der Sicht vergitterter Fenster in seinem Stadtviertel Palermo kennenlernte, eine eigene Stadt im Kopf, ein mythi-sches Buenos Aires, dem er deshalb auch eine mythische Geschichte zu Grunde legte. Wir werden gleich sehen, welch eine Stadt dies war. Es bleibt indes fest-zuhalten, dass Borges als einer der ersten Dichter das Buenos Aires der Straßen, der Vorstädte, der kleinen Plätze, der „suburbios“, der „arrabales“ und „compa-dritos“ besang und nicht die Metropole der Staatsgründer, Bankiers und großen Leute. Er schuf auf diesem Wege jene Szenerie, die auch in seinen criollistischen Prosaschriften von größter Bedeutung ist. Der Argentinier Horacio Salas hat einmal in der argentinischen Lyrik des 20. Jahrhunderts nachgezählt, und da ist Borges nur einer der ganz frühen von insgesamt nicht weniger als vierhundert argentinischen Dichtern, die ihre geliebte Stadt wie ihre Geliebte besangen.10 Was aber macht den mythischen Gesang, die mythische Vision von Borges aus?Wir wollen an dieser Stelle nicht die politische Parteinahme des lyrischen Ich in diesem Gedicht für Hipólito Irigoyen untersuchen und damit für die Radikale Partei (Partido de la Unión Cívica Radical), die Partei der Mittelklasse, welche die Oligarchie von der Herrschaft verdrängte. Ihr stand Irigoyen als Caudillo vor und sie vertrat er als gewählter Präsident, bevor ihn 1930 ein Militärputsch – der erste in einer lang anhaltenden Serie – von der Macht vertreiben sollte. Die politischen Stellungnahmen von Borges sind oft von so entnervender Beschaffenheit, dass es schwerfällt, sie in eine Gedichtanalyse miteinzubeziehen, obwohl wir sie auch nicht ganz vergessen dürfen, zumal es hier um einen demokratisch gewählten Präsidenten Argentiniens geht. Berüchtigt sind seine späteren Stellungnahmen für den Faschismus und die Militärdiktatur geblieben, und nicht alles lässt sich mit dem flotten Hinweis darauf zudecken, dass Borges ja wohl selbst gesagt hatte, dass die politischen Äußerungen immer das Dümmste der Dichter seien. Jedenfalls hat Borges in El tamaño de mi esperanza das Hohelied von Irigoyen gesungen und ihn mit keinem Geringeren als – dem Diktator Rosas verglichen. Wir verstehen, warum Borges koste es was es wolle die Publikation dieses Bandes zu verhindern trachtete und El tamaño de mi esperanza auch nur postum und mit dem Einverständnis von María Kodama erscheinen konnte.Die mythische Gründung von Buenos Aires stellt zunächst einige Fakten zur Disposition, auf die im Gedicht angespielt, die aber von Beginn an mit einem Fragezeichen versehen wurden. So wird zunächst der Ort der Gründung verlegt, 10 Vgl. Salas, Horacio: Buenos Aires, mito y obsesión. In: Cuadernos Hispanoamericanos (Ma-drid) 504 (junio 1992), S. 389–399.
510 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten und zwar von der sogenannten „Boca“ weg (wo wir die historische Gründung ansiedeln dürfen) hin nach Palermo, wo die erste Gründung der künftigen Haupt-stadt einen ganzen Häuserblock umfasst haben soll. Diese Verlegung ist leicht durchschaubar, wohnte doch Jorge Luis Borges selbst in jenem Carré, das die vier Straßennamen am Ende der Strophe angeben. Diese präzise, auch heute noch auf jedem Stadtplan zu bestimmende Situierung, welche noch durch zusätzliche ortskundige Elemente gestützt wird, macht damit den schicken großbürgerlichen Stadtteil am Rande der damaligen Metropole in den zwanziger Jahren zum eigent-lichen Ursprungsort, verschiebt also den Ursprung in einer für jeden Bonaerenser durchsichtigen und nicht ganz ernstzunehmenden Weise.Abb. 96: Stadtplan von Buenos Aires, ca. 1892.Die augenzwinkernde Fälschung ist durchschaubar und weist gerade daher nicht auf das Objekt der Fälschung, sondern auf dessen Subjekt, auf dessen Urheber zurück. Dieses lyrische Ich, das sich somit in den Mittelpunkt des Gedichtes stellt, lässt es bei der Dezentrierung im Raum und der fingierten Gründung eines eigenen Raums mit eigenem Ursprung, eigener Geschichte, eigenem Netz-werk von Straßen nicht bewenden, sondern führt in den beiden letzten Versen auch eine Dezentrierung in der Zeit durch. Wieder sind es die anderen, die die gängige Meinung zum Ausdruck bringen, und wieder hält das Ich dagegen, indem es den gerade erst verschobenen, differierten Ursprungsmythos als Mythos des Ursprungs gleichsam ‚entlarvt‘, um dadurch der von Menschen, von spanischen
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 511Eroberern geschaffenen Stadt eine ursprungslose, gleichsam natürliche, ewige Dimension zu verleihen.Sie entrückt Buenos Aires als Ewige Stadt der Dimension der Zeit: Die Stadt am Río de la Plata war schon immer da, ist so ewig wie der Fluss oder der Ästuar selbst. Damit ist Buenos Aires, das von außen her gegründet wurde, das also peripher liegt zum Herkunftsort jener Spanier, welche die Gründung der Stadt durchführten, selbst zum Zentrum geworden und hat sich an die Stelle der alten Zentren gesetzt. Auch Palermo erinnert an keine europäische Stadt mehr, sondern befindet sich ganz einfach im Herzen der argentinischen Metropole. Die Spanier stammen von den Goten oder vielleicht den Iberern ab, „descienden de los visigodos“; die Argentinier aber, so eine beliebte Formel, „descienden de los barcos“: Sie sind ganz einfach den Schiffen entstiegen. Dieses Bild wird in diesen Versen vorgeführt und zugleich dekonstruiert, indem die Zeitachse des Gründungsmythos ins Unendliche verschoben oder verbogen wird. Gleichzeitig fällt dies mit der Schöpfung der Welt, mit den Grundelementen des Wassers und der Luft – nicht umsonst trägt die Stadt ja den Namen der Guten Winde und war das Wasser ihr Kreissaal – in Eins. Lassen Sie es mich mit der für die „Porteños“ sprichwörtlichen Bescheidenheit der biblischen Genesis sagen: Im Anfang also war Buenos Aires.Ich möchte an dieser Stelle unsere Interpretation des Gedichts abbrechen, hat sie uns doch schon zur Genüge gezeigt, dass Jorge Luis Borges keineswegs jener Dichter und Erzähler ist, für den er oft ausgegeben wird: ein Dichter des Univer-salen, des nicht in Raum und Zeit Verorteten, ein Autor, der ebenso gut Franzose, Italiener oder Japaner hätte sein können. Derlei Anschauungen dürfen wir ein ein-silbiges Nein entgegenhalten. Wir sind dabei freilich nicht die einzigen, hat sich doch die argentinische Literaturkritik während des zurückliegenden Vierteljahr-hunderts auf ihren Borges besonnen. Sie hat ihn, den man stets als vaterlands-losen Gesellen beschimpfte, als den am wenigsten lateinamerikanischen Schrift-steller des Jahrhunderts ächtete, aus allen progressiven Zirkeln ausschloss, die sich mit den Literaturen des Subkontinents beschäftigten, nun kurzerhand zum argentinischsten aller Argentinier und Schriftsteller ausgerufen. Ein fürwahr bei-spielloser Vorgang, der freilich noch immer nicht abgeschlossen ist. Halten wir also fest: Jorge Luis Borges ist ein Schriftsteller aus Palermo.Nur leicht karikierend könnten wir ferner sagen: Nachdem die Europäer riefen, dass Borges einer der ihren sei, und die Argentinier ihnen hinüberriefen, man möge ihn gerne mitnehmen, schallt es nun aus allen Erdlöchern, Jorge Luis Borges sei wie kein anderer dem Heimatboden Argentiniens verbunden geblieben, sei der Inbegriff Argentiniens schlechthin, darin vielleicht nur noch Diego Armando Maradona gleich. So geht das mit Schriftstellern, an deren Größe man nicht vorbeikommt: Erst will man sie geistig exilieren, und geht das nicht,
512 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten dann muss man sie halt vereinnahmen und assimilieren. Der ‚Re-Argentinisie-rungs‘-Prozess von Borges hat in den letzten Jahrzehnten seltsame Blüten getrie-ben und wird, da fällt das Prophezeien nicht schwer, auch in den kommenden Jahren noch viel Interessantes konstruieren und zusammenbasteln. Wir sollten uns davon nicht den Blick verstellen lassen und im Auge behalten, dass wir es mit einem Schriftsteller zu tun haben, der in überzeugender Weise die spezifischen Traditionen seiner Herkunft mit weltliterarischen Filiationen auf kreative und spielerische Weise verband. Als argentinischer Autor erweiterte er die Möglich-keiten des Schreibens überhaupt in beträchtlichem Maße. Gerade deshalb also erscheint Borges unterschiedlichen Nationen in unterschiedlichem Licht, und genau deshalb ist Borges in seiner eigenen Definition ein Klassiker, lässt sein Werk doch unendliche Deutungen und Interpretationen zu. Borges ist zugleich, einen Buchtitel von ihm selbst variierend, „el otro“ und „el mismo“: der Selbe und der Andere.Jorge Luis Borges selbst hat sich zu dieser Problematik mehrfach zu Wort gemeldet. Am wortgewaltigsten und einflussreichsten tat er dies wohl in seinem Essay El escritor argentino y la tradición. In diesem ursprünglich als Vortrag kon-zipierten Text wird in gewisser Weise der doppelte Borges sichtbar und zusam-mengedacht: zum einen der Borges zwischen 1919 und etwa 1935, mit dem wir uns gerade beschäftigt haben, und andererseits jener Borges, der sich dann ab etwa 1935 stärker von den argentinischen Inhalten abwandte. Letzterer legte den Grundstein für seinen universalen Ruhm durch die Behandlung universaler Themen. Paradoxerweise war es dieser universale Ruhm und die Weltgeltung, die ihm zuteilwurden, welche ihn dank einer sich drehenden Rezeptions-geschichte nachträglich wiederum in einen Argentinier verwandelten. Dies ist die mythische Genese des postmodernen Borges, jenes argentinischen Schrift-stellers, der – wie sein Biograph Emir Rodríguez Monegal meinte – zu so etwas wie einem Guru, wir könnten hinzufügen: zu einem postmodernen Guru, wurde, der auf seinen unzähligen Vortragsreisen durch die USA und Europa bisweilen frenetisch gefeiert wurde. Unbestritten ist, wie wir sahen, dass Borges selbst versuchte, diese vor 1935 liegende Zeit zu verdunkeln oder doch einige Spuren zu verwischen und durch neue, künstlich angelegte, mythische Spuren zu ver-decken.In El escritor argentino y la tradición geht Borges auf Fragestellungen ein, die sich mit T.S. Eliot in Verbindung bringen ließen, der schon darauf hingewiesen hatte, dass etwa Homers Odyssee nicht mehr ohne die Erfahrung von James Joyces Ulysses zu lesen sei – eine Tatsache, der sich noch immer viele Altphilologen ver-schließen. Und weiter noch, dass die literarische Vergangenheit von den Ver-änderungen der Gegenwart und Zukunft her transformiert und neu gedacht, in einem veränderten Sinne konstruiert und konzipiert wird. Die literarische Ver-
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 513gangenheit als heute zu schaffender Raum, in welchem jeder Schriftsteller, jede Schriftstellerin sich die je eigenen Vorläuferinnen und Vorläufer schaffen und ver-schaffen kann: Dies ist ein zentraler Gedanke, der im literarischen Gesamtwerk von Jorge Luis Borges ein durchgängiges Leitmotiv bildet.Borges wandte sich in diesem brillanten Essay vehement gegen alle Vertrete-rinnen und Vertreter des Autochthonen in der Literatur, die allein auf diesem Wege die Schaffung einer ‚eigenständigen‘ Literatur für möglich hielten. Ihnen allen hielt er entgegen, dass Mohammed keine Kamele in den Koran aufnehmen musste, um den Koran zu einem authentischen arabischen Buch zu machen – ein Satz, den wir uns merken dürfen wie vieles, was Borges an Einsichten in den langen Jahrzehnten seiner literarischen Arbeit ausgedacht hat – auch wenn im Koran, wie ich höre, mitunter durchaus Kamele auftauchen mögen.Nun, bekanntlich sind die wirklichen Europäer nicht die Europäer, sondern die Lateinamerikaner. Wie, Sie zweifeln noch daran? Doch ein Brite, Deutscher, Franzose, Italiener oder Schwede überblickt nicht die europäische Kultur und Literatur in ihrer Gesamtheit, sondern sieht immer wieder vor allem das Natio-nale, bleibt rückgebunden an seine britische, deutsche, französische, italienische oder schwedische Kultur- und Literaturtradition. Wie könnte er da noch von der Literatur Europas sprechen?Nicht so der Argentinier. Ihm steht alles zur Verfügung, er kann sich auf alles einlassen, kann – so dürfen wir hinzufügen – mit allem spielen und über alles verfügen. Dies war eine Idee, die verblüffend einfach und in ihren Konsequen-zen mehr als weitreichend ist. Zugleich wurde mit ihr die Autorität des Zentrums ebenso subtil wie nachhaltig untergraben. Denn im Zentrum weiß man nicht mehr über das Zentrum, sondern höchstens über einige seiner Provinzen Bescheid: Das Ganze der europäischen Kultur, der europäischen Literatur, hat man längst aus dem Blick verloren, ja schlimmer noch: Man hat es nicht einmal bemerkt. Sind die Europäer also noch die vertrauenswürdigen Hüter ihres kulturellen und literari-schen Erbes oder vielleicht doch mehr Nationalisten, die sich als Hüter Europas und seiner Literaturen aufspielen?Mit Borges gesprochen sind erhebliche Zweifel angebracht. Nur aus der Peripherie könne man das Zentrum überblicken, könne man die Gesamtheit einer Kultur durchleuchten, sich einen adäquaten Überblick verschaffen, sind alle Teile des Gesamtbildes der Literaturen und Kulturen Europas doch äqui-distant. Wir haben in die Konzeption unserer Vorlesung ja die Problematik der europäisch-lateinamerikanischen Kulturbeziehungen als Grundmuster eingear-beitet und dürfen an dieser Stelle zum einen festhalten, dass es innerhalb dieser Geschichte der hispanoamerikanischen Literaturen noch keinen so scharfsinni-gen Denker gab wie Borges, gerade auch in Bezug auf dieses transatlantische und zugleich transareale Verhältnis. Das vermeintliche Zentrum gehörte laut
514 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten dieser ingeniösen Denkfigur nun nicht länger dem Zentrum: Nicht die jewei-ligen partikularen Einsichten aus dem Zentrum waren künftig von entschei-dender Bedeutung, sondern der mit allem vertraute Blick von außen, von einer vorgeblichen Peripherie aus, welche fortan zum Brennpunkt aller Blickpunkte avancierte. Eben hier liegt die eigentliche Signifikanz jener Sätze, die Borges gleichsam autobiographisch und familiengeschichtlich im Schnittpunkt der ver-schiedensten Herkünfte und Traditionen zeigen. Es ist auch diese spezifische Position, die seine eigene Selbsteinordnung, aber auch seine ästhetischen Fun-damente wesentlich mitbestimmte.Gleichzeitig dürfen wir aber auch nicht vor der Tatsache die Augen verschlie-ßen, dass Borges sich vor allem an die Traditionslinien der europäischen Literatu-ren andockte, dass es zum Bereich der indianischen oder der schwarzen Kulturen faktisch kaum einmal Bezüge in seinem Schaffen und in seinem Denken gibt. Letztere gibt es sehr wohl aber zu volkskulturellen Traditionen, auch teilweise zu Hybridisierungserscheinungen und – vor allem beim späten Borges – ins-besondere zum Pol der (westlichen) Massenkultur innerhalb internationalisierter Kulturhorizonte. Wir sollten dies nicht vergessen, wenn wir die Ausführungen von Borges am Ende seines Vortrags zur Kenntnis nehmen.Nicht zuletzt anhand dieser Beispiele sehen wir, welch überragende Bedeu-tung Borges Lektüre und Leseprozessen als kreativen, gestaltenden und schöpfe-rischen Kräften beimaß. Daher hatte auch logischerweise die Postmoderne sehr wohl das Recht, ‚ihren‘ Borges für sich zu reklamieren. Auch sie schuf ihre eigene Vergangenheit neu und fand in diesem erblindeten Schriftsteller aus Argentinien jene Entrückung vom Kontextuellen, jenes unabschließbare Spiel der Differenz und der aufschiebenden Differierung (also der „différance“ im Sinne Jacques Derridas), welche die postmodernen Ästhetiken und unsere literarischen Wahr-nehmungen seit den sechziger Jahren so entscheidend prägten. Der blinde Borges rückte als prophetischer Seher ins Zentrum jener Postmoderne, mit der wir uns noch ausführlich beschäftigen werden.Es ist diese spezifische, durchaus ambivalente Position, die Borgesʼ eigene Selbsteinordnung, aber auch seine ästhetischen Fundamente wesentlich initiierte und ihn zu Denkfiguren führte, die später für die postmodernen Ästhetiken maß-geblich wurden. Ich möchte Ihnen dies gerne anhand eines kleinen Ausschnitts aus El escritor argentino y la tradición vorführen:Daher wiederhole ich, dass wir keine Angst haben und etwa nicht denken sollten, dass unser kulturelles Erbe das Universum ist; wir müssen es mit allen Themen versuchen und können uns nicht auf das Argentinische verlegen, um Argentinier zu sein: denn entweder ist Argentinier zu sein eine Fatalität, und in diesem Falle sind wir es auf alle Fälle; oder das Argentinier-Sein ist eine bloße Affektiertheit, eine Maske.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 515Wenn wir uns, so glaube ich, diesem willentlichen Traum der künstlerischen Schöpfung überlassen, dann werden wir Argentinier sein und zugleich gute oder erträgliche Schrift-steller.11Mir scheint, dass mit dieser Antwort eine ganze Reihe von Fragen an die Zukunft dessen, was wir heute als die Literaturen der Welt bezeichnen, eine erste und wegweisende Beantwortung finden. Festhalten dürfen wir erstens, dass mit dieser Aussage die persönlichen Positionen von Jorge Luis Borges abgesteckt und auch all die Zweifel ausgeräumt sind, ob der Verfasser der Ficciones nun ein Argen-tinier sei oder nicht. Borges verdeutlicht, dass das Argentinier-Sein, nichts mit einer Essentialität zu tun hat und kein ontologisches Faktum darstellt, sondern radikal offen in seinen immer wieder dynamisch sich verändernden Ausrichtun-gen ist. Damit ist zum einen die Komplexität einer Kultur jenseits der Essentia-lismen repräsentiert, zum anderen aber auch die Mobilität derartiger nationaler Bezeichnungen, die sich nicht an einem statischen Nationalbegriff und auch nicht an behandelten Gegenständen orientieren dürfen. Es geht also mit anderen Worten nicht um die Frage, was ein argentinischer Schriftsteller in Bezug auf eine bestimmte Tradition ist, sondern wann dieses Verhältnis in Konfigurationen gelangt, welche man als argentinisch bezeichnen darf. Und als ‚argentinisch‘ ver-steht Borges gerade den Zugriff auf alle möglichen und vorstellbaren Traditionen aus einer (vormals marginalen, peripheren) Position, welche aus der Distanz den Zutritt zu all diesen Traditionen besitzt.Damit erteilt Borges all jenen eine Absage, die als Nationalisten oder ‚Identi-täre‘ von festen, stabilen und homogenen Positionen träumen, die es in dieser Art aber weder gab noch jemals geben wird. Und dies gilt selbstverständlich ebenso für die Hüter einer „argentinidad“ wie für die Hüter eines „Deutschtums“, das in identitären Kreisen propagiert und auf mehr oder minder intelligente Weise für die Dummen in der dumpfen Garküche zubereitet wird. Wir sollten uns wie Borges nicht länger mit diesen schlechten Fiktionen von Identität beschäftigen, die in jeder Gesellschaft, in der argentinischen wie der deutschen, schon seit langer Zeit so viel Unheil angerichtet haben, immer noch anrichten und wohl auch künftig anrichten werden.Ein argentinischer Schriftsteller ist also nicht, wer wortreich und bewundernd über die Gauchos schreibt, den argentinischen Fußball hochleben lässt oder seine Protagonisten ständig in den Vorstädten Tango tanzen lässt. Eine argentinische Schriftstellerin zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie sich ausschließlich auf 11 Borges, Jorge Luis: El escritor argentino y la tradición. In Frías, Carlos V. (Hg.): Jorge Luis Borges. Obras completas, S. 273 f.
516 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten argentinische Texte bezieht oder ihre Helden beliebig häufig „che“ sagen, in den Anden Skifahren lässt oder in die Wüsten Patagoniens vordringt. Vorgefertigte Identitäten sind für Borges lediglich schlechte Fiktionen, denen er eine universale Ausrichtung gegenüberstellt. Was aber ist damit gemeint?Universal heißt zunächst einmal, dass es keinerlei Themenbereiche gibt, die den argentinischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern unzugänglich wären. Alle Themen, Problematiken, literarischen Traditionen stehen ihnen offen. Argentinische Autorinnen und Autoren können ebenso Haikus verfassen, wie sie das Denken eines Philosophen im alten China erörtern können. Oder, um bei Borges zu bleiben, eine Karte von China im Maßstab 1:1 entwerfen dürfen.Jorge Luis Borges hat sich in diesen Passagen nicht mit der Sprache beschäf-tigt, in welcher sich argentinische Schriftsteller*innen zu äußern hätten oder welcher Sprachen sie sich bedienen müssten. Er selbst schrieb ganz selbst-verständlich auf Spanisch, in der Sprache von Cervantes, wie er immer wieder betonte, und beschäftigte sich intensiv mit der Aufgabe des Übersetzers, ja war selbst ein Übersetzer, der einen James Joyce ins Spanische übertrug. Es wären aber durchaus argentinische Schriftsteller vorstellbar – und ja, es gibt sie! –, die nicht auf Spanisch, sondern auf Englisch, Deutsch oder auf Französisch schreiben.Schreibt „der argentinische Schriftsteller“ aber auf Spanisch, so stehen ihm alle literarischen Werke der Welt als Bezugspunkte offen und zur Verfügung; gleichzeitig aber bilden sich Bezugssysteme heraus, welche universal der gesam-ten Welt zugeordnet sind, sich aber innerhalb bestimmter Logiken einer Einzel-sprache wie etwa des Spanischen bewegen und insofern am Spanischen ausge-richtet sind. Jorge Luis Borges wurde zweifellos noch in einem weltliterarischen System sozialisiert, aber es zeichnen sich bei ihm am Horizont Zugehörigkeiten ab, welche keine einheitliche homogene Universalität mehr darstellen, sondern sehr wohl Eigen-Logiken entfalten, wie wir sie später, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Literaturen der Welt sich herausbilden sehen. Es gibt keinen essentialistisch verbindlichen Kanon mehr, wohl aber die Logiken lite-rarischer Felder, die sich jenseits nationaler Grenzen innerhalb von Sprach- und Literaturgemeinschaften herausgebildet haben. Dass es darüber hinaus auch eine Vielzahl translingualer Phänomene sowie auch die „Literaturen ohne festen Wohnsitz“ gibt, werden wir zu einem späteren Zeitpunkt zu besprechen haben.Im Verlauf unserer Beschäftigung mit Jorge Luis Borges habe ich in unserer Vorlesung über LiebeLesen12 den Schwerpunkt auf die Ficciones des Argentiniers gelegt. Ich will mich nicht wiederholen, sondern verweise Sie bei Interesse auf 12 Vgl. Ette, Ottmar: LiebeLesen. Potsdamer Vorlesungen über ein großes Gefühl und dessen An-eignung. Berlin – Boston: Verlag Walter de Gruyter 2020, S. 633–674.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 517das entsprechende Kapitel im angegebenen Buch. Ich möchte daher nur äußerst kurz auf diese Fragestellungen zurückkommen und Ihnen einige der wichtigsten Ergebnisse resümierend bieten, bevor wir uns dann anderen Texten aus der Feder des Argentiniers zuwenden wollen. Doch sind die Ficciones für ein Verständnis von Jorge Luis Borges zu wichtig, als dass man sie einfach komplett übergehen könnte.Denn dieser Band machte Borges zurecht nicht nur seit den vierziger Jahren in Frankreich und Italien, sondern spätestens seit den sechziger Jahren weltweit berühmt, weil er ein ganz bestimmtes Schreib- und Lesemodell vorführte, das der Argentinier zu einer wahrhaftigen „escritura“, besser: zu seiner „escritura“ entwickelte. Da diese Ficciones ihre architextuelle oder generische Einordnung schon im Titel vor sich hertragen, ist bei einem so hintergründigen Schriftstel-ler wie Borges Vorsicht geboten. Denn die Klassifikation als Fiktion schließt die Fiktion der Klassifikation in ihr Spiel mit ein. Borges dereguliert die abendlän-dische Logik, unterminiert subtil jegliche Klassifikation, ‚veruntreut‘ gleichsam die von ihm vorgeblich verfolgte Logik und öffnet dergestalt seine Texte auf viel-logische, mithin polylogische Strukturierungen. Sie merken: So weit ist dies gar nicht entfernt von den Zielen der historischen Avantgarden, welche ebenfalls die Logiken der Einzelsprachen wie auch bestimmter Diskurse zerstören wollten. Nur dass es Borges nicht länger um eine Zerstörung ging als um sachte Verstellungen, kaum merkliche Deregulierungen, welche man nicht als Destruktionen, sondern als Dekonstruktionen bezeichnen muss.Die erste und wohl auch von ihrem Entstehungskontext früheste der Ficcionesist El acercamiento a Almotásim. Es ist aufschlussreich, dass dieser Text schon 1936 in Borgesʼ „libro de ensayos“ Historia de la eternidad als Essay und damit als ein diktionaler, nicht-fiktionaler Text erschien.13 Er wurde 1941 in die Sammlung El jardín de senderos que se bifurcan sowie zusammen mit dieser dann 1944 in die Ficciones aufgenommen und gab sich als Rezension des Romans „The approach to Al-Mu’tasim“ eines gewissen Mir Bahadur Alí aus Bombay zu erkennen. Bemer-kenswert nur, dass es diesen rezensierten Text niemals gab, der Bezugstext selbst also eine Erfindung von Borges war und damit eine Bewegung von Diktion zu Fiktion und wieder zur Diktion einsetzt, die tendenziell unendlich ist und diesen kleinen Text in einen friktionalen verwandelt.Borges hatte damit ein Schreibmodell gefunden, das auf einer unabschließ-baren Bewegung zwischen diktionalen und fiktionalen Dimensionen kurzer Texte beruht und darauf abzielt, das Lesepublikum in diese friktionale Bewegung mit-einzubeziehen. Dies bedeutete zugleich, dass Rezensionen wie Fiktionen und 13 Rodríguez Monegal, Emir: Borges. Una biografía literaria, S. 295.
518 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten Erzählungen wie Rezensionen gelesen werden konnten, also ein wichtiger Teil der friktionalen Energie vom Lesepublikum aufzubringen war. Zu diesen produktiven Lesern zählte auch Michel Foucault, der bekanntlich Borgesʼ Text El idioma analí-tico de John Wilkins zum Ausgangspunkt seiner archäologisch-epistemologischen Untersuchungen in Les mots et les choses machte. Die Lektüre des französischen Philosophen ging vom Verweis auf eine chinesische Enzyklopädie aus, um auf kreative Weise die logischen Kategorisierungen ad absurdum zu führen, getragen von jenem „Lachen, das bei seiner Lektüre alle Vertrautheiten unseres Denkens auf-rüttelt“.14 Foucault hatte auf produktive, kreative Weise verstanden, dass Borgesʼ fiktionaler Rückbezug auf eine altchinesische Enzyklopädie die abendländische Logik und deren epistemologische Umbrüche auf die Probe stellen und damit mit den Mitteln der Fiktion zu dekonstruieren suchte. Sein Lachen war ein produktives Lachen über jene Diktion, die mit den Mitteln der Fiktion erzielt wurde.Zum Schreibmodell von Borgesʼ Ficciones gehörte eine ins Unüberblick-bare gesteigerte Intertextualität, welche in gewisser Weise jene Spiegelung von Spiegeln bewerkstelligte, von der Maurice Blanchot mit Blick auf die Zukunft der Literatur berichtete. Wenn in den sechziger Jahren die aus Bulgarien stammende Theoretikerin Julia Kristeva für diese so zentrale Dimension den Begriff „Inter-textualität“ erfand, so zielte auch diese Begriffsbildung gegen den Begriff der Intersubjektivität und damit auf die Konzeption eines Subjekts und seiner Iden-tität, welche zum Kernbestand abendländischer Philosophie gehörten.15 Inter-textualität lässt sich heute begreifen als das schlagende Herz der Literaturen der Welt, gelingt es diesen doch mit Hilfe intertextueller Bezüge, einen literarischen Text auf eine Vielzahl anderer literarischer Texte hin zu öffnen und dadurch seine offene, ludische Vieldeutigkeit noch zu erhöhen.Auf die Spitze getrieben wird dieser Prozess in der vielleicht berühmtesten Erzählung innerhalb der Ficciones, in Pierre Menard, autor del Quijote. Dieser kurze Text hat im Verlauf der Jahrzehnte seit seiner Erstveröffentlichung ganze Bibliotheken an Forschungsliteratur hervorgebracht und Borgesʼ Ruhm als post-modernem Autor definitiv begründet. Denn in diesem wohl 1939 verfassten Text geht es um einen im Titel genannten Schriftsteller namens Pierre Menard, von dem doch jedermann weiß, dass er nicht der Autor von Cervantesʼ Don Quijotesein kann. Eine Fälschung also?14 Vgl. hierzu ausführlich Ette, Ottmar: „Die Listen Alexander von Humboldts. Zur Epistemolo-gie einer Wissenschaftspraxis“ (Vortrag am Freiburger FRIAS im Juli 2019).15 Vgl. Ette, Ottmar: Intertextualität. Ein Forschungsbericht mit literatursoziologischen Anmer-kungen. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) IX, 3–4 (1985), S. 497–522.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 519Der Text präsentiert sich als literaturwissenschaftlicher und damit diktiona-ler Text, der dem Andenken dieses Autors namens Pierre Menard entgegen aller Verstellungen und Verballhornungen gerecht werden will. Es geht folglich um die bereits im Titel angesprochene Autorschaft, aber auch um die Autorität eines Ich-Erzählers, der dem unsichtbaren Werk Menards Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Der Autorbegriff steht im Mittelpunkt der Erzählung, ist es doch das große Ziel von Pierre Menard, den Don Quijote nicht etwa zu kopieren oder zu fälschen, sondern Satz für Satz, Komma für Komma neu und identisch niederzuschreiben – ein Vorhaben, das die (sichtbare) Autorschaft selbst zum Verschwinden bringen wird. Ohne an dieser Stelle auf die literarischen Details der borgesianischen Dar-stellung eingehen zu können, wird doch rasch deutlich, dass Pierre Menard zu jenen Autoren gehört, in deren Schreiben sich Literatur und Literaturtheorie, Übersetzung und Literaturwissenschaft, Fiktion und Diktion unaufhörlich mit-einander verquicken. Die Grundformel des Paradoxons ist der Erzählung Borgesʼ auf verschiedensten Textebenen mitgegeben; und zugleich führt die Erzählung die verschiedenartigsten Formen jener Intertextualität vor, welche in Gérard Genettes Grundlagenwerk der Palimpsestes – La littérature au second degré durch-buchstabiert werden. Wie das Werk von Pierre Menard verbindet der Text von Borges nicht nur Literatur und Literaturwissenschaft, Fiktion und Diktion mit-einander, sondern auch Theorie von Literatur mit Formen von Literatur, welche wir nicht anders denn als „literarisch“ bezeichnen können. Wir haben es mit den faszinierenden Spiegelungen von Spiegeln, die sich spiegeln, zu tun. Dass dabei ein ganzes Universum aus intertextuellen Bezügen, folglich aus Büchern entsteht, ist eine logische Folge.Sie sehen: Wir befinden uns in einer gleichsam unendlichen Kette von Texten, ja in einem eigentlichen Netzwerk von Büchern, wo in dieser Erzählung nicht nur eine Vielzahl expliziter Intertexte, sondern auch weitere Bezugstexte für die Lektüre von Texten herangezogen und kreativ angeeignet werden. Letztere erläu-tern, wie Pierre Menard den Plan fassen konnte, einige Kapitel des Don Quijote de la Mancha neu und zugleich mit dem Originaltext auf Punkt und Komma iden-tisch zu verfassen. Pierre Menard ging es keineswegs um die Abfassung eines zeit-genössischen Don Quijote, also um so etwas wie James Joyce Ulysses in Bezug auf den homerischen Ursprungstext. In einer Reihe von Zwischenschritten versuchte er, sich dem Originaltext von Cervantes so anzunähern, dass eine völlige Überein-stimmung, eine wahre Verschmelzung erfolgt. Kein Wunder, dass der Ich-Erzähler bei der Lektüre von Don Quijote den Eindruck hat, nicht länger einen Roman von Cervantes, sondern von Pierre Menard zu lesen.Doch nicht umsonst sind dreihundert Jahre vergangen. Das Faszinierende ist, dass der auf den ersten Blick identische Text im 20. Jahrhundert andere Bedeu-tungen annimmt und aufgibt, als es der Originaltext von Cervantes in seiner
520 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten Zeit konnte. Zwar spricht sich im achtunddreißigsten Kapitel Pierre Menard für dieselbe Option zwischen den Waffen und den Wissenschaften aus, tut dies im Unterschied zu Cervantes aber in einer Zeit, in der Bertrand Russell schrieb oder Julien Benda seine Trahison des clercs, seinen Verrat der Intellektuellen veröffent-lichte. Die Entstehungskontexte und damit die Verstehenshorizonte haben sich in diesen dreihundert Jahren fundamental verändert, nicht zuletzt im Bereich der Literatur durch die Veröffentlichung des Don Quijote de la Mancha selbst. Der identische Text ist also nicht identisch, oder anders: Die Wiederholung eines Iden-tischen produziert eine Differenz, welche auf dem Differieren in der Zeit beruht. Damit entwarf Borges einen der Grundgedanken jenes philosophischen Werkes, das der französische Philosoph Jacques Derrida Jahrzehnte später entfaltete und mit der Bezeichnung „différance“ versah: Die Wiederholung des Identischen ist nicht identisch.Sie verstehen nun hoffentlich besser, warum für mich nicht die Philosophie die Leitschule und normative Vorgabe für die Entfaltung der Postmoderne dar-stellt, sondern die Literatur als wunderbarem und vieldeutigem Erprobungs-raum für neue Formen des Denkens, Argumentierens und Imaginierens! Denn die Literatur ist jenes experimentelle Labor, in welchem erprobt wird, was erst später in bestimmten Disziplinen wie der Philosophie auf den Begriff gebracht und dadurch zugleich aus der kreativen Bewegung herausgenommen, fixiert und fest-gestellt wird. Es ist kein Zufall, dass die Vertreter abendländischer Dis-ziplinen wie Michel Foucault, Jacques Derrida oder Gérard Genette allesamt in ihren Schriften Jorge Luis Borges zitierten und somit auf den experimentellen Vorlauf im Bereich der Literatur aufmerksam machten. Denn gerade in seinem Pierre Menard, autor del Quijote eröffnete der argentinische Schriftsteller einen Raum, in welchem sich die Archäologie Michel Foucaults, die Palimpseste Gérard Genettes oder die Hinterfragung von Identität und Subjekt bei Jacques Derrida ansiedeln konnten.Doch verfolgen wir diese Spuren, denen ich in meiner Vorlesung über Liebe und Lesen nachgegangen bin, hier nicht weiter! Wir haben verstanden, wie pro-duktiv Borgesʼ Formel der Kombination fiktionaler mit diktionalen Schreibweisen war. Denn diese Kombinatorik ermöglichte dem Ich ein Spiel auf verschiedenen Ebenen: Einerseits konnte eine Geschichte erzählt werden, auf welche sich der Erzähler selbst aus distanzierter Position heraus metaliterarisch und poetologisch beziehen durfte. In einem weiteren Schritt werden diese Bezüge wiederum in einen Teil der Erzählung so verwandelt, dass es gerade die diktionalen Teile des Textes waren, denen Borges die fantastischen Aspekte seines Schreibens über-trug. Zugleich ermöglichte diese Schreibweise, das Erzähler-Ich – ganz wie bei diktionalen Texten – unvermittelt und unverblümt einzubauen, so dass auch eine autobiographische Komponente hinzutrat, die schon per se zwischen diktionalen
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 521und fiktionalen Polen hin- und herzupendeln pflegt. Auf diesen Grundbausteinen errichtete Borges eine literarische Kombinatorik, die sich durch zahlreiche inter-textuelle Verweise stetig verkomplizierte, ohne doch der Leserschaft den Ein-druck zu vermitteln, in einem sterilen Namedropping gefangen zu sein: Zu kunst-voll waren diese Verweise in den Spannungsbogen der Erzählung integriert, als dass sie die Haupthandlung der Erzählung in irgendeiner Weise belastet hätten. Alles wirkt ebenso logisch wie ludisch und führt die Leserschaft mit spielerischer Leichtigkeit in Regionen, die sich zwanglos zwischen Literatur, Ästhetik und Phi-losophie ansiedeln.Bleiben wir noch einen Augenblick bei Borgesʼ Ficciones, kehren diese Dimen-sionen doch in potenzierter Form in der Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertiuswieder! In dieser fantastischen Erzählung ist es nicht die Lektüre eines Buches, sondern einer Enzyklopädie, die den Ausgangspunkt des gesamten „cuento“ bildet. Im ersten, auf 1940 datierten Teil dieses Textes wird auf einen etwa fünf Jahre zurückliegenden Dialog mit dem bereits erwähnten Freund und Schriftstel-lerkollegen Adolfo Bioy Casares verwiesen. Er dreht sich um die Möglichkeiten, einen Ich-Roman mit einer sich in Widersprüche verwickelnden Erzählerfigur so zu schreiben, dass eine erzähltechnische Anlage geschaffen wird, die es nur „sehr wenigen Lesern“ gestatten soll, „eine grässliche oder banale Realität“ zu erraten.16 Die Erinnerung an die Lektüre eines Lexikonartikels wird damit inner-halb eines zu zweit dialogisch entworfenen Schreibprojekts situiert, dessen Ziel einer Verrätselung eine oberflächliche, unaufmerksame und konsumptive Lesart möglichst weitgehend ausschließt. Denn Leserin und Leser müssen sich in Bewe-gung setzen: Ohne es zu Beginn einer ersten Lektüre schon wissen zu können, sind sie bereits unterwegs zum Orbis Tertius. Doch welche fantastischen Aben-teuer erwarten sie dort?Zunächst einmal setzt Tlön, Uqbar, Orbis Tertius mit der Erinnerung an diese zurückliegende Lektüre ein. Die „ficción“ geht aus von der ersten Lektüre eines Artikels über ein Land namens „Uqbar“, welcher sich in „The Anglo-American Cyclopaedia“ (New York 1917), einer scheinbar wortgetreuen Raubkopie der Encyclopaedia Britannica von 1902, befindet. Wir sind wieder tief im diktionalen Bereich – und doch mittendrin im Fiktionalen, erwartet die Leserschaft doch ‚unterhalb‘ der scheinbar philologischen Oberfläche der gähnende Abgrund einer gefährlichen literarischen Erfindung. Nach einer Serie bibliographischer Nachfor-schungen gelangen Ich-Erzähler und Bioy Casares zu der Erkenntnis, dass es sich bei diesem Artikel um ein Unikat handelt, welches sich in keinem anderen kon-16 Borges, Jorge Luis: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. In (ders.): Obras Completas. 1923–1972. Buenos Aires: Emecé Editores 1985, S. 431.
522 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten sultierten Exemplar dieser Ausgabe finden lässt. Sollte es sich um eine gefälschte Enzyklopädie handeln?Die vier zusätzlichen, Uqbar gewidmeten Seiten des sechsundvierzigsten Bandes dieser Enzyklopädie werden im Zuge dieser detektivischen Arbeit einer neuerlichen kritischen Lektüre unterzogen. Die erneute, wiederholte Lektüre taucht in Borgesʼ Schriften schon früh als ein Grundbestandteil seiner Ästhetik auf; in dem bereits 1927 erstmals veröffentlichten Text La fruición literaria etwa wird das erneute Lesen gegenüber einer ersten und alleinigen Lektüre gerade hinsichtlich seiner lustvollen Komponente herausgestellt. In Borgesʼ Welt spielen Wiederholungen, wie wir schon sahen, eine Schlüsselrolle, eröffnen sie doch in jeglicher Hinsicht ein hintergründiges Spiel von Differenzen und Differierungen.Das Ergebnis dieser vieräugigen Lektüre – welche der vierhändigen Schreib-weise von Bioy Casares und der Erzählerfigur entspricht – ist gleichsam ein Text mit doppeltem Boden: „Beim Wiederlesen entdeckten wir unter seiner präzisen Schreibweise eine grundlegende Unbestimmtheit.“17 Unter der Oberfläche eröff-net sich eine fantastische, beunruhigende Welt, die mit mancherlei Überraschun-gen aufwarten kann.Es zeigt sich nicht allein, dass der vorgegebene Artikel die Charakteristika dieser enzyklopädischen Textsorte überzeugend zu reproduzieren weiß, sondern dass er gleichsam ‚unter‘ dieser Oberfläche eine Reihe literarischer Verfahren ins Werk setzt, um dem von ihm beschriebenen Land Uqbar einen möglichst unauf-fällig-realen Platz innerhalb des Raumes geographischer, historischer und poli-tischer Faktendarstellung zu geben. Die Grenze zwischen „Fakes“ und „Facts“ ist schwer zu bestimmen. In den Kategorien Gérard Genettes handelt es sich um einen (scheinbar) diktionalen Text, der nur durch einen intensiven Lektüreprozess als fiktional angelegt erkennbar wird. Der Zweifel, die Unbestimmtheit („vague-dad“) bestehen fort, ja vergrößern sich. Bereits auf dieser Ebene zeigt sich, dass dem Schreibprojekt von Erzähler und Bioy Casares eine Lesepraxis entspricht, die an einem Text vorgeführt wird, der selbst wiederum dem erzähltechnischen Ver-rätselungs-Projekt der beiden Künstlerfiguren entspricht. Enträtselung und Ver-rätselung, Lesen und Schreiben zeigen sich bereits im ersten Kapitel dieser Fiktionuntrennbar miteinander verbunden: So bildet dieser erste Teil eine Art Keimzelle oder generatives Modell von Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. Wie aber entwickelt sich die Erzählung weiter?Mit der zweiten, wiederholten Lektüre ist freilich erst das ‚eigentliche‘ Rätsel, nicht aber schon dessen Erklärung oder ‚Lösung‘ gefunden. Hierzu sind weitere (detektivische) Lektüreprozesse notwendig. Die soeben dargestellte Lektüre 17 Borges, Jorge Luis: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, S. 432.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 523beruhte auf einem Zufall, wie bereits der erste Satz des Textes berichtet: „Ich ver-danke der Konjunktion eines Spiegels und einer Enzyklopädie die Entdeckung von Uqbar.“18 Diese geradezu astrologische Konjunktion, welche die Erinnerung von Bioy Casares an den Satz eines Häresiarchen von Uqbar („mirrors and father-hood are abominable“) aufruft und damit erst die Aufdeckung der Fiktionalität des Lexikonartikels auslöst, verbindet auf Diktion und Fiktion miteinander ver-schränkende Weise zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Gegenstände miteinander. Buch und Spiegel stehen freilich in einer fruchtbaren Konfiguration zueinander, bildet doch auch das Buch eine Art von Spiegel, während der Spiegel das Buch vervielfacht.Die Spiegelmetaphorik ist freilich in antiker wie biblischer Tradition an die Vorstellung der Welt als Buch gebunden und lässt sich, wie Ernst Robert Curtius19aufzeigte, in der abendländischen Tradition von Literatur und Philosophie ebenso bei Aischylos oder Platon wie bei Shakespeare oder Montaigne nachweisen. Wie der Spiegel die Welt abbildet und zugleich dupliziert, ist auch das Buch – und gerade die Enzyklopädie – eine Art Verdoppelung der Welt. Die Koppelung von Spiegel und Buch, auf die wir an vielen Stellen in Borgesʼ Gesamtwerk stoßen, findet sich bekanntlich an zentraler Stelle in Stendhals Auffassung vom Roman, der als ein an einer Straße entlang geführter Spiegel die Welt in ihrem So-Sein abspiegle.20 Auch Balzac griff immer wieder auf die Spiegelmetaphorik zurück und sprach bisweilen vom „konzentrischen Spiegel“, vom „miroir concentrique“ seiner romanesken Schöpfung.21 Der Poeta doctus Borges wusste selbstverständ-lich von dieser literarischen Filiation.Damit wird die topische Metapher von der Welt als Buch,22 die in den Fic-ciones eine so entscheidende Rolle spielt, von Beginn dieser Erzählung an auch in ihren poetologischen Implikationen zumindest virtuell eingeblendet. In der Moderne werden Spiegel und Totalität immer wieder neu aufeinander bezogen, so dass man gewiss von einer Traditionslinie der Moderne sprechen darf, derer sich Borges in dieser wie auch anderen Fiktionen bediente. Borges setzt diese Vorstellung, diesen enzyklopädischen Traum erneut in Bewegung, womit sich in 18 Ebda., S. 431.19 Vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern – München: Francke 101984, S. 340.20 Ich beziehe mich hier u. a. auf die vielzitierte romantheoretische Passage im 29. Kapitel seines Le rouge et le noir.21 Vgl. hierzu Wehle, Winfried: „Littérature des images“. Balzacs Poetik der wissenschaftlichen Imagination. In: Gumbrecht, Hans Ulrich (Hg.): Honoré de Balzac. München: Fink, 1980, S. 57–81, hier S. 67.22 Vgl. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981.
524 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten dieser Kombinatorik bei ihm die Weitung auf den Kosmos, auf das Universum und die Unendlichkeit der Welten bereits andeutet.In Tlön, Uqbar, Orbis Tertius stehen wir am Rande einer rätselhaften Welt, die gleichwohl allen Regeln der Berechenbarkeit und einer figuralen Ästhetik zu unterliegen scheint.23 Ohne der hier behandelten Fragestellung dieser topischen Metapher in ihren Verbindungen zu Borgesʼ Labyrinthen weiter nachgehen zu können, sei festgehalten, dass die Metaphorik eines duplizierten, vervielfachten Kosmos nur über eine „conjunción“, das heißt eine zufällige raumzeitliche Über-einstimmung innerhalb einer geradezu berechenbaren Naturgesetzlichkeit, Aus-gangspunkt und Bedingung der Erzählung bilden.Es verwundert daher nicht, wenn der Zufall einen weiteren Lektüreprozess in Gang setzt, der zur Lösung des im ersten Teil der Erzählung aufgefundenen, aber noch nicht aufgedeckten Rätsels führen soll. Die Literatur Uqbars, so hatte es in Bioy Casaresʼ Ausgabe der „Anglo-American Cyclopaedia“ geheißen, ist phan-tastischer Natur, und ihre Epen und Legenden „bezogen sich niemals auf die Rea-lität, sondern auf die beiden imaginären Regionen Mlejnas und Tlön ...“.24 Durch einen zweiten, noch größeren Zufall, der dem Ich-Erzähler „Emotionen“ beschert, wie sie selbst die Nacht der Nächte des Islam nicht vermitteln könne, findet er den elften Band von „A first Encyclopaedia of Tlön“, die der 1937 verstorbene Herbert Ashe – wie wir vom Erzähler erfahren – einige Monate zuvor in der Bar eines Vor-stadthotels versehentlich vergessen hatte:25Es war nun zwei Jahre her, dass ich in einem Band einer Piratenausgabe einer gewissen Enzyklopädie eine allgemeingehaltene Beschreibung eines falschen Landes entdeckt hatte; nun bescherte mir der Zufall etwas noch Kostbareres und Schwierigeres. Nun hielt ich ein langes methodisches Fragment der totalen Geschichte eines unbekannten Planeten in Händen ...26Wir stehen vor einem Universum an Texten, das auf ingeniöse Weise miteinander intertextuell verflochten ist. Diese Enzyklopädie vierter Ordnung – nach Encyclo-paedia Britannica, daraus abgeleiteter „Anglo-American Cyclopaedia“ und dem veränderten Exemplar, das den Uqbar-Artikel enthielt – wird nun ihrerseits zum Gegenstand einer intensiven Lektüre dieser „totalen Geschichte“. Es handelt sich 23 Vgl. hierzu auch Ette, Ottmar: Unterwegs zum Orbis Tertius? Balzac – Barthes – Borges oder die vollständige Fiktion einer Literatur der Moderne. In: Bremer, Thomas / Heymann, Jochen (ed.): Sehnsuchtsorte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Titus Heydenreich. Tübingen: Stauf-fenburg Verlag 1999, S. 279–305.24 Borges, Jorge Luis: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, S. 432.25 Ebda., S. 434.26 Ebda.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 525um eine Lektüre, die mit einer Vielzahl nachweisbarer wie fiktionaler bibliogra-phischer Verweise auf Philosophen, Schriftsteller und Gelehrte gespickt ist, die umfangreiche Kenntnisse der Erzählerfigur vermuten lassen. Kein Zweifel: Der Ich-Erzähler muss ein argentinischer Gelehrter sein.Dabei ist dieser Ich-Erzähler keineswegs der einzige Leser, wird – so erfahren wir – in einschlägigen Fachzeitschriften doch längst ein handfester Literaturstreit zwischen so illustren und realen Intellektuellen wie Ezequiel Martínez Estrada, Drieu La Rochelle und Alfonso Reyes über Existenz oder Nicht-Existenz weiterer Bände dieser kuriosen Enzyklopädie ausgefochten. Der zuletzt genannte mexika-nische Essayist und Literaturtheoretiker, auf den Jorge Luis Borges sehr gerne in seinen Fiktionen wie in seinen Essays verwies, habe sogar vorgeschlagen, ein Team von Schriftstellern solle versuchen, die fehlenden Bände aus dem vorhande-nen zu erschließen und niederzuschreiben. Wie wir im weiteren Fortgang unserer Vorlesung noch sehen werden, war der pfiffige mexikanische Intellektuelle und Verfasser von Ifigenia cruel in der Tat jederzeit offen für derartige spielerische Mystifikationen.Die von Alfonso Reyes in Borgesʼ Ficción vorgeschlagene Variante liefe auf eine Lektüre hinaus, die zu einem kollektiven Schreibprozess führen könnte: Eine einzige Generation von „Tlönisten“, so die optimistische Prognose, würde genügen, um das immense Werk fertigzustellen.27 Die gelehrten Forschungen hätten, so der Erzähler, zu der Einsicht geführt, dass es sich bei Tlön keineswegs um ein Chaos der Einbildungskraft handele. Es gehe vielmehr um „einen Kosmos und seine innersten, ihn bestimmenden Gesetze“28 – und damit um eine voll-ständige (fiktionale) Welt, wie sie etwa Balzacs Comédie humaine bietet. Tlön ist eine vollständige Welt in vollständiger Fiktion, vollständig erfunden und daher auch vollkommen faszinierend. Damit wird die Enzyklopädie, in Fortführung der angeführten Tradition der Metaphorik von Buch und Spiegel, als ein Weltenplan aufgefasst, freilich nicht mehr bezogen auf eine ‚reale‘, sondern auf die imaginäre Welt Tlöns. Diese in mehrfacher Hinsicht beobachtbare Verstellung hat Folgen. Und es kommt im Übrigen zu einer wechselseitigen Verbindung dieser Welten, bleibt die fantastische Welt dieses Planeten doch nicht einfach innerhalb der Grenzen der Fiktion gefangen.Die unbekannte Welt von Tlön wird vom Erzähler in ebenso gedrängter wie hintergründiger Form, die an die Schnelligkeit und Leichtigkeit der „Contes phi-losophiques“ eines Voltaire erinnert, in klaren, einfachen Linien skizziert. Wis-senschaftlicher und literarischer Diskurs treten in Wechselwirkung: Wissenschaft 27 Ebda.28 Ebda., S. 435.
526 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten und Literatur gilt das Hauptaugenmerk dieser fantastischen Konstruktion, die sich als Rekonstruktion gibt. Dabei wird die grundlegende wissenschaftliche Vor-gehensweise von Benennung und Klassifikation nachhaltig entmachtet: „Jeder geistige Zustand ist irreduzibel: Die bloße Tatsache, ihn zu benennen – id est, ihn zu klassifizieren –, ist gänzlich unwichtig. Daraus könnte man ableiten, es gäbe in Tlön keine Wissenschaften, ja nicht einmal Räsonnements. Die paradoxe Wahr-heit ist, dass sie in fast unzählbarer Zahl existieren.“29Der literarische Text bietet seinem Lesepublikum hierbei immer wieder Modelle für das eigene Verstehen an. Das Paradoxon, die vielleicht in Borgesʼ Schaffen beliebteste Denk- und Argumentationsfigur, wird im ständigen Vergleich zwischen ,unserer‘ Welt und der Welt Tlöns zum wichtigsten Erklärungs- und Ver-ständnismodell. Es entzieht der Doxa als gängiger Lehrmeinung ihre (kulturelle) Selbstverständlichkeit und Macht. Dabei dringen verdrängte Elemente der abend-ländischen Philosophietradition in Tlön in einer Art Wiederkehr des Verdrängten an die Oberfläche und bestimmen die Tlönʼsche Variante eines Idealismus, als deren explizite Garanten nicht nur Berkeley und Schopenhauer, sondern mehr noch Johann Valentin Andreä und Hans Vaihinger fungieren. Allerdings tauchen sie, wie so oft bei der Wiederkehr des Verdrängten, an anderer Stelle und in anderer Funktion wieder auf, sind folglich absichtsvoll verstellt. Denn in Tlön sind die ‚irdischen‘ Klassifikationen außer Kraft gesetzt: „Sie beurteilen die Meta-physik als einen Zweig der phantastischen Literatur.“30 Damit wird die Gattung, innerhalb welcher sich dieser Text selbst situiert, ins Spiel der sich abwechselnd reflektierenden Spiegel miteinbezogen.Dem Prozess der Verdrängung folgt, um in der Begrifflichkeit der von den Avantgardisten so geschätzten Freudʼschen Traumdeutung zu bleiben, ein Prozess der Verschiebung, eine – wie man auf der Ebene der Rhetorik sagen könnte – Metonymie oder metonymische Verstellung, die es wahrlich in sich hat. Denn nicht die Philosophie als solche verändert sich, sondern ihr epistemologischer Status: Sie wird ganz einfach anders gelesen. Die akademische Disziplin verliert dadurch jegliche Essentialität: Sie wird vielmehr zu einem reinen Text- und Lektü-rephänomen, welches keinen eigenen Textstatus mehr zu beanspruchen vermag. Als fantastische Literatur aber ist sie vorrangig weder an Welterklärung noch an Erkenntniszuwachs, weder an Wahrheit noch an Wahrscheinlichkeit, sondern an der subjektiv-ästhetischen Kategorie des „Erstaunens“ („asombro“)31 ausgerich-tet. Sie vermittelt nach eigenem Anspruch keine höhere Erkenntnis mehr, sondern 29 Ebda., S. 436.30 Ebda.31 Ebda.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 527erscheint als genau das, was sie im materiellen Sinne ist: ein reines Textphäno-men mit sehr spezifischen eigenen Regeln der Diskursnormierung, das höchst unterschiedlich gelesen werden kann.Damit zeichnen sich auch auf der Ebene Tlöns Lektüreprozesse ab, die als verschiedene Lesarten ein textuelles Werk letztlich neu zu schreiben und neuen Deutungsmustern zuzuführen vermögen. Gleichzeitig werden diktionale in fik-tionale Texte verwandelt. In ganz analoger Weise wird in Tlön zwischen Büchern der „ficción“ und „de naturaleza filosófica“ unterschieden:Anders sind auch die Bücher. Jene der Fiktion umfassen ein einziges Argument mit all seinen vorstellbaren Permutationen. Jene philosophischer Natur enthalten unausweichlich These und Antithese, das strenge Pro und Contra einer Doktrin.32Lektüre ist Macht. Das textgenerierende Modell der Lektüre des apokryphen Artikels in „The Anglo-American Cyclopaedia“ erscheint in veränderter, struk-turell aber intakter Gestalt: Es ist zweifellos eine Art kleinmaßstäbliches Modell („modèle réduit“) im Sinne von Lévi-Strauss, eine – in an André Gide ausgerich-teter literaturtheoretischer Diktion – Mise en abyme verklammerter Schreib- und Lektüreprozesse der gesamten Erzählung. Mit anderen Worten: Es ist das Fraktal einer ganzen Welt, ein WeltFraktal33 im perfekten Sinne. Damit enthält es eine ver-schlüsselte Leseanweisung für den eigenen Text und beansprucht vor allem, eine Totalität, ein verkleinertes Modell einer vollständigen Welt zu sein.Die Produktivkraft dieses Schreib- und Lesemodells wird dabei auch in ihren literaturtheoretischen Implikationen vorgeführt, existiere in Tlön das Plagiat doch nicht, da der Autorbegriff selbst außerzeitlich und anonym geworden sei. Wir ver-stehen, dass Tlön so weit entfernt von unserer eigenen (Lese-) Welt nicht mehr ist und auch der Autorbegriff auf so hintergründige Weise ad absurdum geführt wird, wie dies in Pierre Menard, autor del Quijote geschah. Ein seiner Subjektivität entkleideter Autorbegriff aber wird für Konstruktionen und Schöpfungen seitens des Lesers frei verfügbar: Auch der Autorbegriff wird in Borgesʼ Friktion zu einem reinen Lektürephänomen.So verwundert es nicht, dass der Literaturkritik die schöpferische Aufgabe zufällt, Autoren dadurch zu konstruieren, dass unterschiedlichste Texte einem einzigen Autorkonstrukt zugerechnet werden.34 Dies impliziert nicht nur die Ver-lagerung des kreativen Akts auf die Leserseite, sondern zugleich auch die freie 32 Ebda., S. 439.33 Vgl. Ette, Ottmar: WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2017.34 Borges, Jorge Luis: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, S. 439.
528 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten Verfügbarkeit verschiedenster Diskurs- und Literaturformationen, die in das krea-tive Spiel des Lesepublikums miteinbezogen und in mehrfacher Weise transgre-diert werden. Alles erscheint im Spiegel der Lektüre: Der Spiegel richtet sich nicht länger wie in der realistischen Literatur eines Balzac oder Stendhal auf eine klar umrissene außersprachliche Realität, sondern auf die Phänomene der Lektüre selbst, auf ihre unterschiedlichen Lesarten. Eine die Einteilungen des Schriftguts derart transgredierende und im besten Sinne grenzüberschreitende Literatur ent-faltet nun ihre Dynamik, setzt die Literatur auch von ihrem Lesepublikum aus wie ein Mobile in (eine höchstwahrscheinlich unabschließbare) Bewegung.Zweifellos war dies eine Thematik, die auch in anderen Texten der Ficciones, allen voran Pierre Menard, autor del Quijote, literarisch entfaltet wurde und in den fünfziger beziehungsweise sechziger Jahren gerade in Frankreich – nicht nur im Umkreis von Blanchot, Foucault, Genette, Derrida oder der neo-avant-gardistischen Tel-Quel-Gruppe – größte Wirkung auf Literatur, Literaturtheorie und Philosophie entfaltete. Doch soll bei unseren Überlegungen nicht nur die Infragestellung einer sinnzentrierenden Autorfunktion als Thema, vielleicht sogar Theorem borgesianischen Schreibens im Vordergrund stehen, sondern die (gleichwohl damit verbundene) Problematik von Lektüre als textgenerierendem, lustvollem Spiel, das die Räume der Literatur nicht zur Ruhe kommen lässt und den Schwerpunkt der Aufmerksamkeit von der Produktions- auf die Rezeptions-seite verlagert.Eine kritische, im besten Sinne literaturwissenschaftliche (textinterne) Lektüre zeigte – wie wir sahen – unterhalb des scheinbar diktionalen Textes das Fiktionale, ja das Diktionale des Fiktionalen auf. Unter Mitwirkung des Zufalls als Katalysator der Ereignisse im Text – und diese Ereignisse sind letztlich stets Lektü-reprozesse – entsteht bei Jorge Luis Borges ein Textmodell, das in seiner Schreib-weise an diktionalen Modellen wie Rezension, Forschungsbericht oder literatur-kritischer Untersuchung ausgerichtet ist und zugleich auf literarisch-fiktionale Verfahren zurückgreift, welche unterschiedlichsten Gattungen entnommen sind. Rätselstruktur und Untersuchungsprozess verweisen von Beginn an auf Detektiv-geschichte und Kriminalroman; die raumzeitliche Verortung des Geschehens und die Vielzahl von Figuren, die der ‚realen‘ Welt entnommen sind, auf Strategien von literarischer Chronik beziehungsweise historischem Roman. Die gattungsspe-zifische Zuordnung der Fiktionen von Borges ist mehr als vielgestaltig.Die bis zum Ende in der Schwebe gehaltene Zuordnung des Fantastischen ent-weder zum rational Erklärbaren oder zum Allegorisch-Wunderbaren35 schließlich 35 Vgl. u. a. Todorov, Tzvetan: Introduction à la littérature fantastique. Paris: Seuil 1970, beson-ders S. 37 f. und 48 ff.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 529betont das zweifellos noch wichtigere Vorbild der fantastischen Literatur, deren schöpferische Möglichkeiten der Argentinier konsequent auslotete. Zugleich aber unterläuft die Legetik als Poetik textgenerierender Lektüre derartige Einord-nungen produktionsästhetischer Provenienz: Borgesʼ Fiktionen entziehen sich eindeutigen Definitionen und Klassifikationen. Sie sind, im Sinne des Textes, „irreduzibel“36 auf einen bestimmten gattungsspezifischen und literarischen Ort. In dieser Beweglichkeit liegt ihre Vieldeutigkeit begründet – und damit ihre Fähigkeit, immer neuen Deutungsansätzen wichtige Entsprechungen zu liefern, so dass wir sie im Sinne von Borges als ,klassische‘ Texte bezeichnen können.Die Beziehung zwischen ‚realer‘ und ‚imaginärer‘ Welt ist in Tlön, Uqbar, Orbis Tertius keineswegs eine Einbahnstraße. Längst hat das Eindringen von Elementen Tlöns in die vorgeblich ‚reale‘ Welt, die Welt des Lesepublikums, begonnen – und dies ist die eigentlich „unerhörte Begebenheit“ dieses fantastisch vielgestaltigen Textes. Die Welt von Tlön empfing die zum Teil vergessenen, zum Teil verdrängten Imaginationen der ‚realen‘ Welt. In immer nachdrücklicherer Weise aber gibt die imaginäre Welt ihre eigene Gegenständlichkeit an die ‚reale‘, ‚historische‘ Welt weiter und folgt damit den ebenso mysteriösen wie totalitären Plänen jenes von Philosophen des 17. Jahrhunderts begründeten Geheimbundes (einer „sociedad secreta y benévola“37), dessen Schöpfung Tlön beziehungsweise die Enzyklopä-die von Tlön ist. Reale Welt und fantastische Welt treten im Verlauf des Textes zunehmend in verstörende Wechselbeziehungen.Borges webt nun ein zusätzliches Spiel auf paratextueller Ebene ein. In einer auf 1947, also auf einen Zeitpunkt nach der Veröffentlichung des Textes datier-ten Nachschrift38 – der Begriff „Posdata“ wird hier in eleganter Manier wörtlich genommen – erfahren wir nicht nur, dass bereits 1914 den dreihundert Mitgliedern der verschworenen Demiurgengemeinschaft der Schlussband der ersten Enzyklo-pädie von Tlön überreicht werden konnte. Wir lesen auch, dass sich nun Ereig-nisse häufen, die vom „Eindringen der phantastischen Welt in die reale Welt“3936 Borges, Jorge Luis: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, S. 436.37 Ebda., S. 440.38 Die Wirkung dieser Nachschrift auf die ersten Leser von Tlön, Uqbar, Orbis Tertius in der Mai-Nummer 1940 der Zeitschrift Sur dürfte noch größer, wenn auch weniger ambivalent gewesen sein. Der Autor deckte hier sein Verwirrspiel gleich im ersten Satz der „Posdata“ auf: „Ich drucke hier den vorausgehenden Artikel so ab, wie er in der Nummer 68 von Sur, mit jadegrünem Um-schlag, im Mai 1940 erschien“ (zitiert nach Rodríguez Monegal, Emir: Borges. Una biografía litera-ria, S. 302). Genau diesen Band von 1940 hielt der Leser der sogenannten „Posdata“ von 1947 aber in Händen. Dies genügt freilich nicht, um den Text „unmissverständlich“ als „ein Beispiel für science-fiction“ beziehungsweise einer „ciencia-ficción utópica“ klassifizieren zu können (ebda.).39 Borges, Jorge Luis: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, S. 441.
530 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten Zeugnis ablegen. Die Trennung zwischen den Welten, zwischen den Räumen von ‚Realität‘ und ‚Imagination‘, ‚Wirklichkeit‘ und ‚Fiktion‘, ‚mimetischer‘ und ‚fan-tastischer‘ Literatur ist unversehens in Bewegung geraten: Das Hereinbrechen des Fantastischen ins Reale scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein.Doch wie erfahren wir von alledem? Ein weiterer (und beängstigender) Zufall macht den Erzähler zum Augenzeugen dieses Eindringens von Gegenständen Tlönʼscher Provenienz. Die „Dissemination von Gegenständen aus Tlön über ver-schiedene Länder“40 schreitet rasch voran: „Der Kontakt und die Gewöhnung an Tlön haben diese Welt zersetzt (‚desintegrado‘).“41 Schon macht sich im Gedächt-nis der Menschen „eine fiktive Vergangenheit“42 breit. Wie Andreäs Plan einer imaginären Gesellschaft der Rosenkreuzer später, nach seinem Tod, in eine reale Gemeinschaft verwandelt wurde, wird auch die Welt, so der Erzähler, durch die Imagination real verändert: „Die Welt wird Tlön sein.“43Mit anderen Worten: Die reale Welt wird von der phantastischen, imaginä-ren Welt her friktioniert: Ihre Grenzen werden durchlässig oder weichen vor der phantastischen Flut zurück. Die Welt von Tlön überspült alles. Zugleich wird die Gefahr des Totalitären deutlich: Die geordnete Welt der vollständigen Fiktion dringt nicht nur in das Bestehende ein, sondern kann es sich auch einverleiben und damit zum Verschwinden bringen. Wenn die Welt aber Tlön geworden sein wird, was ist dann „der noch nebelhafte“44 Orbis Tertius, eine Bezeichnung, die der Erzähler erstmals in einem Aufdruck des elften Bandes der ersten Enzyklo-pädie Tlöns fand?Den Erzähler scheint dieses Problem nicht weiter zu kümmern. Er zieht sich in einer wunderbaren Volte in eine erneute textproduktive Lektüre, in eine Über-setzung zurück, die sich ihrerseits zwischen Diktion und Fiktion ansiedelt. Er hatte allerdings schon einige Seiten zuvor als Sinnverwalter abgedankt, indem er alles Übrige dem Gedächtnis („memoria“) all seiner Leserinnen und Leser anvertraute.45 So wird der Leserin und dem Leser die Aufgabe eines neuen, nach-folgenden Schöpfungsaktes überantwortet. Die Zukunft wird dem Erinnerungs-vermögen des Lesepublikums anvertraut. Und der Ich-Erzähler zieht sich derweil in eine gut abgeschottete Welt der philologischen und literarischen Arbeit zurück, in der wir ihn nun in Ruhe arbeiten lassen können: Er hat aufgehört, sich mit 40 Ebda., S. 442.41 Ebda., S. 443.42 Ebda.43 Ebda.44 Ebda.45 Ebda., S. 442.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 531der hereinbrechenden Welt dieses Orbis Tertius noch auseinanderzusetzen. Was zählt, ist alleine die Arbeit.Mit dem Ende von Tlön, Uqbar, Orbis Tertius verlassen wir Borgesʼ Ficcionesund wenden uns abschließend einem Erzählband zu, der den Ruhm des Argen-tiniers als wegweisendem Autor um die Mitte des 20. Jahrhunderts noch vergrö-ßerte. Denn einen Höhepunkt borgesianischer Schreibweise stellt zweifellos der 1949 erschienene Band El Aleph dar, mit dessen titelgebender Erzählung wir uns nun beschäftigen wollen.Auch diese fiktionale Erzählung arbeitet mit einer ganzen Serie von Reali-tätseffekten, die wir zum Teil bereits bestens kennen. So werden zum einen die Geschehnisse außertextuell referentialisierbar verortet, indem Straßennamen oder Ortsnamen, aber auch Eigennamen historischer Persönlichkeiten verwen-det werden, welche bewusst in den fiktionalen Text eingestreut werden. Hierzu zählt unter anderem der Dichter Lafinur, der dem argentinischen Lesepublikum als argentinischer Dichter und Vetter von Jorge Luis Borges bekannt sein musste.Daneben gibt es aber auch fiktionale Gestalten wie den Dichter Carlos Argen-tino Daneri, auf den wir noch zurückkommen werden, oder Beatriz Viterbo, die übrigens gleichsam sekundär reale Gestalt angenommen hat, hat sich doch ein interessanter argentinischer Verlag der Gegenwart nach ihr benannt: Beatriz Viterbo ist so von der imaginären in die reale Welt eingedrungen und zu einer Art Verlagsgründerin geworden. Das steht dieser Beatrice auch durchaus gut zu Gesicht – doch auch hierzu später mehr! Zusätzlichen Realitätseffekt erzeugen gewiss auch präzise zeitliche Datierungen bestimmter Geschehnisse im Text, wobei derartige Verfahren uns schon aus Tlön, Uqbar, Orbis Tertius in ihrer Ambi-valenz vertraut sind. Denn auch dort hatten wir es mit einem Postscriptum zu tun, das in El Aleph – auf den ersten März 1943 datiert – eine gleichfalls wichtige Funktion übernimmt.Die Erzählung – oder sagen wir vorsichtiger: der literarische Text – beginnt mit zwei Motti, die Shakespeares Hamlet und Hobbesʼ Leviathan entnommen sind und zum einen auf die Problematik der Relativität des Raumes einerseits, der Zeit andererseits verweisen. Wieder haben wir es also mit einem literarischen Raum zu tun, der von Beginn an stark von nicht-lateinamerikanischen Referenzpunk-ten auf einer expliziten Ebene bestimmt wird, die Problematiken von Raum und Zeit thematisiert und, vielleicht wichtiger noch, sich erneut zwischen Literatur und Philosophie quer durch die Jahrhunderte ansiedelt. Für den argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges war diese (europäische) Tradition – folgen wir seinem gleichnamigen Essay – ganz selbstverständlich die ureigenste: Er fühlte sich mit Recht frei, darüber nach Belieben zu verfügen.Wie ist nun El Aleph aufgebaut? Das Grundmuster ist eine Liebesgeschichte, oder genauer: eine platonische und unerfüllt gebliebene Liebe, die den Ich-Erzäh-
532 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten ler mit eben jener Beatrice verbindet, die den Namen Beatriz Viterbo trägt. Das literarische Vorbild von Dante Alighieris Beatrice ist beim großen Dante-Liebha-ber Borges evident. Von ihrer Biographie erfährt der interessierte Leser, ganz wie bei Dante, aus verschiedenen Quellen nur sehr wenig und überdies Fragmentari-sches. Wir wissen, dass sie in höheren Kreisen verkehrte, dass sie heiratete und geschieden wurde, dass von ihr eine eigenartige Sinnlichkeit offenkundig nicht nur auf den Ich-Erzähler, sondern auch dessen literarischen Rivalen ausgeht, eben jenen Carlos Argentino Daneri, dem diese Beatrice – wie das Ich im „Aleph“ zu erblicken glaubt – eigentümlich obszöne Briefe geschrieben zu haben scheint.Beatriz Viterbo aber ist schon lange tot, starb sie doch bereits im Jahr 1929. Seit damals aber erscheint der Ich-Erzähler zum Geburtstag seiner angebeteten Schönen immer in ihrem Hause, um ihren Vater und ihren „primo hermano“ Carlos Argentino Daneri einen zeremoniellen Besuch abzustatten. Die Liebe des Ich zu dieser längst verstorbenen Frau ist mithin hoffnungslos und scheint nicht nach Verwirklichung zu streben. Oder besteht doch noch irgendeine Hoffnung für den Ich-Erzähler?Dieser versteht es, jedes Jahr seine Besuche ein wenig mehr auszudehnen, so dass er es ab 1933 dank eines draußen einsetzenden Regens schafft, zum Abend-essen eingeladen zu werden, wodurch er einige Stunden länger im Hause seiner Beatriz verweilen kann, um in seinen Erinnerungen und ihren Fotos zu schwelgen. Längst ist es zur Gewohnheit geworden, dass der Erzähler den von ihm Heimge-suchten als Vorwand für das Abendessen auch einen „alfajor“, eine Art argenti-nischen Hartkuchen, mitbringt. So weit, so gut! Die eigentliche Geschichte nach der Vorgeschichte beginnt mit dem Geburtstagsfest des Jahres 1941, also zwölf Jahre nach Beatriz Viterbos Tod – und die Zahlensymbolik spielt beim Argentinier wie schon bei Dante eine wichtige Rolle. An diesem Tage der Vervollkommnung eines symbolischen Zyklus stoßen wir mithin auf eine Passage, die für den weite-ren Verlauf der kurzen Erzählung von höchster Bedeutung ist. Sehen wir sie uns also etwas näher an:Am 30. April des Jahres 1941 erlaubte ich mir, dem Alfajor eine Flasche regionalen Cognacs hinzuzufügen. Carlos Argentino kostete ihn, hielt ihn für interessant und unternahm es nach einigen Gläsern, ein Plädoyer für den modernen Menschen zu halten.„Ich stelle ihn mir vor“, sagte er mit einer etwas unerklärlichen Lebendigkeit, „in seinem Arbeitszimmer, so als sagten wir im Turm der Kaufleute einer Stadt, versehen mit Telefonen, mit Telegraphen, mit Aufnahmegeräten, funktelefonischen Apparaten, Kinematographen, Zauberlaternen, Glossaren, Zeittafeln, Aufzeichnungen und Notizblöcken ...“Er merkte an, dass für einen derart ausgestatteten Menschen der Akt des Reisens unnütz sei; unser 20. Jahrhundert hatte die Fabel von Mohammed und dem Berg von Grund auf verändert; jetzt strebten alle Berge dem modernen Mohammed zu.So tollpatschig erschienen mir diese Ideen, so pompös und weitschweifig ihre Darstellung, dass ich sie umgehend mit der Literatur assoziierte; ich fragte ihn also, warum er dies nicht
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 533niederschreibe. Vorhersehbarerweise antwortete er, dass er dies bereits getan habe: Diese Konzepte und andere nicht weniger neuartige Begriffe standen im Eröffnungsgesang, im Vorwortgesang oder ganz einfach Vorwort-Gesang eines Gedichts, an dem er seit vielen Jahren arbeitete, ohne réclame, ohne marktschreierischen Tumult, stets auf jene beiden Stäbe gestützt, die Arbeit und Einsamkeit heißen. Zunächst öffnete er die Schleusen der Einbildungskraft; sodann griff er zur Feile. Das Gedicht trug den Titel Die Erde; es handelte sich um eine Beschreibung des Planeten, in der es weder an malerischen Abschweifungen noch an kühnen Wendungen mangelte.46Ich darf Ihnen an dieser Stelle die weiteren Hinweise auf die weltumspannende Schöpfung von Carlos Argentino Daneri genannt „La Tierra“ – also eine Art Canto General à la Pablo Neruda – ersparen. Zwölf Jahre sind also vergangen seit dem Tode von Beatriz Viterbo, und die Liebe des Ich-Erzählers ist nach Vollendung dieses ersten Zyklus der heiligen Zahl 12 eher noch größer geworden. Zugleich aber auch seine Verachtung gegenüber Carlos Argentino Daneri. Durch den erst-mals mitgebrachten Alkohol – einen Pseudo-Cognac, wie sich Argentino Daneri später ausdrücken wird – löst sich dem CousinBeatrizens, erstmals die Zunge, und er gesteht seine literarische Leidenschaft ein. Dabei ist es herrlich, mit welcher Ironie sich der Ich-Erzähler über diese literarische Arbeit lustig macht.Im Zentrum des großen Gedichts steht offenkundig die Dimension des moder-nen Menschen. Dieser moderne Mensch ist – wenig erstaunlich – von allerlei tech-nischen Apparaten umgeben, eben jenen Emblemen der Moderne, die bereits im hispanoamerikanischen Modernismo eine gewisse Rolle gespielt hatten, dann aber in der eher technikbegeisterten Avantgarde einen zentralen Platz einnah-men. Wir können uns also schon vorstellen, was dieses ästhetische Spiel bezwe-cken soll: Carlos Argentino Daneri wird zu einer Art ästhetischem Gegenbild des Ich-Erzählers aufgebaut, der ja selbst auch schreibt und veröffentlicht. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich zu wissen, dass sein weltumspannender Plan durchaus Akzente trägt, die auf Modernismo und Vanguardia verweisen. Klar ist dabei, dass vom Ich-Erzähler der Aspekt der Moderne mitsamt all seiner technikhörigen Attribute verhohnepiepelt wird.Jorge Luis Borges wäre aber nun nicht Borges, wenn diese Elemente von Beginn an nicht mit Raum und Zeit verknüpft wären. Die Modernität der Situation des 20. Jahrhunderts besteht offenkundig darin, dass die Technik es dem Men-schen abnimmt, selbst noch persönlich eine Reise zu unternehmen und sich im Raume (und in der Zeit) zu bewegen. In der Sichtweise wie im poetischen Erguss von Carlos Argentino Daneri treten die technologischen Krücken an die Stelle der Reiseerfahrung und machen diese unnütz. Gleichzeitig wird dadurch ein weiteres 46 Borges, Jorge Luis: El Aleph. In (ders.): Obras Completas, S. 618 f.
534 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten wichtiges Thema eingeführt, alle Informationen über die Welt an einem einzigen Punkt zu bündeln, gleichsam zusammenlaufen zu lassen. Es ist die Kombination dieser beiden Bewegungen in Raum und Zeit, welche vom Ich-Erzähler gegen die banale Vorstellung vom modernen Menschen mit seiner Technik-Besessenheit und seinem blinden Glauben an den Fortschritt ins Feld geführt wird. Denn eine derartige Vorstellung erscheint nicht nur in der Literatur als bloßes Klischee, sondern auch im wirklichen und alltäglichen Leben. Kein Wunder, dass ein der-artiger Mensch der Moderne samt all seiner Fürsprecher freundlich verabschiedet wird.Doch noch einmal zurück zum Ort dieses „hombre moderno“. Denn er sitzt in seinem Arbeitszimmer im Schnittpunkt aller Wissensströme, die von ihm in Raum und Zeit miteinander verbunden werden können. Auf diese Weise kann der moderne Mensch verschiedenste Informationen bündeln, die ansonsten über den Raum verstreut und ihm nicht zu Diensten wären. Allerdings sollten wir uns vor Augen führen, dass diese Apparate-Ästhetik weit weniger überzeugend die Problematik der Reise in der Zeit zu lösen vermag, vor allem wenn wir berück-sichtigen, dass Raum und Zeit in der abendländischen Kultur stets zusammen-gedacht werden, auch wenn die beiden Motti der Erzählung beide Bereiche klar voneinander unterscheiden.Sehr hübsch ist an dieser Stelle der Erzählung der Übergang zum Bereich der Literatur gestaltet. Denn der Ich-Erzähler, der sich ja selbst als wichtiger Schrift-steller versteht, verurteilt die von Carlos Argentino Daneri entfaltete Sichtweise des modernen Menschen als pompös und weitschweifig, weil er von Beginn an verstanden hat, welcher aufgeblasenen und abgeschmackten Ästhetik sich das literarische Machwerk seines Rivalen verdankt. Sein Konkurrent in der Liebe zur schönen Beatriz Viterbo wird es ebenfalls in der Literatur: Liebe und Lesen werden einmal mehr enggeführt, verbinden sich wechselseitig miteinander, so wie es in einer langen abendländischen Literaturgeschichte stets der Fall war.47Doch nur mit Blick auf Daneri wird das Literarische von der Ebene des Kunst-vollen in jene des Künstlichen degradiert.Ein weiterer Übergang ist in dieser Passage nicht weniger meisterhaft gestal-tet: der von der direkten Rede von Carlos Argentino Daneri über dessen indirekte Rede und den Erzählerkommentar bis hin zum „style indirect libre“, zum „estilo indirecto libre“. Diese erlebte Rede gibt zugleich auch die ablehnende Distanziert-heit des Erzählers wider, der in ihr berichtet. Wir erfahren auf diese Weise von der Poetik, zugleich aber auch der konkreten literarischen Arbeitsweise unseres 47 Vgl. Ette, Ottmar: LiebeLesen. Potsdamer Vorlesungen über ein großes Gefühl und dessen An-eignung. Berlin – Boston: Verlag Walter de Gruyter 2020.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 535großen Dichters – oder Dichters des Großen –, der zunächst die „Schleusen seiner Einbildungskraft“ öffnet und eine möglichst umfangreiche Stoffsammlung anlegt, um daran dann die Feile anzusetzen und den Stoff zu gestalten. Die Poetik Carlos Argentino Daneris beruht auf der mimetischen Abbildung der gesamten Erde in seinem lyrischen Text – und der Name „Argentino“ verweist darauf, dass Borges hier zweifellos auch einige Landsleute im Visier hatte.Die Poetik dieses „Argentiniers“ ist, wie wir später erfahren, durchaus wört-lich zu nehmen, insofern Daneri wirklich Stück für Stück die Erde (wie wir heute sagen würden) mimetisch abscannt. Eine Wegkreuzung in Australien, einige Hochhäuser in einem nordamerikanischen Bundesstaat, eine Provinzstraße hier, eine Landschaft dort: Das Gedicht von der Erde will wie die Erde sein, will ein verkleinertes Modell unseres Planeten darstellen. Fürwahr eine monumentale Aufgabe, die ein wenig mit jener anderen Idee von Borges in Verbindung zu bringen ist, eine Landkarte des Riesenreiches China im Maßstab 1:1 anzulegen. Wie aber funktioniert die Informationsvermittlung, um eine so gigantische Aufgabe zu bewältigen? Ist es einfach der moderne Mensch, der sich durch seine Apparate die Reisen zu ersparen vermag? Carlos Argentino Daneri hat da noch etwas anderes als Trumpf in der Hinterhand.Schauen wir uns zunächst einmal das Projekt von Daneri genauer an! Wir dürfen festhalten, dass er in seiner Ästhetik eine hochpotenzierte Intertextua-lität verfolgt, ist doch in der ersten Strophe seines Freskos bereits die gesamte Literaturgeschichte seit der Antike eingefangen. Darüber hinaus ist auch an die Mehrsprachigkeit gedacht, die sich wiederum auf die Problematik des Reisens und der Reise bezieht. So ist letztere im Gedicht explizit eine Bewegung „autour de ma chambre“, was an eine lange literarische Tradition erinnert, in der wir nicht zuletzt auch die Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts erkennen können. Ver-wiesen sei hier natürlich an erster Stelle auf den Voyage autour de ma chambrevon Xavier de Maistre oder auch auf Denis Diderots Supplément au voyage de Bou-gainville mit der Feststellung eines Dialogpartners, man könne sich das Reisen im Raum durch die Lektüre ersparen: Lesend könne man „faire le tour du monde sur notre parquet“. Leicht ließe sich diese Dimension von Reisebewegungen weiter ausbauen und in Bezug setzen zur Problematik von Reisen und Lesen,48eine Wechselbeziehung, welche gerade im ausgehenden 18. Jahrhundert mit dem Übergang von der Textwissenschaft zu einer dominant auf Erfahrung auf-bauenden empirischen Wissenschaftskonzeption in Verbindung zu bringen wäre. Doch wollen wir dieses Thema hier nicht weiter verfolgen, ist die Komplexität der 48 Vgl. hierzu die Vorlesung von Ette, Ottmar: ReiseSchreiben. Potsdamer Vorlesungen zur Rei-seliteratur. Berlin – Boston: Walter de Gruyter 2020, S. 396–438.
536 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten von Borges in El Aleph ins Spiel gebrachten Bezüge doch ohnehin so hoch, dass es keiner zusätzlichen Komplexifizierungen bedarf. Versuchen wir vielmehr, die Grundkonstellationen in Jorge Luis Borgesʼ berühmter Erzählung noch deutlicher herauszuarbeiten!Bezüglich der bereits mehrfach angesprochenen Intertextualität bemerken wir sehr wohl, dass nicht alles in der Ästhetik Daneris der des realen Borges fremd ist, dass also bisweilen nachhaltig die ironische Präsentation durch eine selbst-ironische Darstellung ergänzt wird. Denn auch Borges fing in seinen Ficcionesunverkennbar ganze Jahrhunderte literarischer und philosophischer Tradition in wenigen Sätzen ein und bemühte sich um eine Darstellung ganzer (imaginärer) Welten – denken wir nur an die Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius oder auch La Biblioteca de Babel, die ich – wie erwähnt – bereits andernorts interpretiert habe.Doch müssen wir an dieser Stelle nochmals eine klare Trennung einführen: Denn wir sollten scharf und eindeutig zwischen einem textexternen realen Autor mit Namen Borges und einer textinternen Erzählerfigur unterscheiden! Letzter trägt – wie wir im Verlauf der Geschichte erfahren werden – ebenfalls den Namen „Borges“. Auch dies ist natürlich ein geschicktes Stratagem, um die in diktiona-len Texten übliche Identifikation von „Ich“ beziehungsweise Erzählerfigur und realem Autor, also textexternem Schriftsteller, dem geneigten Lesepublikum unterzujubeln. Das Stratagem ist dabei ebenso einfach wie wirkungsvoll, auch wenn es in El Aleph bereits in einer ambivalenten und potenzierten Form vor-kommt, ist doch der erfahrene Borges-Leser längst damit vertraut und kann dieses Selbstzitat quasi als ein literarisches Augenzwinkern interpretieren. Dennoch hat es auch in El Aleph seine Wirkung auf die zeitgenössische Kritik und Literaturwis-senschaft nicht verfehlt.Die Gedichte von Carlos Argentino Daneri hatten bereits die Verfügbarkeit von Geschichte hervorgehoben, sind doch von den ersten vier Zeilen seines Poems an nicht weniger als dreitausend Jahre Literaturgeschichte präsent. Diese Verfügbarmachung betrifft aber auch die Dimension des Raumes, insofern die Beschreibung der gesamten Weltkugel das explizite Ziel seiner lyrischen Ergüsse darstellt. Man kann in der Behandlung dieser Dimensionen mit ihrer deutlichen Vergleichzeitigung von Raum und Zeit die vorweggenommenen Theoreme von „Posthistoire“ und „Postmoderne“ erkennen, welche in diesem Prosatext von Borges vor-gedacht und vorexerziert werden. Insbesondere die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sowie die Verfügbarkeit von Raum und Zeit im literarischen und semiotischen Spiel sind für eine solche Literaturpraxis charakteristisch. Der Erzähler in El Aleph macht zugleich auch auf eine wichtige Dimension beim ihm verhassten Rivalen aufmerksam, schreibe dieser doch nur deshalb Literatur, um danach über das Selbstgeschriebene nachzudenken und dieses eben wunderbar zu finden. So wird Literatur nicht um ihrer selbst, sondern um der nachfolgenden
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 537pseudokritischen Texte ihrer Verfasser selbst wegen geschrieben, ein Missver-ständnis oder gar ein Missbrauch, der hier freilich mit einem starken Augenzwin-kern vorgetragen wird.Wie aber geht nun die eigentliche Geschichte, also ihr „récit“ oder Plot weiter? Unsere Erzählerfigur namens Borges wird in der Folge immer stärker in das lite-rarische Großprojekt Daneris hineingezogen. Dabei ist es ironischerweise gerade ein Modernisierungsprozess, der den argentinischen Dichter in arge Verlegenheit bringt, soll doch sein Haus mit allem, was sich darin befindet, abgerissen werden und für immer verschwinden. Denn es sind Café-Betreiber im Verbund mit argen-tinischen Geschäftemachern, die ein von Daneri bewundertes Kaffeehaus der-gestalt ausweiten wollen, dass es auf Kosten seines eigenen Hauses modernisiert werden soll. Dies jedoch stellt den Dichter vor ein gewaltiges Problem, kann er doch nur in diesem Haus finden, was für seine Dichtung unabdingbar zu sein scheint: das „Aleph“. Was aber ist das?Wir wissen, dass es sich um den ersten Buchstaben im hebräischen Alphabet handelt, und wir wissen vielleicht auch noch, dass ihm – ähnlich wie Alpha und Omega im christlichen Diskurs – eine weltumspannende Kraft und Bedeutung zugeschrieben wird, eine Repräsentation des Universums, welche insbesondere durch die Kabbala im Judentum breit entwickelt wurde. Aber wer kann denn ein Aleph sein eigen nennen oder wie Carlos Argentino Daneri ganz einfach zuhause besitzen?Unserem Ich-Erzähler namens Borges jedenfalls bleibt nichts anderes übrig, als zu seinem Rivalen nach Hause zu gehen. Denn Daneri will ihm das Aleph zeigen, um ihn endgültig von dessen materieller Existenz zu überzeugen. Nun, unser Borges lässt sich darauf ein, trinkt ebenfalls einen guten Schluck aus der Flasche mit dem Pseudo-Cognac – eine interessante Parallele zum vorigen Zitat, die übrigens in der Forschung zunächst weitgehend unbeachtet blieb – und geht entschlossen die Stufen in den Keller hinab. Denn auf einer dieser Stufen soll das Aleph für das menschliche Auge sichtbar sein.Dazu freilich muss es finster sein, und den Erzähler befällt die Sorge, von einem Wahnsinnigen zunächst mit Hilfe dieses Getränks vergiftet und dann im Keller mit Falltür eingeschlossen zu werden. Er fürchtet um sein Leben. Doch all seine Sorgen und Ängste erweisen sich als unbegründet. Denn nun, auf dieser Kellertreppe, schließt er die Augen und öffnet sie wieder:Ich schloss die Augen, ich öffnete sie. Dann sah ich das Aleph.Ich gelange jetzt zum unbeschreiblichen Mittelpunkt meines Berichts; hier beginnt meine Verzweiflung als Schriftsteller. Jede Sprache ist ein Alphabet von Symbolen, deren Ver-wendung eine Vergangenheit voraussetzt, welche die Gesprächspartner teilen; wie aber soll ich den Augen jenes unendliche Aleph übermitteln, das mein furchtsames Gedächtnis kaum umfasst? Die Mystiker greifen in einem analogen kritischen Moment freigiebig auf
538 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten Embleme zurück [...]. In diesem gigantischen Augenblick sah ich Millionen köstlicher oder grässlicher Handlungen; keine erstaunte mich so sehr wie die Tatsache, dass alle denselben Punkt einnahmen, ohne Überlagerung und ohne Transparenz. Was meine Augen sahen, war simultan: Was ich transkribieren werde hingegen sukzessiv, weil so die Sprache ist. Etwas werde ich gleichwohl sammeln. [...] Ich sah ein Landhaus in Adrogué, ein Exemplar der ersten englischen Übersetzung des Plinius, der von Philemon Holland, sah zur selben Zeit jeden Buchstaben auf jeder Seite (als kleiner Junge pflegte ich mich darüber zu wun- dern, dass die Buchstaben eines geschlossenen Bandes nicht durcheinanderkamen und sich nicht im Laufe der Nacht verlören), ich sah die Nacht und den Tag zeitgleich, sah einen Sonnenuntergang in Querétaro, welcher die Farbe einer Rose in Bengalen zu spiegeln schien, ich sah mein Schlafzimmer mit niemandem darin [...], ich sah die fürchterliche Reliquie dessen, was köstlich einstens Beatriz Viterbo gewesen, sah den Kreislauf meines dunklen Blutes, sah das Räderwerk der Liebe und die Modifizierung des Todes, sah von allen Punkten aus das Aleph, sah im Aleph die Erde und in der Erde erneut das Aleph und im Aleph die Erde [...]. 49Der Ich-Erzähler erzählt und reflektiert zugleich in dieser wunderbaren Passage, die ich für unsere Vorlesung leicht kürzen musste. Hier befindet sich der Mittel-punkt der Erzählung, vom Erzähler auch in einer metaliterarischen Reflexion als solcher bezeichnet. Anstatt nach dieser Reflexion sogleich wieder die Ebene des „récit“ oder doch zumindest der „histoire“ zu betreten, verbleibt der Erzähler – und dies ist typisch für die Schreibweise von Jorge Luis Borges – zunächst noch auf der Ebene des „discours“ oder, wenn sie so wollen, auf metaliterarischer Ebene. Denn es geht in dieser Passage nicht bloß um eine „unerhörte Begeben-heit“, welche die Erzählung zu einer Novelle machen würde, sondern um das Erzählen und die literarische Gestaltung von Texten selbst. Borges überträgt an seinen Erzähler „Borges“ die anspruchsvolle Aufgabe, die poetologischen Grund-lagen von Literatur zu reflektieren und damit literarischen und metaliterarischen Diskurs engzuführen. Der poetologisch-metaliterarische Diskurs wird damit zu einem wesentlichen Bestandteil des literarischen Schreibens selbst und kann nicht einfach von der borgesianischen Fiktion abgetrennt werden.Daher folgen, ausgehend vom Aleph, dem ersten Buchstaben des hebräi-schen Alphabets, Überlegungen und Assoziationen zum Alphabet überhaupt, das seinerseits ja per definitionem begrenzt ist und über eine endliche Zeichenzahl verfügt. Aus dieser Begrenztheit des Alphabets ergibt sich auch die Schwierigkeit des Erzählers (und seine Verzweiflung), die schiere Unendlichkeit der Vorstellun-gen in eine begrenzte Zahl von Worten und Buchstaben zu fassen. Zugleich wird die Problematik reflektiert, dass Autor beziehungsweise Erzähler und Lesepubli-kum ein gemeinsamer Lektüre- und Erfahrungshorizont zu verbinden pflegt, der 49 Borges, Jorge Luis: El Aleph, S. 624 ff.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 539in diesem Falle gerade nicht gegeben ist. Wie aber kann dann literarisch über-mittelt werden, was doch kommuniziert werden soll?Die Strategie der Mystiker aller Zeiten, die Unendlichkeit der Eindrücke und Erlebnisse in eine Proliferation festgefügter Emblemata und damit eine Abfolge von Text-Bild-Relationen umzuwandeln, ist für den Ich-Erzähler nach eigenem Bekunden nicht mehr anwendbar. Daher also die Verzweiflung von „Borges“, die Simultaneität der Wahrnehmung und des Erlebens in die Sukzession, die unab-änderlich lineare Abfolge der Sprache zu überführen. Dies bedeutet zugleich die Konfrontation mit der Frage, wie ein situatives Erlebenswissen und Lebenswissen in dessen spezifisch literarische Formen gegossen werden kann. Jorge Luis Borges berührt in seinem Prosatext einen literaturtheoretischen Punkt, der postmoderne Autor*innen – wie wir im weiteren Fortgang unserer Vorlesung sehen werden – noch stark beschäftigen sollte. Denn der Aleph auf der Kellertreppe in Carlos Argentino Daneris Haus ist für dessen Rivalen „Borges“ ein etwa augengroßer Punkt, hell leuchtend und strahlend, in welchem sich alle Linien der Zeit und des Raumes kreuzen. In diesem Auge, diesem Globus ist alles gleichzeitig, ein „nunc stans“, wie es in explizitem Verweis auf die abendländische philosophische Tra-dition heißt.Dieser augengroße Aleph – und es ist evident, dass man diese Konfiguration autobiographisch in einen Zusammenhang mit der Erblindung von Jorge Luis Borges bringen kann – ermöglicht die zeitgleiche Aufnahme und Wahr-Neh-mung verschiedenster Bilder aus unterschiedlichsten Räumen und Zeiten, die simultan und doch distinkt sich dem Auge des Betrachters aufdrängen. Hier ist die Quasi-Simultaneität des Bildes, der Malerei, zu einer absoluten Radikalität gleichzeitiger, sich nicht überlagernder und nicht transparenter Bilder zugespitzt, eine Erfahrung und mehr noch Erleben, denen ein hermeneutisches Paradoxon zugrunde liegt, eben jene Figur der Logik, die gerade innerhalb der Postmoderne zur vielleicht dominanten Denk-Figur, ja Denkform werden sollte. So vermittelt sich dem Erzähler-Ich alles gleichzeitig: Das Ferne wie das Nahe, das Eigene wie das Andere, das Unpersönliche wie das Persönliche durchdringen sich, stellen Verbindungen miteinander her, aber verschmelzen niemals in ein gemeinsames Bild. Der Erzähler durch-schaut nun alles, sieht auch das, was niemand sonst sah: eine Allmachtposition, die freilich nicht die des Demiurgen, sondern diejenige des passiven göttlichen Betrachters, in gewisser Weise des nicht eingreifenden „deus absconditus“ ist. Wir dürfen also diese Position keineswegs mit der Autor-position verwechseln, geht es hier doch nicht um den „creator“, sondern um den „contemplator“. Und dies hat Folgen ...Die literarische und erzähltechnische Umsetzung der geschilderten simultan-sukzessiven Problematik ist genau jene additive Struktur, die ich Ihnen auszugs-weise am Ende dieses Zitats vorgestellt habe. Es ist eine nicht enden wollende
540 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten Abfolge paralleler Konstruktionen, die jeweils mit dem Verbum des Sehens einge-leitet werden und unterschiedlichste Phänomene der Simultaneität in die Abfolge einer linearen Erzählung transponieren. Dabei sind dies freilich Elemente, die sehr wohl auf die Ebene des „récit“ oder Plot durchschlagen und zugleich auch deutlich machen, in welch starkem Maße der Erzähler-Borges stets der Getäuschte und Hintergangene in dieser Liebesgeschichte war: Sein eigenes Schlafzimmer blieb immer leer. Wie sehr er auch und gerade in Carlos Argentino Daneri einen Rivalen besaß, ohne es zu wissen, ja ohne es zu ahnen, war sicherlich eine Über-raschung für den rein betrachtenden, kontemplativen „Borges“ unserer Erzäh-lung. Darum also blieb das Bett des Erzählers leer, darum blieb die Liebe von „Borges“ unerhört, darum heiratete Beatriz Viterbo nach ihrer Scheidung nicht mehr, hatte sie doch ihren Cousin als Liebhaber gefunden: Beide verband ein gleicher Hang zur Laszivität miteinander. Die Beziehung zu diesem – wie es auf Deutsch so schön heißt – „leiblichen Vetter“ musste (oder konnte) nicht legali-siert werden.Damit wird deutlich, dass wir auf Ebene der Liebesgeschichte eine Dreiecks-beziehung vor uns haben, die zwischen Carlos Argentino Daneri, Beatriz Viterbo und dem leer ausgehenden „Borges“ ausgespannt ist. Der unvermutete Rivale blieb also Sieger im Zweikampf der Liebhaber. Doch gibt es noch eine zweite Drei-ecksgeschichte, deren Liebesobjekt nun nicht mehr die geliebte Frau, sondern die geliebte Literatur und die Anerkennung im literarischen Feld ist. Auch auf dieser Ebene indes bleibt der textinterne „Borges“ zweiter Sieger. Denn es ist Carlos Argentino Daneri, der mit seinem kosmologische Grenzen sprengenden Wel-tengedicht, dessen materielle Grundlage das Aleph ist, zumindest den zweiten Literaturpreis ergattert, während der platonische Liebhaber „Borges“ einmal mehr leer ausgeht.Im Zentrum dieses doppelten Dreiecks aber steht das Aleph, augengroß: So wird gleichsam die Struktur eines Dreiecks und des göttlichen Auges im Dreieck nahegelegt. Dabei handelt es sich um ein zentrales Emblem göttlicher Allgewalt im Christentum, das zugleich Herrschaft über Raum und Zeit symbolisiert. Im Grunde weist Jorge Luis Borgesʼ El Aleph letztlich doch eine Grundstruktur auf, die den Mystikern zumindest christlicher Provenienz keineswegs fremd und unbe-kannt war. Das Aleph lässt sich in der Tat als Auge Gottes verstehen: In ihm sind alle Dinge allgegenwärtig und kopräsent.Das endlose Universum von Raum und Zeit ist zugleich in diesem Text aber auch durch das endlose Universum der Texte eingefangen. Dabei gibt es einen direkten Bezugstext, der ebenfalls kosmologische Dimensionen besitzt und Hölle, Fegefeuer und Himmel miteinander verbindet: Dante Alighieris „Göttliche“ Commedia. Auch bei Dante werden die Koordinaten des gesamten Universums ausgespannt: Auch hier kommt es zu einer zumindest relativen Kopräsenz ver-
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 541schiedenster Figuren, Themen und Episoden. Auch in dieser Welten-Komödie ist das Universum ästhetisch verdoppelt durch das Universum der Texte, das in einer Unzahl von versteckten und offenen Anspielungen ebenso explizit wie implizit miteinbezogen ist.Die intertextuellen Verweise im Text auf Dantes Commedia sind zahlreich und beginnen bereits mit dem Namen Carlos Argentino Daneris, wobei Dante Alighierizu Daneri kontrahiert und gleichsam ‚argentinisiert‘ wird. Die schöne Frau, um die es geht, ist Beatriz Viterbo, eine klare Anspielung auf die schöne Beatrice, der das Ich des Dichters – wenn auch verfremdet – als Führerin nachfolgt. Selbst den Abstieg des Dichters in die Hölle können wir erkennen, steigt „Borges“ doch durch eine Falltür in den Orkus des Kellers von Daneri alias Dante Alighieri hinab, um dort Tausende grässlicher, schrecklicher Dinge zu sehen, von denen er später nur schwerlich in aller Fülle wird berichten können. Auch die köstlichen, ver-zückenden Dinge fehlen bei Dante wie in Borges El Aleph nicht, ist hierfür doch die himmlische Gestalt der über alles geliebten Beatrice das beste Beispiel.Durch diese intertextuelle Vernetzung erklärt sich ebenso die plötzliche Todesangst des Erzählers wie auch die Tatsache, dass er alle Verblichenen seines Lebens einschließlich seiner Herzensherrin wiederfinden wird. Sah „Borges“ zuvor nur die verblichenen Photos der Verstorbenen (und damit eine schlechte Mimesis einer vergangenen, ‚verstorbenen‘ Realität eines „ça a été“), so erlebt er nun ihre kopräsente Gegenwart von neuem, erfolgt dies auch für ihn selbst und seine Liebe in enttäuschender Weise. So lassen sich die Beispiele für intertextu-elle Bezüge zu Dante Alighieris Commedia häufen, und die Forschungsliteratur hat es hier nicht an Untersuchungen fehlen lassen.Auch Jorge Luis Borges selbst nicht, der sich in berühmt gewordenen Texten und Vorträgen mehrfach mit dem Schöpfer der „Göttlichen“ Komödie auseinan-dersetzte. Immer wieder sind diese Bezüge zu Dante in der historischen Welt-literatur herausgearbeitet worden, doch kaum jemand hat dies so raffiniert und ingeniös wie Borges getan. Honoré de Balzac etwa, zu dem sich in El Aleph erneut intertextuelle Verbindungen herstellen ließen, hat mehrfach die Totalität von Welt in seiner Menschlichen Komödie, seiner Comédie humaine, dargestellt. Dabei genügt es, beispielsweise an die Sammlung des Antiquars in einem seiner phi-losophischsten Romane zu denken, La Peau de chagrin, wo vielfältige Bezüge zu Dante verwoben sind. Auch in Balzacs Roman findet sich die Totalität des Exis-tierenden in einem kleinen Raum wieder und erwartet gleichsam die Erlösung durch das schöpferische Ich. Dante wie Balzac erblickten in der literarischen Dar-stellung einer Totalität, einer gesamten Welt, die wahre Aufgabe ihres Schreibens und ihrer Erzählkunst.Bei Jorge Luis Borges freilich wird dieser Wunsch nach Totalität nicht so sehr im pathetischen Sinne als im ironischen Modus durchgeführt, ist es Borges doch
542 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten längst bewusst, dass der Totalitätsanspruch der Literatur ebenso fundamental wie absurd, ebenso überzeitlich wie überspannt ist. Die Welt als Fraktal dar-zustellen und dies in einer möglichst kurzen literarischen Form zu tun, war für den argentinischen Schriftsteller ebenso erzählerisches Spiel wie spielerische Herausforderung. Borges buchstabierte dies mit seinem Lesepublikum gleichsam vom ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets an durch. Bis hin zu jener banalen Variante, dass sein Rivale Carlos Argentino Daneri nicht auf Grund seiner vielfältigen technischen Apparate eines modernen Menschen oder besser noch auf Grund des Reichtums seiner Einbildungskraft im Mittelpunkt der Welt steht. Er positioniert sich sich dort einzig, weil er sich im prekären Besitz des Aleph befindet und ihm die ganze Welt wie in einer magischen Laterne oder in einem Kinematographen zu Diensten ist. Dorther bezieht er jene Bilder, die er mehr recht als schlecht in literarische und ästhetische Gebilde umformt. Der Seher Daneri ist daher im Rimbaudʼschen Sinne kein „voyant“, sondern – ebenso wie der text-interne Erzähler namens Borges – bestenfalls Voyeur.El Aleph ist in gewisser Weise die Umkehrung einer anderen Fiktion von Borges, La biblioteca de Babel, insoweit als hier die Ewigkeit nicht mehr in einem Raummodell additiv konkretisiert wird – in Form expandierter Sechsecke, die stets aufs Neue sich gleichförmig erweitern –, sondern diese Vorstellungen nun kondensiert und kontrahiert werden zum Punkt einer leuchtenden Kugel in der Größe eines Auges. In El Aleph tritt an die Stelle ständiger Expansion also die größtmögliche Kondensation. Gleichwohl steht auch das Aleph für die Ewigkeit, enthält es doch die Totalität der Welt und damit selbstverständlich auch sich selbst, eine fraktale Selbstähnlichkeit, die auch die erzählerische Rückbeziehung auf den eigenen Text ästhetisch legitimiert. Sie können dies – „toute proportion gardée“ – durchaus mit der Persil-Reklame altbundesrepublikanischen Typs ver-gleichen, auf der immer weiter ins Unendliche von einer blendenden Hausfrau eine Packung Persil gehalten und ins Unendliche projiziert wird, was freilich mehr dem Raummodell von La biblioteca de Babel entspräche.Der Erzählvorgang ist logischerweise autoreflexiv, beleuchtet sich selbst und macht diese Beleuchtung selbst wiederum zum Gegenstand seines Erzählens und des Erzählvorgangs, der seinerseits Kommentare auslöst, welche in den narrativen Vorgang Eingang finden und so weiter ad Infinitum. All dies sind konstruktive Antworten auf die Herausforderung, wie das Unendliche in einem begrenzten Text ästhetisch überzeugend zum Ausdruck gebracht werden kann. Es kann Ihnen dabei schwindlig werden wie am Ende unseres obigen Zitats, in welchem die Erde und das Aleph und das Aleph und die Erde ... Sie merken schon: Wir können unsererseits jedenfalls anmerken, dass es für den Erzähler ein gar nicht so aussichtsloses Unterfangen war, Ewigkeit abzubilden. Der Text selbst führt gerade nicht in der additiven Struktur paralleler Konstruktionen, sondern
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 543in der hier kurz skizzierten Form von Text, Metatext, Intertext, Paratext und viel mehr noch die Autoreferentialität als Unendlichkeit des Textes vor, wie sich das Unendliche als Fraktal endlich konstruieren lässt.Auch diese Frage nach der Unendlichkeit in der Endlichkeit wie auch der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem sind Fragestellungen, die im Zusammen-hang mit der Verzeitlichung von Differenz, mit der Derridaʼschen „différance“, zu den Leitfragen von Literatur und Philosophie im Zeichen der Postmoderne gezählt werden dürfen. Diese Frage kommt freilich nicht ex nihilo: Jorge Luis Borges hat keineswegs völliges literarisch-philosophisches Neuland betreten, sondern ‚lediglich‘ die bereits vorhandenen Elemente neu geordnet, um sie auf neue Fragen und Sensibilitäten hin zu öffnen. Es existiert eine Vielzahl intertextu-eller Verweise, welche die borgesianischen Texte explizit schmücken.Sehr häufig aber fehlt der Verweis auf einen Autor, mit dem Jorge Luis Borges selbst eine Zeitlang in Briefkontakt gestanden hatte: auf den für das spanische Geistesleben bereits der Jahrhundertwende und bis zu seinem Tod im Jahre 1936 so wichtigen Basken Miguel de Unamuno. Wenn auch oftmals die Beziehungen zu Unamunos Gesamtwerk beiläufig erwähnt werden, das sich im Zwischenraum von Literatur, Literaturkritik, Philologie, Philosophie und damit gar nicht so weit von dem des Argentiniers entfernt ansiedelt, werden diese für sein Schreiben kon-stitutiven Bezüge von Borges selbst kaum einmal – auch nicht in seinen Inter-views – aufgedeckt. Ich möchte Ihnen dennoch an zwei für uns wichtigen Stellen kleine Einblicke geben in die von Unamuno geleisteten Vorarbeiten, auf die sich Borges beziehen konnte.Abb. 97: Miguel de Unamuno (Bilbao, 1864 – Salamanca, 1936).Dabei wäre es möglich, die bisweilen sehr esoterische Bezugnahme auf nicht weniger esoterische deutsche philosophische Texte – und insbesondere den deutschen Pietismus – auf Borgesʼ Bekanntschaft und Vertrautheit mit den Texten Unamunos zurückzuführen, der nicht umsonst schon den Zeitgenossen als ein literarischer Vielfraß, als ein „lector voraz“, galt. Doch im Folgenden soll
544 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten es zunächst nur um eine Idee gehen, die die Grundidee des Aleph ausmacht, sich aber bereits im auf das Jahr 1912 datierten Text Del sentimiento trágico de la vida, dem philosophischen Hauptwerk Miguel de Unamunos also, finden lässt:Nichts geht verloren, nichts geht völlig vorüber, da sich alles auf die eine oder andere Weise perpetuiert und alles, nachdem es durch die Zeit gegangen ist, in die Ewigkeit zurückkehrt. Die zeitliche Welt besitzt Wurzeln in der Ewigkeit, und dort ist das Gestern mit dem Heute und dem Morgen verbunden. Vor unseren Augen vollziehen sich die Szenen wie in einem Kinematographen, dessen Filmstreifen indes einzig und ganz bleibt jenseits der Zeit.Es sagen die Physiker, dass nicht ein einziges Stückchen Materie und kein einziger Kraft-impuls verloren gehen, sondern dass sich das eine wie das andere transformieren und weiterbestehend transmittieren. Und verliert man vielleicht irgendeine Form, so flüchtig sie auch wäre? Man muss glauben – glauben und hoffen! –, dass auch dies nicht der Fall ist und dass sie irgendwo archiviert bleibt und fortdauert, dass es einen Spiegel der Ewigkeit gibt, in welchem sich alle Bilder bewahren, ohne dass sich die einen in den anderen verlören, und dass sie durch die Zeit marschieren. Jeder Eindruck, der mich erreicht, bleibt in meinem Gehirn gespeichert, auch wenn er so tief oder so schwach wäre, dass er sich in den Tiefen meines Unterbewusstseins verlöre [...]. 50Diese Formulierungen des spanischen Philosophen und Literaten lassen aufhor-chen! Wir könnten diese Passage auf bestimmte Weise als eine Art philosophischer Erklärung von Borgesʼ El Aleph lesen, wenn wir die Verdichtungsstelle hier auch nicht punktförmig, sondern in der auch dem Argentinier sehr vertrauten und von ihm oft benutzten Metaphorik des Spiegels vor uns sehen. Dabei ist aufschluss-reich, dass die Idee der Ewigkeit zu jenem Hebel wird, mit Hilfe dessen Miguel de Unamuno die ablaufende Jetztzeit gleichsam stillstellt oder auch überwölbt, um sie unter dieser Glocke aufzuheben und so mit allen anderen Zeitebenen zu vergleichzeitigen.Hierbei ist es für unsere Zwecke im Rahmen der Diskussionen um Moderne und Postmoderne eher belanglos, dass es Unamuno im Zeichen der Unendlich-keit vor allem darum ging, das „tragische Lebensgefühl“ zu denken. Dieses sah er in wesentlicher Weise an die Einsicht des Menschen geknüpft, schlicht nicht unsterblich zu sein, sondern dem Tode zu gehören beziehungsweise ein Leben zum Tode zu führen. Die Problematik der Ewigkeit ist daher für Unamuno mit der Frage der Unsterblichkeit der Seele verbunden, was uns hier – wenn auch vielleicht sehr wohl in unserem persönlichen Leben – nicht weiter interessiert.Denn die Ewigkeit dient Unamuno in dieser Passage dazu, alle Zeiten und Zeit-ebenen zu vergleichzeitigen und damit zugleich eine Form des Nicht-Verschmel-50 Unamuno, Miguel de: Del sentimiento trágico de la vida. La agonía del cristianismo. Madrid: Akal 1983, S. 242.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 545zens aller Bilder der Erinnerung zu behaupten, welche auch für Borgesʼ raum-zeit-liche Konzeptionen des Aleph grundlegend ist. Dass Miguel de Unamuno sich für eine Bilderwelt – und nicht etwa für eine Klang- oder Geruchswelt, die ja auch vor-stellbar gewesen wären – und zusätzlich für das technisch damals avancierteste Medium eines Kinematographen entscheidet, mag sehr wohl mit der Problematik der Modernität in Verbindung gebracht werden. Auch mag die Tatsache eine Rolle spielen, dass wir in unserem Jahrhundert zunehmend massiv dazu übergegangen sind, alles zu verbildlichen und in Bilderwelten zu verwandeln. Diese Entwick-lung hin zu Windows, zur imperialen Dominanz des Sehsinns und deren Folgen für das Ranking unterschiedlicher Sinne und Sinneswahrnehmungen werde ich zu einem späteren Zeitpunkt thematisch wieder aufnehmen.Ein weiteres Element, das mir in der oben angeführten Passage als wichtig erscheint, ist die Vorstellung des Speichers oder auch des Mediums des Spei-cherns. Dies wird in unseren elektronischen Zeiten immer wichtiger und in Bezug auf Formen der Vergleichzeitigung entscheidend. Nun sind Speicher – und dazu gehören natürlich auch Bibliotheken – stets räumliche Formen von Vergleichzei-tigung. Dass Unamuno an dieser Stelle auf das menschliche Gehirn als Speicher-platz und -form hinweist, hat vielleicht weniger mit seiner prämodernen Einstel-lung als mit der Tatsache zu tun, dass er am Ende seiner hier zitierten Satzperiode auf das „subconsciente“ verweist. Es handelt sich um den eigentlich etwas falsch abgeleiteten Freudʼschen Begriff des „inconsciente“ oder des Unbewussten, eine terminologische Schieflage, welche den spanischen Philosophen indes wenig zu kümmern scheint.Klar ist jedoch, dass sich Unamuno damit auf die Freudʼsche Psychoana-lyse und seine Deutung des psychischen Apparats mit Es, Ich und Über-Ich bezieht, welche allesamt als Speichermedien aufgefasst werden können und von Sigmund Freud auch in der Metaphorik des „Wunderblocks“ beschrieben wurden. Denn dieses Unbewusste, so Freud, funktioniert wie eine Art Wachs-tafel in Blockform, in die sich alles einprägt und die das einmal Eingeprägte auch dann noch in verschobener, veränderter Form konserviert, wenn neue Zeichen darüber eingeritzt oder eingeschrieben werden. Im Grunde finden Sie erneut die von Jorge Luis Borges in seinen Ficciones benutzte und von Gérard Genette in seinen Palimpsestes disziplinär umgesetzte Metapher des Palimp-sests, in welcher das einmal Notierte trotz des Übereinanderschreibens nicht gänzlich verloren geht, sondern – wie verwaschen und verändert auch immer – zugänglich bleibt und uns damit als Speicher zur Verfügung steht. Es ist uns gegenwärtig, wenn auch nicht immer gewärtig. Dass die Psychoanalyse Freuds ihrerseits wiederum Lesarten offenstand, die wie jene von Jacques Lacan die Elemente der Sprache auf all ihre Ebenen und zunächst in strukturalistischer Manier ausbreitete, so dass das Unbewusste wie eine Art Sprache funktionie-
546 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten rend gedacht werden konnte, werden wir zu einem späteren Zeitpunkt noch näher zu erläutern versuchen.Natürlich gibt es mehr als diese Passage, die das Werk von Borges mit jenem Unamunos verbindet, mit eben jenem spanischen Intellektuellen, der fast schon vom spanischen Volksmund als jener „quijoteske“ Don Miguel de Unamuno apo-strophiert wurde, als welcher der baskische Eigenbrötler in die Literatur- und Phi-losophiegeschichte einging. Unamuno setzte sich – wie viele andere Intellektuelle seiner Generación del 98 – mit der schillernden Figur des Miguel de Cervantesauseinander und sah in ihr – so etwa in seiner Vida de Don Quijote y Sancho, einer kreativen Neuschrift des ursprünglichen Don Quijote, die Verkörperung der spa-nischen Seele und ihrer tiefen, ihrer ‚ewigen‘ Identität.51Es ist im Rahmen unserer Vorlesung unmöglich, auf diese Fragestellungen näher einzugehen, auch wenn wir mit Unamuno einen Autor kennengelernt haben, der mit anderen Mitteln als Borgesʼ Pierre Menard den Don Quijote neu zu schreiben suchte. Lassen Sie mich wie angekündigt aber noch auf eine zweite Passage Miguel de Unamunos aufmerksam machen! Es geht um eine Stelle in Del sentimiento trágico de la vida, in welcher mindestens zwei Bezüge zu ElAleph wie zu Pierre Menard, autor del Quijote hergestellt werden können – zumindest dann, wenn man diese kurze Passage etwas genauer unter die Lupe nimmt:Und ich stieß ein heftiges „Es sterbe Don Quijote!“ aus, und aus dieser Blasphemie, welche das genaue Gegenteil des Ausgesagten sagen wollte – so ging es eben damals zu –, keimte mein Das Leben von Don Quijote und Sancho auf und damit mein Quijotismus-Kult als Natio-nalreligion.Ich schrieb jenes Buch, um den Quijote gegen die Cervantisten und Gelehrten neu zu denken und um das zum Leben zu erwecken, was für die meisten toter Buchstabe war und noch immer ist. Was geht es mich an, was Cervantes da hineinpacken wollte oder nicht wollte und was er dann wirklich hineinpackte? Das Lebendige ist es, was ich darin entdecke, mag es Cervantes da hineingelegt haben oder nicht; was ich dort hineinbringe und überbringe und unterbringe, und was wir alle da hineinlegen. Ich wollte darin unserer Philosophie auf die Spur kommen.52Das Interessante und Aufschlussreiche an dieser Passage ist einerseits die Tatsa-che, dass Unamuno seine frühere Schrift gegen den Quijote und den quijotesken Geist Spaniens so umdeutet, dass sie in Wahrheit das Gegenteil dessen habe aus-51 Vgl. zur Rezeption des Quijote bei Miguel de Unamuno und den hispanoamerikanischen Mo-dernisten Ette, Ottmar: Aus ferner Nähe. Die hispanoamerikanischen Modernisten und Miguel de Cervantesʼ „Don Quijote“. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XXX, 1–2 (2006), S. 177–208.52 Unamuno, Miguel de: Del sentimiento trágico de la vida, S. 337.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 547sagen wollen, was sie wirklich gesagt habe. Das ist eine Vorgehensweise des Ver-fassers von Contra esto y aquello, die wir nun von Pierre Menard sehr gut kennen, denken wir nur an seine Invektive gegen Paul Valéry, den er im Grunde seines Herzens sehr verehrte. Zum zweiten findet sich in dieser Passage eine radikale Absage an die Autorintention, deren Untersuchung Unamuno voller Verachtung den Cervantes-Spezialisten und Bildungsbürgern gerne überlässt. Was kümmert es ihn schon, was Cervantes gewollt habe oder nicht?Die zeitgenössische Philologie – und Unamuno war ein ausgebildeter Alt-philologe – hielt den Atem an und erschauerte! In der damaligen Philologie und Editionswissenschaft stand der Autor noch völlig im unhinterfragbaren Mittel-punkt jedweder Textbetrachtung. Aber Unamuno kam es in diesem Zitat radikal auf die Leserschaft an. Gewiss ließe sich auch sagen, dass es ihm vor allem radikal auf sich selber ankam. Doch die Leserschaft war für Miguel de Unamuno das Ent-scheidende – und nicht irgendeine hypostasierte Autorintention. Denn er wollte vor allem seinen Don Quijote aus einem toten Buchstaben in lebendiges Leben verwandeln, ihn damit zu einem Bestandteil des zeitgenössischen und künftigen Lebens(wissens) in Spanien machen. Mit anderen Worten: Es ging ihm darum, Literatur zu leben und auch für andere lebbar zu machen. Es ist damit die ver-lebendigende Aktualisierung, welche hier die entscheidende Rolle spielte, ver-bunden mit einer Absolut-Setzung des Lesers und des von diesem produzierten Quijote. Dies war eine Konzeption, welche durchaus der borgesianischen sehr nahe war und die Literatur als etwas betrachtete, was mit unserem Leben und unserem Wissen vom Leben unmittelbar zu tun hat.Kehren wir noch ein letztes Mal zu Pierre Menard, autor del Quijote zurück! Dort stellte der Erzähler die Frage, warum sich der Franzose Pierre Menard denn überhaupt mit dem Werk des Cervantes beschäftigt habe. Wir könnten diese Frage auch an Borges selbst stellen und dabei auf seine zum Teil widersprüchlichen Aussagen verweisen. Zum einen behauptete der argentinische Schriftsteller in einem Interview53 von 1970, den Quijote zunächst auf Englisch gelesen zu haben, wobei ihm die später gelesene spanische Fassung wie eine schlechte Übersetzung vorgekommen sei. Später freilich gab er zu Protokoll, zunächst den Text auf Spa-nisch gelesen und daran anknüpfend schon als kleiner sechsjähriger Junge seinen ersten literarischen Text verfasst zu haben. Für Borges besaß der große Roman des spanischen Autors eine ähnlich zentrale Bedeutung wie für die Angehörigen der 53 Vgl. Rodríguez-Luis, Luis: El „Quijote“ según Borges. In: Nueva Revista de Filología Hispánica(México) 36 (1988), S. 477–500; ders.: Nota adicional sobre Borges y el „Quijote“. In: Nueva Revista de Filología Hispánica (Mexiko) 39 (1991), S. 1067–1070; sowie ders.: The Contemporary Praxis of the Fantastic: Borges and Cortázar. New York: Garland 1991.
548 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten Generación del 98, welche wenige Jahre zuvor die Essenz Spaniens in keinem anderen Werk so sehr widergespiegelt fanden wie im Don Quijote.Es erübrigt sich, an dieser Stelle auf die einschlägigen Passagen bei Unamuno, Ganivet, Azorín und vielen anderen hinzuweisen. Borges schreibt sich im zeitge-nössischen Kontext ein in eine wiederholte Lektüre des Quijote, wenn auch unter gänzlich anderen Voraussetzungen als die spanischen Autoren. Cervantesʼ Don Quijote ist der erste moderne Roman oder der erste Roman der abendländischen Moderne: Er steht an der Wiege jener Moderne, die Borges aus anderer Sicht auf ihre Grenzen befragte und erprobte. Mit der Bearbeitung des Quijote legte der argentinische Schriftsteller Hand an jene Tradition, welche im Bereich der Lite-ratur die europäische Moderne bestimmte. Er löste mit seiner literarischen Praxis jene Versprechen ein, welche er in El escritor argentino y la tradición gegeben hatte.Was Borges von Unamuno unterscheidet, ist die von einer veränderten Per-spektive auf die Tradition ermöglichte entschlossene Verabschiedung einer lite-rarästhetischen Vergangenheit, die er nur insofern in sich bewahrte, als er sie dadurch immer wieder von neuem überwinden konnte. Er bewahrte den Stachel der historischen Avantgarden in sich auf und lag damit bei der Beurteilung seiner eigenen ästhetischen Kontinuitäten gar nicht so falsch. Sein großes Verdienst liegt nicht so sehr in der Entdeckung oder Erfindung neuer Theoreme, welche zuverlässig das Künftige und Kommende anzeigten, als vielmehr in der Tatsache, dass er es verstand, die vorhandenen Elemente neu zu kombinieren und zu ver-gleichzeitigen. Es gibt wohl keine bessere literarische Visualisierung dieser Ver-gleichzeitigung aller Zeiten und Räume als Borgesʼ El Aleph, das aus einer Eng-führung von Literatur und Philosophie, aber auch friktional von Literatur und Metaliteratur entstand. Mit Jorge Luis Borges erleben wir – um mit Friedrich Nietz-sche zu sprechen – die Geburt der Postmoderne aus dem Geiste der Moderne und der historischen Avantgarden.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller GeschichtenEine der Grundfragen unserer Überlegungen zu den Literaturen im Zeichen der Postmoderne lautet: Wie ist das literarische Beziehungsgeflecht zwischen Europa und Hispanoamerika zu denken? Welche sind die verschiedenen Etappen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu führten, dass die lateinamerika-nischen Literaturen innerhalb weltumspannender literarischer Entwicklungen nicht mehr länger wegzudenken waren? Wie ist ihr Vorrücken im Bewusstseins-horizont nordamerikanischer, europäischer, aber auch anderer Lesergruppen zu erklären?Ich möchte versuchen, im Anschluss an unsere Überlegungen zum Zeitraum der historischen Avantgarden auf beiden Seiten des Atlantiks nun bei Jorge Luis Borges unsere Erkenntnisse bezüglich der transatlantischen und vor allem trans-arealen Literaturbeziehungen weiter voranzutreiben.1 Wie auch immer unsere Antworten auf die historisch seit der Kolonialzeit geschaffene Asymmetrie der Beziehungen und die sich postkolonial komplexer werdenden, aber gleichwohl die Asymmetrie fortschreibenden Relationen ausfallen werden: An einem Namen werden wir nicht vorbeikommen, dem des Argentiniers Jorge Luis Borges. Begin-nen wir zunächst mit einigen Biographemen des Autors der Ficciones, wobei wir uns etwas kürzer halten können, insofern wir in unserer Vorlesung LiebeLesenden Dichter, Erzähler und Essayisten bereits vorgestellt hatten.2Dabei möchte ich Sie an den großen südamerikanischen Schriftsteller medial heranführen und ihnen den Argentinier in vivo – und das heißt: im Video – vor-stellen. Es handelt sich um Aufnahmen, die wenige Jahre vor Borgesʼ Tod gemacht wurden, zu einem Zeitpunkt also, zu dem der höchst medienbewusste Autor längst zu einer Berühmtheit, ja Ikone eines weltweiten öffentlichen Interesses geworden war. Ich verfolge mit dieser medialen Eröffnung zumindest zwei Ziele. Zum einen sagt ein Bild, wie ein chinesisches Sprichwort weiß, mehr als tausend Worte; und so könnte es sein, dass dieser Auftritt von Borges – sollten Sie den Autor noch nicht visuell erlebt haben – ein sehr starkes Bild in Ihnen zurück-lassen könnte. Zum anderen ist Jorge Luis Borges zumindest seit seiner interna-1 Vgl. auch zur Bedeutung von Borges für die transatlantischen Literaturbeziehungen Ette, Ott-mar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Literaturen Lateinamerikas und Europas. In: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1994, S. 297–326.2 Vgl. Ette, Ottmar: LiebeLesen. Potsdamer Vorlesungen zu einem großen Gefühl und dessen An-eignung (2020), S. 633–674. Open Access. © 2021 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110703450-023
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 495tionalen Berühmtheit, mithin seit der Nachkriegszeit und in größerem Maße seit den sechziger Jahren, ein überaus geschickter Verwerter und Nutzer der neuen elektronischen Massenmedien. Es handelt sich um einen Autor, der eine unge-heure Vielzahl von Interviews gab und seine Interviewpartner so geschickt zu manipulieren wusste, dass er uns dadurch eine Reihe von Hinweisen gab auf das inter- und transmediale Zusammenspiel von Literatur und neuen Massenmedien im postmodernen Kontext.In den ersten Einstellungen sehen Sie noch vor den Interviewpassagen auch, wie Borges für die Medien ‚hergerichtet‘ wurde, wie er eine bestimmte Position einnahm, einen ganz bestimmten Kontext, den der omnipräsenten Bücher, zugeteilt bekam und sich auf diese Weise nicht nur der Massenmedien bediente, sondern sich umgekehrt die Massenmedien ihr Bildnis von Jorge Luis Borges schufen. Wir werden uns mit diesen Fragestellungen angesichts der medialen Verhaltensweisen, der „comportamientos ante el televisor“, noch ausführlich auseinandersetzen. Sehen und hören wir aber zunächst einmal die den gesam-ten Film einführende Passage von gut fünf Minuten Dauer, die uns eine Vielzahl von Hinweisen geben wird, bis hin zu Borgesʼ einflussreichen Überlegungen zum argentinischen Schriftsteller und seinem Verhältnis zur kulturellen und literari-schen Tradition! Und genießen Sie die mediale Inszenierung, die Ihnen Borges offeriert ...3Lassen Sie mich nur einige wenige biographische Hinweise zu diesem großen argentinischen Autor einfügen: Jorge Luis Borges wurde am 24. August 1899 in eine traditionsreiche und wohlhabende Familie in Buenos Aires hinein-geboren. Seine Vorfahren sind teils spanischer, teils portugiesischer Herkunft, während seine Großmutter väterlicherseits einer englischen Methodistenfamilie entstammte. Ausgerechnet 1914, im Jahr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, reiste die Familie nach Europa und bezog ihren Wohnsitz in Genf und Lugano. 1919 knüpfte der junge Borges auf einer Reise seiner Familie wichtige Kontakte zu den spanischen und lateinamerikanischen Avantgarden. Der junge Mann, der damals noch keinerlei Probleme mit seinem Sehvermögen hatte, war vom kreati-ven Potential der historischen Avantgarden und insbesondere vom entstehenden Ultraísmo stark beeindruckt. Seine schriftstellerischen Anfänge situierten sich folglich im Umfeld dieser avantgardistischen Zirkel.Nach seiner Rückkehr in sein Heimatland im Jahr 1921 begründete der ange-hende Autor erste literarische Zeitschriften. Doch sollte er sich von den histori-schen Avantgarden zunehmend distanzieren und seine frühen Bände, wo ihm dies möglich war, sachte wieder aus dem Verkehr ziehen. Man sagte ihm nach, 3 Vgl. Roberto D’Avilas und Walter Sallesʼ im Juli 1985 mit Jorge Luis Borges geführtes Interview.
496 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten eigenhändig Exemplare aus Bibliotheken entwendet zu haben, um seine avant-gardistisch-ultraistischen Anfänge zu verbergen. Doch kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese avantgardistischen ‚Ausflüge‘ seine Orientierungen als Schriftsteller auch weiterhin, freilich unter der Oberfläche, prägten.Die finanziell gut abgesicherte Familie bot Borges reichlich Gelegenheit, sich in den intellektuellen Zirkeln der Metropole Buenos Aires ausgiebig umzu-sehen. Es ließe sich mit guten Gründen sehr wohl behaupten, dass die Hauptstadt Argentiniens damals zu einem der Zentren internationaler Kunst und Literatur geworden war. Erst 1938, nach dem Tod seines Vaters, war Borges gezwungen, als Bibliothekar Geld zu verdienen. Doch sollte er Ende des Jahres bei einem Unfall einen Teil seines Augenlichts verlieren. Fortan wurde seine Mutter zu seiner Sekretärin und half dem familiär erblich vorbelasteten und langsam erblinden-den Sohn in vielen praktischen Belangen. Die Mutter diente Borges über lange Jahrzehnte als moralische Stütze und Begleiterin, eine Funktion, in der sie erst wenige Jahre vor Borgesʼ Tod von seiner späteren Ehefrau María Kodama abge-löst wurde. Es gehört zu den für Borgesʼ Leben charakteristischen Einschnitten, dass er 1946, im Jahr nach Peróns Machtergreifung, aufgrund der Unterzeichnung eines antiperonistischen Manifests seiner Anstellung als Bibliothekar enthoben und strafversetzt wurde auf einen Posten als Geflügelinspektor der städtischen Marktaufsicht. Jorge Luis Borges war zum damaligen Zeitpunkt freilich längst ein profilierter und eigenständiger Schriftsteller, der freilich auch unter der Perón-Regierung in seinem Heimatland leben wollte.1944 hatte Borges den Großen Preis des argentinischen Schriftstellerverban-des erhalten, zwischen 1950 und 1953 war er Präsident dieses Schriftstellerverban-des geworden und längst als einer der führenden Autoren des Landes anerkannt. Seit den zwanziger Jahren war er durch Gedichtbände hervorgetreten, hatte sein erzählerisches Werk aber dann seit den dreißiger Jahren konsequent weiter-entwickelt. Es sollten vor allem diese Erzählungen sein, die ihn weltberühmt machten. Die beiden bedeutendsten Sammlungen seiner Erzählungen sind zum einen seine Ficciones (1944) und zum anderen El Aleph (1949), die seinen interna-Abb. 93: Jorge Luis Borges (Buenos Aires, 1899 – Genf, 1986).
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 497tionalen Ruhm in der Tat begründeten. Mit beiden Prosasammlungen werden wir uns ausführlich beschäftigen. Es waren diese schriftstellerischen Juwelen, die ihn in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Referenzautor aufstei-gen ließen und ihn bei Intellektuellen wie Maurice Blanchot oder Roger Caillois bekannt machten.Die meisten dieser Erzählungen stehen in der Traditionslinie phantastischer Literatur, wobei es Borges gelang, durch ein ausgeklügeltes Spiel mit fremden (und zum Teil erfundenen) Texten ein Verweissystem zu schaffen, mit Hilfe dessen er die Grenzen von Fiktion und Diktion verschob und im Grunde friktionale Lite-raturformen entfaltete, die von ungeheurer Wirkkraft waren. So lassen sich seine Fiktionen letztlich als Friktionen verstehen, in denen er gerade die fiktionale Dimension literarischer Texte zur zentralen Frage erhob. Doch darauf komme ich zurück. Auf die mit Adolfo Bioy Casares gemeinsam verfassten oder ausgeheckten Werke kann ich in dieser Vorlesung jedoch leider nicht näher eingehen: Auch sie schufen nicht nur neue generische Formen etwa von Kriminalparodien, sondern stellten in diesen vierhändig geschriebenen Texten die Frage nach dem Autor in spielerischer Deutlichkeit.Nach Peróns Absetzung wurde Borges 1955 von der Militärregierung zum Direktor der Nationalbibliothek bestellt, ein Amt, das er bei zunehmender Erblin-dung bis 1983 bekleidete. Er wurde so nach José Mármol und Paul Groussac zum dritten großen Schriftsteller in der argentinischen Literaturgeschichte, der erblin-det die Leitung dieser größten Bibliothek Argentiniens übernahm – ein weltweit wohl einzigartiger Tatbestand.Die internationale Anerkennung wuchs beständig und weitete sich längst über die Grenzen Europas – wo Frankreich und Italien die ersten großen Ansatz-punkte seines beeindruckenden schriftstellerischen Renommees waren – auch in die USA aus, so dass er immer häufiger zu Gastdozenturen und -aufenthalten nach Europa und an die großen US-amerikanischen Universitäten eingeladen wurde. Mit dem Ruhm wuchsen auch die Feinde, gerade auch im literarischen Feld. Während des sogenannten „Boom“ der lateinamerikanischen Literaturen mit Autoren wie Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa oder Carlos Fuentes – um nur einige zu nennen – geriet Borges sowohl international als auch in Argentinien unter erheblichen politischen Druck, da man ihm eine ideologisch rechte Posi-tion, Kollaboration mit der Militärregierung und mangelndes politisches Gespür bescheinigte. In meiner Studentenzeit weigerten sich verschiedene argentinische Schriftsteller sogar, Borges als Argentinier anzuerkennen, sei er doch im Grunde ein europäischer Autor, der zufällig in Argentinien aufgewachsen sei.Doch über die Jahrzehnte wurde es still um derlei Anfeindungen: Die Schrift-steller Argentiniens fügten sich in ihr Schicksal, das Jahrhundert mit Borges teilen zu müssen. In Argentinien wurde man sich zunehmend der Tatsache bewusst,
498 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten wie ‚argentinisch‘ Borges schrieb, und vereinnahmte ihn zusehends. Spätestens mit Beatriz Sarlos Buch über Jorge Luis Borges4 war er postum auch von der (ehe-maligen) Linken nun unter kulturtheoretischen Vorzeichen als herausragender argentinischer Autor anerkannt: Nichts stand mehr im Wege, Jorge Luis Borges in die große Ikone seines Heimatlandes zu verwandeln.1986 heiratete er – seine Mutter war 1975 neunundneunzigjährig verstor-ben – seine langjährige Sekretärin María Kodama, und das Paar übersiedelte nach Genf. Dort starbt Borges, mit internationalen literarischen Auszeichnungen und Preisen (mit Ausnahme des Literaturnobelpreises, der ihm wohl auf Grund seiner zweideutigen Aussagen zur Nazi-Geschichte versagt blieb) überhäuft, am 14. Juni 1986. Seine bisweilen umstrittenen politischen Äußerungen kosteten ihn wohl nicht nur den Literaturnobelpreis, sondern auch die Sympathien seiner lateinamerikanischen Zeitgenossen, die am Ende freilich die überragende Quali-tät vieler seiner literarischen Texte anerkennen mussten. Längst aber ist sein internationales Renommee auch in Lateinamerika unbestritten; ein jahrzehnte-langer Prozess, der aber nicht in einem jahrzehntelangen „Purgatoire“ – wie man in Frankreich für die postume Abwertung eines ehedem dominanten Autors wie etwa Sartre sagt – enden sollte. Der „politische Dinosaurier“, wie ihn Ernesto Sábato einmal nannte, hat seine Erblindung als Autor und Mensch nicht nur ertragen, sondern in eine kreative Energie verwandelt, die ihn von allen anderen Schriftstellern abhob.Wenn wir uns mit den transatlantischen Literaturbeziehungen innerhalb der Hispanophonie beschäftigen, so sehen wir, dass sich die Rezeption latein-amerikanischer Literatur und lateinamerikanischer Autoren in Europa zwar punktuell seit dem hispanoamerikanischen Modernismo signifikant veränderte, gleichwohl aber noch während der Zwischenkriegszeit an kleine literarische und philosophische Zirkel sowie an persönliche Beziehungen zwischen einzel-nen Schriftstellern und Intellektuellen gebunden blieb. Diese Situation begann sich erst mit dem Namen und Werk von Jorge Luis Borges zu verändern, folg-lich geraume Zeit vor dem sogenannten „Boom“ der Literaturen Lateiname-rikas.Dass diese neue Phase gerade mit dem Werk des Argentiniers und in Frank-reich einsetzte, scheint mir in vielerlei Hinsicht bedeutungsvoll, nicht nur auf-grund der Tatsache, dass Paris unverkennbar zur zentralen Drehscheibe für die Rezeption lateinamerikanischer Literatur geworden war. Diese herausgehobene Rolle erstaunt dabei am wenigsten: Paris war nicht nur, wie Walter Benjamin4 Vgl. Sarlo, Beatriz: Jorge Luis Borges. A Writer on the Edge. Edited by John King. London – New York: Verso 1993.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 499einmal formulierte, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, sie blieb es auch bis etwa in die ausgehenden siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Auch wenn Paris heute nicht mehr die kulturelle Hauptstadt ist und sein kann, da ihr andere Städte wie insbesondere New York in einem multipolaren System der Literaturen der Welt den Rang abgelaufen haben, so war Paris doch gerade für die Latein-amerikaner eine zentrale Hauptstadt der Literatur geblieben. Die „ville lumière“ war das Mekka der hispanoamerikanischen Autoren des 19. Jahrhunderts, es sollte auch das Mekka der Intellektuellen, Künstlerinnen und Literat*innen His-panoamerikas für die längste Zeit im 20. Jahrhundert bleiben. Noch heute genießt Paris bei den Schriftsteller*innen aus Lateinamerika vor Barcelona und Madrid, London, Berlin oder Rom einen ausgezeichneten Ruf.Abb. 94: Jorge Luis Borges im Foyer des L’Hôtel, Paris, 1969.Der Aufstieg des Jorge Luis Borges war durchaus singulär. Dabei war zu Beginn der wesentlich von Roger Caillois initiierten Borges-Rezeption keineswegs abseh-bar, dass die Ficciones oder El Aleph sich einmal ein breites europäisches Lesepu-blikum erschließen würden. Denn die Gedichte, vor allem aber die Erzählungen von Borges wirkten zunächst in den französischen intellektuellen Zirkeln, aus denen sich der Neo- und Poststrukturalismus entwickeln sollte. Wir haben bereits gesehen, dass Michel Foucault in Les mots et les choses von einem Borges-Zitat ausging, das ihn in die archäologische Ordnung der Dinge einführte. Als Motti oder Epigraphe dienten Fragmente aus Borgesʼ Werken ungezählten Publika-tionen der sechziger und beginnenden siebziger Jahre als Prä-Texte – nun nicht mehr allein in Frankreich, sondern auch in anderen europäischen Ländern oder in Nordamerika. Ein lateinamerikanischer Schriftsteller war damit – weitaus mehr als die Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral – zum gemeinsamen Bezugs-punkt breiter intellektueller Kreise im internationalisierten Kulturhorizont gewor-den. So sehr Gabriela Mistral mit ihrem Literaturnobelpreis auch den Bann der lateinamerikanischen Literaturen gebrochen hatte: Dies kam in der Folge weniger ihrem eigenen Werk als dem eines Argentiniers zugute, der lange vor den jungen
500 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten Intellektuellengenerationen Lateinamerikas die Aufmerksamkeit innerhalb eines damals noch zentrierten weltliterarischen Systems auf sich zog.Jorge Luis Borges begann, in der Rezeption seiner seit Beginn der dreißiger Jahre verfassten Ficciones alle anderen Autoren seines Kontinents zu überstrah-len, eine Entwicklung, die durch seine zunehmend geschickter werdenden Inter-views noch verstärkt wurde. Sie konnten sich selbst vergewissern, wie clever der Argentinier mit den Medien umging und wie sehr er sie für das Bild, das er von sich projizieren wollte, einzusetzen verstand.Innerhalb kürzester Zeit verwandelte sich Jorge Luis Borges in eine Pflicht-lektüre angehender Autorinnen und Autoren; und nach einigen Jahrzehnten kam er selbst bei jenen Literaturwissenschaftlern an, die sich niemals zuvor mit Lateinamerika beschäftigt hatten und sich nun wie Hans Robert Jauss über Borges zu beugen und über ihn zu schreiben genötigt sahen.5 Dies war auch für die hispanoamerikanischen Literaten eine nicht immer leicht zu verkraftende Situation, galt Borges in Europa und den Vereinigten Staaten doch bald als Inbe-griff des lateinamerikanischen Autors, an dem die jüngeren zunächst gemessen werden mussten. Man könnte daher die These wagen, dass es in Europa bezüg-lich der hispanoamerikanischen Literaturen zunächst zur Grundlegung eines postmodernen Lektüremusters kam, bevor andere Lektüremodi dieses Muster zeitweilig wieder überdeckten und in den Hintergrund treten ließen. Im Zeichen des Boom verblasste Borgesʼ Prestige ein wenig, da er auch beim besten Willen nicht dieser Gruppe junger Schriftsteller zugeordnet werden konnte. So bildeten sich zwei Lektüre- und Rezeptionsmodi heraus, die über lange Jahrzehnte die Aufnahme der lateinamerikanischen Literaturen in Europa und Nordamerika beherrschten.In der an Borges ausgerichteten Rezeption wurden jene Elemente in den Vordergrund gestellt, welche nicht direkt auf einen spezifisch lateinamerika-nischen Verweisungszusammenhang hindeuten und quasi einen ‚neutralen‘ (und dies heißt letztlich: an Europa und den USA ausgerichteten oder von dort her leicht konsumierbaren) Hintergrund betonen. Ohne spezifische Kenntnisse über Lateinamerika schien eine solche Literatur leicht verstehbar zu sein. Die angeführten Studien von Beatriz Sarlo zeigten freilich mit aller wünschens-werten Deutlichkeit auf, wie stark ebenso der Entstehungskontext wie der not-wendige Interpretationshorizont bei Borges von Lateinamerika und vor allem 5 Vgl. Jauss, Hans Robert: Wege des Verstehens. München: Wilhelm Fink Verlag 1994; vgl. hierzu das Kapitel „Eine Hermeneutik des Verstehens, Vergessens und Verzeihens“ in Ette, Ottmar: Der Fall Jauss. Wege des Verstehens in eine Zukunft der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 501von Buenos Aires und Argentinien her geprägt waren. Borges beschäftigte sich sehr wohl in den verschiedensten literarischen Formen und Gattungen mit argentinischen Themen und Traditionen, doch standen diese Schöpfungen nicht im Zentrum der internationalen Rezeption, welche derlei Deutungskon-texte gerne geflissentlich ‚übersah‘. Gerade in Europa ging es vielmehr um den Einbau von Elementen, die mit den aktuellen Fragestellungen der philosophi-schen und literarischen Avantgarde der späten fünfziger und vor allem sechziger Jahre zu verbinden waren und innerhalb dieses Kontexts Impulse zu geben ver-mochten.Die internationale Borges-Lektüre war eine sehr spezifische, insofern sie die argentinischen und lateinamerikanischen Traditionslinien weitgehend margina-lisierte oder ganz ausklammerte. So dominierten in dieser Rezeption die Meta-phorologien von der Welt als unendlicher Bibliothek, vom Universum als Laby-rinth, von der Fiktion als Spiegel eines Spiegels, von der Auflösung der Differenz zwischen Urbild und Kopie, Original und Fälschung, zwischen binären Gegen-sätzen jeglicher Art. Borgesʼ Erzählungen gaben Themenbereiche vor, die von den Neoavantgarden in Europa begierig aufgegriffen wurden, um die fest gefügten Gegensatzpaare des Strukturalismus spielerisch zu überwinden und Bereiche zu schaffen, die sich zwischen Diachronie und Synchronie oder – um mit Barthes zu sprechen – im „Switch“ zwischen stimmhaft und stimmlos (S/Z) bewegten. Über-dies verwischte die kreative Aneignung akademischer oder literaturkritischer Dis-kursen in der Fiktion die Grenzen zwischen literarischem Diskurs und Metadis-kurs, eine Grenzüberschreitung, welche in den Theorien ab den späten fünfziger Jahren dankbar aufgegriffen wurden.Jorge Luis Borges wurde aller argentinischen Anfeindungen und ideologi-schen Widerstände und aller unerträglichen politischen Interviews in Zeiten der argentinischen Militärdiktatur zum Trotz rasch zum geistigen Vater einer Litera-tur, die sich selbst bald als „postmodern“ ausrief. Der argentinische Autor hat sich zu dieser Entwicklung mehrfach ironisch geäußert. Aus der Sicht unserer Vorlesung aber situierte sich sein Schreiben in seinen avantgardistischen Anfän-gen deutlich noch diesseits, in seiner weiteren Entwicklung aber dann ebenso deutlich jenseits jener großen Veränderung, welche wir mit Roland Barthes als „sanfte Apokalypse“ umschrieben. Sie erst brachte jenen Übergang der Moderne in die Postmoderne mit sich, welcher von grundlegender Bedeutung auch und gerade für Entwicklungen hin zu den Literaturen der Welt war. Borgesʼ litera-rische Texte wie deren internationale Rezeption können in ihrer Bedeutung für Literatur und Philosophie in diesem Zusammenhang gar nicht überschätzt werden.Zweifellos ist Jorge Luis Borges heute ein Klassiker, und ein Klassiker der Postmoderne allemal. Er selbst hat über den Umgang mit Klassikern viel geschrie-
502 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten ben; ich habe mich jedoch bereits in der Vorlesung LiebeLesen damit beschäftigt und will an dieser Stelle nicht mehr darauf zurückkommen. Festzuhalten aber bleibt, dass sich Borges der deutungsprägenden Signifikanz der Rezeption höchst bewusst war und dabei auch die Diachronie, den für die Moderne so entschei-denden historischen Zeitpfeil, gerne ‚verschob‘, zeige er doch auf, wie aktuelle Texte unser Verständnis beispielsweise antiker Autoren tagtäglich verändern. Auch Klassiker, dies wusste Borges sehr wohl, verändern sich im Verlauf einer langen und nicht vorhersehbaren Praxis des Lesens, beruhen mithin nicht auf überzeitlichen Einsichten, sondern sind fragile Gebilde, die von unserer Jetztzeit und ihren Lektüremodi stets abhängig sind. Klassiker sind in ständiger Bewegung und erweisen sich nur dann als solche, wenn Sie sich im Grunde unendlich vielen Deutungen und Interpretationsansätzen öffnen, ohne doch einem einzigen ganz anzugehören.Zugleich entkoppelte Borges die Texte der Klassiker von ihren originären Kon-texten, womit alle Texte gleichsam frei relationierbar und kombinierbar werden. In diesem freien Spiel der Texte (wie der Waren) konnten alle historisch akku-mulierten Texte jenseits ihrer ursprünglichen historischen, kulturellen oder lite-rarischen Kontexte vergleichzeitigt werden und in einen kreativen Dialog oder Polylog eintreten, der alles mit allem in einer einzigen Bibliothek, einer einzigen Intertextualität, miteinander verband. Wichtig und sogar entscheidend dabei ist, dass auch auf dieser Ebene der Zeitpfeil außer Kraft gesetzt und nichts gemäß einer gegebenen geschichtlichen Abfolge, sondern alles entlang der jeweiligen Kombinierbarkeit miteinander in Verbindung gesetzt werden konnte. Damit aber waren sowohl eine historische oder diachrone Linearität wie auch eine an einem vorgegebenen Zentrum ausgerichtete Struktur als Denkvorgaben aufgegeben und machten einer freien, historisch ‚befreiten‘ Anschlussfähigkeit Platz. Auch dies wurde als Infragestellung von Grundpfeilern der Moderne und einer modernen Sensibilität aufgefasst: Die Türen hin zu einer neuen Sensibilität schienen offen – oder das greifbar, was Michel Foucault am Ende der von uns zitierten Passage als ein Verschwinden jener Dispositionen umschrieb, welche im 18. Jahrhundert – und damit zu Beginn der Moderne – entstanden waren.Das Faszinierende an Jorge Luis Borges ist, dass sich sein Schaffen aus der Perspektivik unserer Vorlesung auf beiden Seiten der „sanften Apokalypse“ situiert und daher einen Platz im zentralen Scharnier zwischen Moderne und Postmoderne einnimmt. Sein erster großer Gedichtband, Fervor de Buenos Airesvon 1923, stand noch überdeutlich im avantgardistischen Zeichen des „Ultraísmo“ Vicente Huidobros, was sich in keiner Weise mehr wegdiskutieren ließ. Daher ent-schied sich Borges, diesem Text wie auch anderen aus seiner frühen Schaffens-phase ein neues und reichlich gerissenes Vorwort nachträglich mitzugeben, in welchem er sich selbst ironisch eine große Kontinuität bescheinigte.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 503Jorge Luis Borges, der die Grenzen zwischen Original, Kopie und Fälschung in seinen literarischen Texten immer wieder verschwimmen ließ, wurde auf diese Weise zum beglaubigten Fälscher seines eigenen Werkes, wusste er doch, wie einflussreich seine neuen Interpretationsvorgaben sein würden. Schauen wir uns dieses Vorwort im Auszug einmal an, in welchem der Borges von 1969, längst zum Vater der Postmoderne avanciert, dem jungen avantgardistischen Borges von 1923, der in der argentinischen Avantgarde des „Martinfierrismo“ um die einfluss-reichen Zeitschrift Martín Fierro schrieb, einige Dinge für die spätere Entwicklung mitgab:Ich habe dieses Buch nicht neu geschrieben. Ich habe seine barocken Exzesse abgemil-dert, habe an einigen rauen Stellen gefeilt, habe Gefühlsduseleien und Vagheiten getilgt sowie im Verlaufe dieser bisweilen dankbaren und bisweilen unangenehmen Arbeit emp-funden, dass jener Junge, der das 1923 schrieb schon im Wesentlichen – und was heißt schon im Wesentlichen? – jener Herr war, der jetzt resigniert oder korrigiert. Wir sind ein und derselbe; wir beide glauben nicht an das Scheitern oder an den Erfolg, glauben nicht an die literarischen Schulen und an ihre Dogmen; wir beide sind devote Anhänger von Schopenhauer, Stevenson und Whitman. Für mich nimmt Fervor de Buenos Aires all das vorweg, was ich später schreiben sollte. Denn es ließ schon erkennen und versprach auf eine gewisse Art bereits, was später großzügigerweise Enrique Díez-Canedo und Alfonso Reyes guthießen.6Diesem Text ist leicht zu entnehmen, dass sich hier ein älter gewordener Schrift-steller bemüht, sein eigenes Gesamtwerk zu runden und die Kontinuität seines eigenen Schaffens zu behaupten. Bei diesem Unterfangen ist er zweifellos gezwungen, sich in ein ‚ausgewogenes‘ Verhältnis zu jenem Teil seines Werkes und seines Lebens zu setzen, das sich auf Grund seiner avantgardistischen Anfänge so einfach nicht ‚runden‘ ließ. Daher verfolgte er eine in seinem Vorwort deutliche Doppelstrategie: Er feilte mit der Feile, veränderte also und strich, und brachte andererseits das Ergebnis dieser Arbeit in einen direkten Bezug zu dem, was er später sein wollte – wohlgemerkt mit der Feile und Tippex, wenn Sie das noch kennen, in der Hand.So wurde aus zweien ein einziger, ohne dass doch der erste verschwinden musste. Diese gesuchte Ambivalenz, diese gerissene Offenheit ist typisch für den medienerfahrenen Jorge Luis Borges in seinen späteren Jahren. Hierin ist er durch-aus ein Schüler Schopenhauers und der Welt als Wille und Vorstellung: Denn er wollte, ja er musste den avantgardistischen Borges der jungen Jahre zu einem Vor-läufer des postmodernen Borges der späten Jahre machen, um sein Gesamtwerk, 6 Borges, Jorge Luis: Fervor de Buenos Aires. Buenos Aires: Emecé 1996, Prólogo, S. 11.
504 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten das gewiss eine große Homogenität aufweist, zu arrondieren. Borges spielte in diesen Sätzen mit der philosophischen Vorstellung, um sein eigenes Früh-Werk als Wille und Vorstellung des späten Borges zu deuten und damit geflissentlich umzudeuten.Es gibt einen aufschlussreichen Text, den Borges wohl nicht in schriftlicher Form festhielt, aber einer 1967 auf Schallplatte veröffentlichten hörenswerten Selbstaufsprache seines Gedichts Fundación mítica de Buenos Aires voranstellte. Ich werde Ihnen ein wenig später diese Aufnahme und den vorangehenden, vom alten Borges vorgetragenen Text vorspielen, möchte aber bereits an dieser Stelle festhalten, dass sich der alte Borges in diesem kurzen Text noch wesentlich schär-fer vom jungen Borges distanzierte, der mit dem lesenden nichts mehr zu tun habe. Er sei ein anderer Borges, der nun sein eigenes Gedicht wie das Gedicht eines anderen lesen werde. Doch dazu und zu diesem Gedicht etwas später mehr ...Wir könnten an dieser Stelle auf all jene Versuche hinweisen, in welchen ein Schriftsteller oder Dichter seine frühen Schriften zu verbergen oder umzudeuten suchte: Auf Gustave Flaubert und seine erste, gescheiterte Education sentimen-tale, den frühen Honoré de Balzac, der sich nicht mehr gerne an seine ersten Romane erinnerte, den jungen Jules Verne, der seinen unveröffentlicht geblie-benen Romanerstling nicht mehr publizierte. Im lateinamerikanischen Bereich suchte Vicente Huidobro seine frühe modernistische Lyrik möglichst rasch in jenen Creacionismo einzuordnen, den er schon – eine kleine Änderung auf dem Titelblatt genügte – noch vor seiner Reise nach Frankreich und seiner Begegnung mit Reverdy erfunden haben wollte. Fast ein halbes Jahrhundert lag zwischen dem ultraistischen Gedichtband und dem späten, ein nachträgliches Vorwort verfassenden Borges, der sich seiner Bedeutung ganz und gar bewusst war. Und doch sollten wir uns nun weniger mit der Tatsache beschäftigen, dass Vicente Huidobro zur Avantgarde hin fälschte und Jorge Luis Borges von der Avantgarde weg – was schon ein wichtiges Indiz wäre –, sondern wodurch sich die Gedichte der zwanziger Jahre in Bezug auf Zeit und Raum auszeichnen und wie wir ihre Beziehung zum Gesamtwerk näher bestimmen können.Um dieses Ziel zu erreichen, werfen wir zuerst einen Blick auf einen etwas entfernt scheinenden Text aus dem Gedichtband Luna de enfrente von 1925 – das Gedicht Montevideo:Ich rutsche auf Deinem Nachmittag wie die Müdigkeit auf der Barmherzigkeit einer Steigung rutscht.Die neue Nacht ist wie ein Flügel über Deinen Dachterrassen.Du bist das Buenos Aires, das wir besaßen, das sich über die Jahre gemächlich von uns entfernte.Du bist unser und in Feierlaune, dem Sterne gleich, den die Wasser verdoppeln.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 505Als falsche Tür in der Zeit schauen Deine Straßen zur leichteren Vergangenheit.Helle, von wo der Morgen uns kommt, auf den süßen durchmischten Wassern.Noch bevor sie mein Gitter erhellt, beglückt Deine niedrige Sonne Deine Landhäuser.Stadt, die sich anhört wie ein Vers.Straßen mit dem Licht der Innenhöfe.7In dieser Hommage an das benachbarte oder besser gegenüberliegende Monte-video wird, wie in Fervor de Buenos Aires, eine Stadtlandschaft evoziert, die nun aber nicht die der argentinischen, sondern vielmehr der uruguayischen Hauptstadt ist. Dabei ist das strukturierende Element der Vergleich, die ständig wiederkehrenden „como“, welche das lyrische Ich in eine Beziehung zur mit Du angesprochenen Stadt setzen. Mit der Evokation von Abend („tarde“) und Nacht („noche“) wird zugleich eine zeitliche Dimension aufgerufen, die im dritten Vers konkretisiert wird: Die Hauptstadt Uruguays erscheint als die Ver-gangenheit der eigenen Hauptstadt, jener Stadt, die „wir besaßen“. Damit ist zugleich das lyrische Ich auf eine erste Person Plural hin geöffnet, die zweifel-los nicht die von Montevideo ist. Die Sichtweise Montevideos ist vielmehr eine von außerhalb des Raums, aber auch außerhalb der Zeit: Das alte Buenos Aires wird paradoxerweise durch Montevideo erreichbar und sichtbar, nicht aber das neue Montevideo. Auf diese Weise wird die Reise im Raum eine Reise in der Zeit, das Andere zugleich zum Vertreter, zum Substitut des Eigenen. Eine gewisse Großmannssucht, die man den Bewohnern von Buenos Aires ja nach-sagt, mag in diese Perspektivierung der Hauptstadt Uruguays sehr wohl hinein-spielen.Zugleich ist Montevideo aber auch die „Puerta falsa en el tiempo“, eine Fäl-schung also, in welcher die Straßen als Gebilde des Raumes sich als Phänomene der Zeit erweisen, welche in die Vergangenheit blicken, hin zu einer Vergangen-heit, die als „más leve“ erscheint. Die zuvor mit Abend und Nacht assoziierte Stadt wird nun mit dem Morgen verbunden, was der weiter östlich gelegenen geo-graphischen Position in gewisser Weise angemessen ist. An diesem Punkt indes wird Montevideo mit der Intimität des lyrischen Ich verknüpft, das jenes Licht in sein Zimmer hereinlässt, welches schon das ruhige Montevideo bescheint, seine Landhäuser, die „Quintas“, aber auch die Patios, die für die Mythologie der Stadt bei Borges eine so wichtige Rolle spielen.Es ist jenes Montevideo, von dem Borges an anderer Stelle einmal schrieb, dass die Stadt wie ein hübsches Viertel von Buenos Aires sei, das sich in die 7 Borges, Jorge Luis: Montevideo. In Frías, Carlos V. (Hg.): Jorge Luis Borges. Obras completas 1923–1972. Buenos Aires: Emecé 1974, S. 63.
506 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten Sommerfrische aufgemacht habe. Diese Aussage schien letztlich gar nicht so weit hergeholt, waren Montevideo und mehr noch Punta del Este doch mit die beliebtesten Aufenthaltsorte für die „Porteños“, die Bewohner von Buenos Aires, während der Sommerferien. Fast wirkt dies alles wie ein Klischee aus argenti-nischer Perspektive: Montevideo als die kleinere Stadt auf der anderen Seite des Río de la Plata, als die kleinere Schwester, die wie ein Viertel von Buenos Aires in der Zeit zurückblieb und wo alle Straßen in die Vergangenheit führen.Sicherlich stoßen wir in diesem Gedicht auf die Sicht eines „Porteño“, der sich in der argentinischen Hauptstadt im Hauptmeridian der Kultur weiß, während Montevideo eine eher nostalgisch zu beleuchtende, zurückgebliebene Welt darstellt. Borges war in jenen Jahren die Galionsfigur der Zeitschrift Martín Fierro, die zwischen 1924 und 1927 eine kaum zu überschätzende Rolle innerhalb des literarischen Feldes Argentiniens spielte. In dieser nach dem gleichnamigen argentinischen Gaucho-Epos von José Hernández benannten Zeitschrift erschie-nen damals die Gedichte der hispanoamerikanischen Avantgarden, aber auch der jüngsten französischen Literatur oder auch Texte unter anderem von James Joyce, an deren Übertragung sich der Argentinier als erster spanischsprachiger Über-setzer wagte. Die Autoren dieser Gruppe fühlten sich absolut auf der Höhe ihrer Zeit – und dies galt insbesondere für Jorge Luis Borges, der nicht nur Spanisch und Englisch, sondern auch Französisch, Deutsch und Italienisch sprach und mit den jeweiligen literarischen Entwicklungen bestens vertraut war. Man konnte sich in jenen Jahren in Buenos Aires in der Tat im Schnittpunkt aller maßgeblichen kulturellen Bewegungen fühlen: Buenos Aires war eine Metropole, die mit dem Rücken zum Rest von Argentinien, zum Rest von Lateinamerika lebte und den Blick fest auf Europa und vor allem Paris geheftet hatte.Zugleich war die Verbindung mit dem Moderneprojekt überdeutlich, mit Fra-gestellungen der Modernisierung, welche vor einem Jahrzehnt noch die Moder-nisten um José Enrique Rodó, aber aktuell auch die argentinischen Avantgar-disten stark beschäftigten. Gerade für die Dachterrassen, die „azoteas“, hatten sich Borges und der damals in Lateinamerika arbeitende Franzose Le Corbusier brennend interessiert; ein Element der Stadtlandschaft, auf dessen Bedeutung Raúl Antelo zurecht aufmerksam machte.8 Deutlich erkennbar waren in Borgesʼ Montevideo ferner ultraistische Elemente, für welche die Modernität mit der Beschleunigung der Zeit und mit den großen, sich rasch wandelnden Stadtland-schaften einhergingen. Dies waren durchaus zeittypische Charakteristika, die wir zusammen mit der Betonung, ja Verherrlichung von Technik durch die italie-8 Vgl. Antelo, Raúl: Una crítica acéfala para la modernidad latinoamericana. In: Iberoamericana(Frankfurt am Main – Madrid) VIII, 30 (junio 2008), S. 129–136.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 507nischen Futuristen bereits eingehend in unserer Vorlesung analysieren konnten. Auch sie bildeten einen wichtigen Verstehenshorizont für Borgesʼ Gedicht an Montevideo.Abb. 95: Le Corbusier: Skizzen für städtebauliche Projekte in Montevideo und São Paulo, 1929.Raum und Zeit spielen auch in einem weiteren Gedichtband des frühen Borgeseine zentrale Rolle: im Cuaderno San Martín von 1929. Daraus stammt das erste berühmt gewordene Gedicht mit dem Titel Fundación mítica de Buenos Aires, das ich Ihnen in einer Übersetzung von Gisbert Haefs vorstellen darf. Sie können sich übrigens das ganze Gedicht in der bereits kurz erwähnten, 1967 veröffentlichten Aufsprache des damals achtundsechzigjährigen Autors anhören. Schauen wir uns also diese Mythische Gründung von Buenos Aires, die natürlich im Wohnvier-tel von Borges, in Palermo, verortet wird, einmal an:Also auf diesem trägen und schlammigen Fluss wären damalsall die Boote gekommen, mir die Heimat zu gründen?Die bunten Schiffchen tanzten bestimmt auf den Wellen am Ufer,zwischen treibenden Büschen in der Brühe der Strömung.Um die Sache gut zu bedenken, lasst uns vermuten,dass der Fluss damals blau war, wie im Himmel entsprungen,samt seinem roten Sternchen für den Ort, an dem Juan Díazfrühstückte, und an dem ihn abends die Indios verspiesen.
508 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten Sicher ist, tausend Männer und weitere Tausende kamen,über ein Meer herüber, das damals fünf Monde breit war,und das noch bevölkert war von Sirenen und Drachenund von Magnetsteinen, die die Kompassnadeln verführten.Einige scheue Landstücke nahmen sie an die Küste,schliefen befremdet. Angeblich war das am Riachuelo,aber das ist ein Schwindel, erfunden im Viertel von Boca,es war ein ganzer Block in meinem Viertel, Palermo.Ein ganzer Block, aber mitten im Feld, und der Morgenröteausgesetzt und dem Regen und den südwestlichen Stürmen.Gleich dem Block der noch immer fortbesteht in meinem Viertel:Guatemala, Serrano, Paraguay, Gurruchaga.Ein Schankladen leuchtet rosa wie Spielkartenrücken,und im Hinterzimmer beredet man einen Truco;der rosa Schankladen blühte auf zu einem Halunken,bald schon der Boss der Ecke, bald schon hart und verschlagen.Den Horizont überwand eine erste Drehorgel, klapprigin der Bewegung, mit Habaneras und fremdem Geleier.Sicherlich stimmte der Wagenstall schon für YRIGOYEN,und irgendein Klavier spielte Tangos von Saborido.Ein Zigarrenladen räucherte wie eine Rosediese Öde. Der Abend war schon tief voll von gestern,eine Illusion von Vergangenheit teilten die Menschen.Eines nur fehlte noch: der Gehsteig von gegenüber.Dass Buenos Aires jemals begonnen hat, kann ich kaum glauben:mir erscheint es so ewig wie die Luft und das Wasser.9In diesem Gedicht führt Jorge Luis Borges seine Leidenschaft für Buenos Aires, die bereits im Titel seines ersten Gedichtbandes zum Ausdruck kam, entschlos-sen fort. Sie ließe sich durchaus autobiographisch deuten, ist doch das spek-takuläre Straßennetz der Großstadt für den jungen Borges in der Tat mythisch, ließ ihn doch seine Mutter nach einem Zusammenstoß des Jungen mit einer Straßenbahn, die er wegen seines schlechten Augenlichts nicht hatte kommen sehen, nicht mehr alleine auf die Straße. Borges erträumt sich fortan sein Viertel 9 Borges, Jorge Luis: Fundación mítica de Buenos Aires. In Haefs, Gisbert (Hg.): Jorge Luis Borges. Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte 1923 – 1965. München: C. Hanser 1982, S. 51 f.
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 509und seine Stadt ganz so, wie er sich später als Direktor seine Nationalbibliothek imaginierte.So erträumte sich Borges, der die Welt aus der Sicht vergitterter Fenster in seinem Stadtviertel Palermo kennenlernte, eine eigene Stadt im Kopf, ein mythi-sches Buenos Aires, dem er deshalb auch eine mythische Geschichte zu Grunde legte. Wir werden gleich sehen, welch eine Stadt dies war. Es bleibt indes fest-zuhalten, dass Borges als einer der ersten Dichter das Buenos Aires der Straßen, der Vorstädte, der kleinen Plätze, der „suburbios“, der „arrabales“ und „compa-dritos“ besang und nicht die Metropole der Staatsgründer, Bankiers und großen Leute. Er schuf auf diesem Wege jene Szenerie, die auch in seinen criollistischen Prosaschriften von größter Bedeutung ist. Der Argentinier Horacio Salas hat einmal in der argentinischen Lyrik des 20. Jahrhunderts nachgezählt, und da ist Borges nur einer der ganz frühen von insgesamt nicht weniger als vierhundert argentinischen Dichtern, die ihre geliebte Stadt wie ihre Geliebte besangen.10 Was aber macht den mythischen Gesang, die mythische Vision von Borges aus?Wir wollen an dieser Stelle nicht die politische Parteinahme des lyrischen Ich in diesem Gedicht für Hipólito Irigoyen untersuchen und damit für die Radikale Partei (Partido de la Unión Cívica Radical), die Partei der Mittelklasse, welche die Oligarchie von der Herrschaft verdrängte. Ihr stand Irigoyen als Caudillo vor und sie vertrat er als gewählter Präsident, bevor ihn 1930 ein Militärputsch – der erste in einer lang anhaltenden Serie – von der Macht vertreiben sollte. Die politischen Stellungnahmen von Borges sind oft von so entnervender Beschaffenheit, dass es schwerfällt, sie in eine Gedichtanalyse miteinzubeziehen, obwohl wir sie auch nicht ganz vergessen dürfen, zumal es hier um einen demokratisch gewählten Präsidenten Argentiniens geht. Berüchtigt sind seine späteren Stellungnahmen für den Faschismus und die Militärdiktatur geblieben, und nicht alles lässt sich mit dem flotten Hinweis darauf zudecken, dass Borges ja wohl selbst gesagt hatte, dass die politischen Äußerungen immer das Dümmste der Dichter seien. Jedenfalls hat Borges in El tamaño de mi esperanza das Hohelied von Irigoyen gesungen und ihn mit keinem Geringeren als – dem Diktator Rosas verglichen. Wir verstehen, warum Borges koste es was es wolle die Publikation dieses Bandes zu verhindern trachtete und El tamaño de mi esperanza auch nur postum und mit dem Einverständnis von María Kodama erscheinen konnte.Die mythische Gründung von Buenos Aires stellt zunächst einige Fakten zur Disposition, auf die im Gedicht angespielt, die aber von Beginn an mit einem Fragezeichen versehen wurden. So wird zunächst der Ort der Gründung verlegt, 10 Vgl. Salas, Horacio: Buenos Aires, mito y obsesión. In: Cuadernos Hispanoamericanos (Ma-drid) 504 (junio 1992), S. 389–399.
510 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten und zwar von der sogenannten „Boca“ weg (wo wir die historische Gründung ansiedeln dürfen) hin nach Palermo, wo die erste Gründung der künftigen Haupt-stadt einen ganzen Häuserblock umfasst haben soll. Diese Verlegung ist leicht durchschaubar, wohnte doch Jorge Luis Borges selbst in jenem Carré, das die vier Straßennamen am Ende der Strophe angeben. Diese präzise, auch heute noch auf jedem Stadtplan zu bestimmende Situierung, welche noch durch zusätzliche ortskundige Elemente gestützt wird, macht damit den schicken großbürgerlichen Stadtteil am Rande der damaligen Metropole in den zwanziger Jahren zum eigent-lichen Ursprungsort, verschiebt also den Ursprung in einer für jeden Bonaerenser durchsichtigen und nicht ganz ernstzunehmenden Weise.Abb. 96: Stadtplan von Buenos Aires, ca. 1892.Die augenzwinkernde Fälschung ist durchschaubar und weist gerade daher nicht auf das Objekt der Fälschung, sondern auf dessen Subjekt, auf dessen Urheber zurück. Dieses lyrische Ich, das sich somit in den Mittelpunkt des Gedichtes stellt, lässt es bei der Dezentrierung im Raum und der fingierten Gründung eines eigenen Raums mit eigenem Ursprung, eigener Geschichte, eigenem Netz-werk von Straßen nicht bewenden, sondern führt in den beiden letzten Versen auch eine Dezentrierung in der Zeit durch. Wieder sind es die anderen, die die gängige Meinung zum Ausdruck bringen, und wieder hält das Ich dagegen, indem es den gerade erst verschobenen, differierten Ursprungsmythos als Mythos des Ursprungs gleichsam ‚entlarvt‘, um dadurch der von Menschen, von spanischen
Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 511Eroberern geschaffenen Stadt eine ursprungslose, gleichsam natürliche, ewige Dimension zu verleihen.Sie entrückt Buenos Aires als Ewige Stadt der Dimension der Zeit: Die Stadt am Río de la Plata war schon immer da, ist so ewig wie der Fluss oder der Ästuar selbst. Damit ist Buenos Aires, das von außen her gegründet wurde, das also peripher liegt zum Herkunftsort jener Spanier, welche die Gründung der Stadt durchführten, selbst zum Zentrum geworden und hat sich an die Stelle der alten Zentren gesetzt. Auch Palermo erinnert an keine europäische Stadt mehr, sondern befindet sich ganz einfach im Herzen der argentinischen Metropole. Die Spanier stammen von den Goten oder vielleicht den Iberern ab, „descienden de los visigodos“; die Argentinier aber, so eine beliebte Formel, „descienden de los barcos“: Sie sind ganz einfach den Schiffen entstiegen. Dieses Bild wird in diesen Versen vorgeführt und zugleich dekonstruiert, indem die Zeitachse des Gründungsmythos ins Unendliche verschoben oder verbogen wird. Gleichzeitig fällt dies mit der Schöpfung der Welt, mit den Grundelementen des Wassers und der Luft – nicht umsonst trägt die Stadt ja den Namen der Guten Winde und war das Wasser ihr Kreissaal – in Eins. Lassen Sie es mich mit der für die „Porteños“ sprichwörtlichen Bescheidenheit der biblischen Genesis sagen: Im Anfang also war Buenos Aires.Ich möchte an dieser Stelle unsere Interpretation des Gedichts abbrechen, hat sie uns doch schon zur Genüge gezeigt, dass Jorge Luis Borges keineswegs jener Dichter und Erzähler ist, für den er oft ausgegeben wird: ein Dichter des Univer-salen, des nicht in Raum und Zeit Verorteten, ein Autor, der ebenso gut Franzose, Italiener oder Japaner hätte sein können. Derlei Anschauungen dürfen wir ein ein-silbiges Nein entgegenhalten. Wir sind dabei freilich nicht die einzigen, hat sich doch die argentinische Literaturkritik während des zurückliegenden Vierteljahr-hunderts auf ihren Borges besonnen. Sie hat ihn, den man stets als vaterlands-losen Gesellen beschimpfte, als den am wenigsten lateinamerikanischen Schrift-steller des Jahrhunderts ächtete, aus allen progressiven Zirkeln ausschloss, die sich mit den Literaturen des Subkontinents beschäftigten, nun kurzerhand zum argentinischsten aller Argentinier und Schriftsteller ausgerufen. Ein fürwahr bei-spielloser Vorgang, der freilich noch immer nicht abgeschlossen ist. Halten wir also fest: Jorge Luis Borges ist ein Schriftsteller aus Palermo.Nur leicht karikierend könnten wir ferner sagen: Nachdem die Europäer riefen, dass Borges einer der ihren sei, und die Argentinier ihnen hinüberriefen, man möge ihn gerne mitnehmen, schallt es nun aus allen Erdlöchern, Jorge Luis Borges sei wie kein anderer dem Heimatboden Argentiniens verbunden geblieben, sei der Inbegriff Argentiniens schlechthin, darin vielleicht nur noch Diego Armando Maradona gleich. So geht das mit Schriftstellern, an deren Größe man nicht vorbeikommt: Erst will man sie geistig exilieren, und geht das nicht,
512 Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten dann muss man sie halt vereinnahmen und assimilieren. Der ‚Re-Argentinisie-rungs‘-Prozess von Borges hat in den letzten Jahrzehnten seltsame Blüten getrie-ben und wird, da fällt das Prophezeien nicht schwer, auch in den kommenden Jahren noch viel Interessantes konstruieren und zusammenbasteln. Wir sollten uns davon nicht den Blick verstellen lassen und im Auge behalten, dass wir es mit einem Schriftsteller zu tun haben, der in überzeugender Weise die spezifischen Traditionen seiner Herkunft mit weltliterarischen Filiationen auf kreative und spielerische Weise verband. Als argentinischer Autor erweiterte er die Möglich-keiten des Schreibens überhaupt in beträchtlichem Maße. Gerade deshalb also erscheint Borges unterschiedlichen Nationen in unterschiedlichem Licht, und genau deshalb ist Borges in seiner eigenen Definition ein Klassiker, lässt sein Werk doch unendliche Deutungen und Interpretationen zu. Borges ist zugleich, einen Buchtitel von ihm selbst variierend, „el otro“ und „el mismo“: der Selbe und der Andere.Jorge Luis Borges selbst hat sich zu dieser Problematik mehrfach zu Wort gemeldet. Am wortgewaltigsten und einflussreichsten tat er dies wohl in seinem Essay El escritor argentino y la tradición. In diesem ursprünglich als Vortrag kon-zipierten Text wird in gewisser Weise der doppelte Borges sichtbar und zusam-mengedacht: zum einen der Borges zwischen 1919 und etwa 1935, mit dem wir uns gerade beschäftigt haben, und andererseits jener Borges, der sich dann ab etwa 1935 stärker von den argentinischen Inhalten abwandte. Letzterer legte den Grundstein für seinen universalen Ruhm durch die Behandlung universaler Themen. Paradoxerweise war es dieser universale Ruhm und die Weltgeltung, die ihm zuteilwurden, welche ihn dank einer sich drehenden Rezeptions-geschichte nachträglich wiederum in einen Argentinier verwandelten. Dies ist die mythische Genese des postmodernen Borges, jenes argentinischen Schrift-stellers, der – wie sein Biograph Emir Rodríguez Monegal meinte – zu so etwas wie einem Guru, wir könnten hinzufügen: zu einem postmodernen Guru, wurde, der auf seinen unzähligen Vortragsreisen durch die USA und Europa bisweilen frenetisch gefeiert wurde. Unbestritten ist, wie wir sahen, dass Borges selbst versuchte, diese vor 1935 liegende Zeit zu verdunkeln oder doch einige Spuren zu verwischen und durch neue, künstlich angelegte, mythische Spuren zu ver-decken.In El escritor argentino y la tradición geht Borges auf Fragestellungen ein, die sich mit T.S. Eliot in Verbindung bringen ließen, der schon darauf hingewiesen hatte, dass etwa Homers Odyssee nicht mehr ohne die Erfahrung von James Joyces Ulysses zu lesen sei – eine Tatsache, der sich noch immer viele Altphilologen ver-schließen. Und weiter noch, dass die literarische Vergangenheit von den Ver-änderungen der Gegenwart und Zukunft her transformiert und neu gedacht, in einem veränderten Sinne konstruiert und konzipiert wird. Die literarische Ver-
Chapters in this book
- Frontmatter I
- Vorwort V
- Inhalt VII
- Zur Einführung 1
- Enrique Vila-Matas oder vom Leben der Zitate 5
-
Teil 1: Die historischen Avantgarden
- Einleitung 49
- Filippo Tommaso Marinetti, Valentine de Saint-Point oder die Anfänge der historischen Avantgarde 81
- Der Futurismus, der Fortschritt und ein Vorläufer 110
- Dada, Tzara und die sinnhafte Macht des Nonsens 154
- Die historischen Avantgarden in Lateinamerika 188
- Alfonso Reyes oder die Arbeit am Mythos 196
- Leitlinien zu den historischen Avantgarden Lateinamerikas 228
- Vicente Huidobro oder ein avantgardistisches Schreiben in französischer und spanischer Sprache 235
- César Vallejo oder die Verschmelzung von Leben, Lyrik und Politik 261
- Exkurs: César Vallejo und die Intellektuellen 281
- Ramón Gómez de la Serna oder die Avantgarde im Café 290
- Albert Cohen und seine avantgardistischen Erzählversuche 321
- André Breton, der französische Surrealismus und die Folgen 336
- Georges Bataille oder die Enttabuisierung des Verdrängten 379
-
Teil 2: Zwischen Moderne und Postmoderne
- Einleitung 399
- Gabriela Mistral, der Literaturnobelpreis und der Postmodernismus 423
- Juana de Ibarbourou oder die Juana Amerikas 440
- Alfonsina Storni oder die Entfaltung einer feministischen Lyrik 457
- Diesseits und jenseits der sanften Apokalypse 480
- Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 494
- Max Aub, Jussep Torres Campalans oder Avantgarde, Postavantgarde und Postmoderne 549
-
Teil 3: Literaturen im Zeichen der Postmoderne
- Einleitung 609
- Boris Vian oder die Literatur im Jazz der Massenkultur 614
- Julio Cortázar oder die Auflösung der Unilinearität des Buches 646
- Michel Butor oder ein virtuelles Bereisen unseres Planeten 661
- Umberto Eco, das offene Kunstwerk und die Listen der Postmoderne 690
- Clarice Lispector, Nathalie Sarraute oder die literarische Behandlung autobiographischer Oberflächen 705
- Julia Kristeva oder die eigene Fremde 726
- Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die transkulturelle Archipelisierung von Insel-Welten 741
- João Guimarães Rosa oder Brasilien als Archipel der Literaturen der Welt 773
- Reinaldo Arenas oder eine wahnwitzige Welt 811
- Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität 830
- Amin Maalouf oder ein Schreiben zwischen Orient und Okzident 880
- Anna Moï oder an den Grenzen der Frankophonie 900
-
Teil 4: Zwischen postmodernem und nachpostmodernem Schreiben
- Mario Vargas Llosa oder die mediale Kompetenz 913
- Khal Torabully, Yanick Lahens oder die Konvivenz auf den Archipelen von Natur und Kultur 956
- Emine Sevgi Özdamar, Cécile Wajsbrot oder Berlistan, Parlin und die Bedrohungen des Lebens 989
- Anhang: Die Zitate in der Originalsprache 1025
- Abbildungsverzeichnis 1095
- Personenregister 1108
Chapters in this book
- Frontmatter I
- Vorwort V
- Inhalt VII
- Zur Einführung 1
- Enrique Vila-Matas oder vom Leben der Zitate 5
-
Teil 1: Die historischen Avantgarden
- Einleitung 49
- Filippo Tommaso Marinetti, Valentine de Saint-Point oder die Anfänge der historischen Avantgarde 81
- Der Futurismus, der Fortschritt und ein Vorläufer 110
- Dada, Tzara und die sinnhafte Macht des Nonsens 154
- Die historischen Avantgarden in Lateinamerika 188
- Alfonso Reyes oder die Arbeit am Mythos 196
- Leitlinien zu den historischen Avantgarden Lateinamerikas 228
- Vicente Huidobro oder ein avantgardistisches Schreiben in französischer und spanischer Sprache 235
- César Vallejo oder die Verschmelzung von Leben, Lyrik und Politik 261
- Exkurs: César Vallejo und die Intellektuellen 281
- Ramón Gómez de la Serna oder die Avantgarde im Café 290
- Albert Cohen und seine avantgardistischen Erzählversuche 321
- André Breton, der französische Surrealismus und die Folgen 336
- Georges Bataille oder die Enttabuisierung des Verdrängten 379
-
Teil 2: Zwischen Moderne und Postmoderne
- Einleitung 399
- Gabriela Mistral, der Literaturnobelpreis und der Postmodernismus 423
- Juana de Ibarbourou oder die Juana Amerikas 440
- Alfonsina Storni oder die Entfaltung einer feministischen Lyrik 457
- Diesseits und jenseits der sanften Apokalypse 480
- Jorge Luis Borges oder die Vergleichzeitigung aller Geschichten 494
- Max Aub, Jussep Torres Campalans oder Avantgarde, Postavantgarde und Postmoderne 549
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Teil 3: Literaturen im Zeichen der Postmoderne
- Einleitung 609
- Boris Vian oder die Literatur im Jazz der Massenkultur 614
- Julio Cortázar oder die Auflösung der Unilinearität des Buches 646
- Michel Butor oder ein virtuelles Bereisen unseres Planeten 661
- Umberto Eco, das offene Kunstwerk und die Listen der Postmoderne 690
- Clarice Lispector, Nathalie Sarraute oder die literarische Behandlung autobiographischer Oberflächen 705
- Julia Kristeva oder die eigene Fremde 726
- Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die transkulturelle Archipelisierung von Insel-Welten 741
- João Guimarães Rosa oder Brasilien als Archipel der Literaturen der Welt 773
- Reinaldo Arenas oder eine wahnwitzige Welt 811
- Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität 830
- Amin Maalouf oder ein Schreiben zwischen Orient und Okzident 880
- Anna Moï oder an den Grenzen der Frankophonie 900
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Teil 4: Zwischen postmodernem und nachpostmodernem Schreiben
- Mario Vargas Llosa oder die mediale Kompetenz 913
- Khal Torabully, Yanick Lahens oder die Konvivenz auf den Archipelen von Natur und Kultur 956
- Emine Sevgi Özdamar, Cécile Wajsbrot oder Berlistan, Parlin und die Bedrohungen des Lebens 989
- Anhang: Die Zitate in der Originalsprache 1025
- Abbildungsverzeichnis 1095
- Personenregister 1108