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Stellenkommentar

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Stellenkommentar1.337, 1–5Jener Reisende, der viel Länder und Völker und mehrere Erdtheile ge-sehn hatte und gefragt wurde, welche Eigenschaft der Menschen er überall wie-dergefunden habe, sagte: sie haben einen Hang zur Faulheit.]In Schriften vonPausanias, Cook, Alexander von Humboldt oder Forster lässt sich ein „Hangzur Faulheit“ nicht nachweisen, wohl aber bei Benj. Graf von Rumford [sc.Benjamin Thompson, Reichsgraf von Rumford]; vgl.Kleine Schriften politi-schen, ökonomischen und philosophischen Inhalts(Bd. 1, 1797, 190). Hier heißtes: „Im Menschen liegt, wie nicht zu leugnen ist, ein natürlicher Hang zurFaulheit und Unthätigkeit“. – Dass diese Auffassung im 19. Jahrhundert sehrverbreitet war, zeigt beispielsweise auchImmanuel Kant’s Menschenkunde oderphilosophische Anthropologie. Nach handschriftlichen Vorlesungen(1831, 51):„Der fleißige Mann arbeitet hingegen langsam, aber beständig. Man mußsagen, alle Menschen haben einen Hang zur Faulheit, nämlich erst unbe-schreiblich viel zu arbeiten, um desto länger alsdann faul zu seyn. Hier ist dieFaulheit der Antrieb zur Arbeit, aber der wahrhaftig Fleißige vertheilet die Ar-beit, und macht keine Zwischenräume von Unthätigkeit, wie der Faule“.Bekannter ist Kants Feststellung in der SchriftIdee zu einer allgemeinenGeschichte in weltbürgerlicher Absichtvon 1784: „Der Mensch hat eine Neigungsich zuvergesellschaften:weil er in einem solchen Zustande sich mehrals Mensch, d. i. die Entwickelung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber aucheinen großen Hang sich zuvereinzelnen(isoliren): weil er in sich zugleichdie ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zuwollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbstweiß, daß er seinerseits zum Widerstande gegen andere geneigt ist. Dieser Wi-derstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahinbringt seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht,Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu ver-schaffen, die er nicht wohlleiden, vondenen er aber auch nichtlassenkann“(AA8,20–21).In seiner SchriftWas ist Aufklärung?von 1784 sieht Kant die „Unmündig-keit“ des Menschen wesentlich durch „Faulheit“ bedingt, die mithin zu einemfundamentalen Hindernis für die Aufklärung wird. Die menschliche „Faulheit“macht Kant bereits im zweiten Absatz dieser Schrift zum Thema, und zwardirekt im Anschluss an die berühmte Anfangspartie: „Aufklärung ist derAusgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Un-https://doi.org/10.1515/9783110677966-002
56Schopenhauer als Erziehermündigkeit. UnmündigkeitistdasUnvermögen, sich seines Verstandesohne Leitung eines anderen zu bedienen.Selbstverschuldetistdiese Un-mündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, son-dern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung einesandern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deineseigenen Verstan-des zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feig-heit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem siedie Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen [...] dennoch gern zeitle-bens unmündig bleiben“ (AA 8, 35).Cosima Wagner freilich erklärt N. am 26. Oktober 1874 in ihrem ansonstenganz enthusiastischen Brief über UB III SE: „Eine einzige Bezeichnung hätteich anders gewünscht, ich hätte Trägheit lieber als Faulheit gelesen, weil ichmit Faulheit den Begriff der Verwesung [...] nicht den der Schwerfälligkeit ver-binde“ (KGB II 4, Nr. 599, S. 594).337, 5–7Manchen wird es dünken, er hätte richtiger und gültiger gesagt: siesind alle furchtsam. Sie verstecken sich unter Sitten und Meinungen.]Indem N.Feigheit und Bequemlichkeit des Menschen als anthropologische Konstantendarstellt, beschreibt er sie zugleich als Hindernisse für die Entfaltung jenergeistigen Selbständigkeit, die Kant in seiner berühmten SchriftWas ist Aufklä-rung?postuliert. Zum programmatischen Kampf Kants gegen die Unmündigkeitvgl. die in NK 337, 1–5 zitierte Textpassage aus Kants Schrift. Die Abgrenzunggegenüber bloßen Meinungen verbindet N. im Anschluss an Schopenhauer mitdem Postulat geistiger Autonomie und innerer Unabhängigkeit (vgl. 338, 10–19), also mit dem Anspruch auf ein Leben „nach eignem Maass und Gesetz“(339, 15). In einer späteren Textpassage kritisiert N. „das Wühlen in zahllosenfremden und verkehrten Meinungen“ (416, 32). Zudem reflektiert er in UB III SEauch über „die geplagten Sklaven der drei M, des Moments, der Meinungenund der Moden“ (392, 10–11). Vgl. dazu NK 392, 9–11. Mit seiner Kritik an den„verkehrten Meinungen“ orientiert sich N. an ähnlichen Formulierungen inSchopenhauersAphorismen zur Lebensweisheit: Dort wird „der Sklave fremderMeinung und fremden Bedünkens“ zum Thema (PP I, Hü 376). Schopenhauerempfiehlt auch, „sich klar zu machen, wie ganz falsch, verkehrt, irrig und ab-surd die meisten Meinungen in den Köpfen der Menschen zu seyn pflegen,daher sie, an sich selbst, keiner Beachtung werth sind“ (PP I, Hü 381).337, 7–11Im Grunde weiss jeder Mensch recht wohl, dass er nur einmal, als einUnicum, auf der Welt ist und dass kein noch so seltsamer Zufall zum zweiten Malein so wunderlich buntes Mancherlei zum Einerlei, wie er es ist, zusammenschüt-teln wird]Mit „Unicum“ ist ein Phänomen gemeint, das nur in einem einzigenExemplar existiert. – Laut KSA 14, 74 spielt N. hier auf Lagarde an. Vgl. dazu
Stellenkommentar UB III SE 1, KSA 1, S. 337–33857Paul de Lagarde: „jeder mensch ist einzig in seiner art, denn er ist das resultateines nie wieder vorkommenden processes einziger art“ (Paul de Lagarde:Deutsche Schriften, 1878–1881, Bd. 1, 49). Da Individualitätskonzepte aller-dings schon im 18. Jahrhundert weit verbreitet sind, erscheint es fraglich, „obdie Parallele wirklich einschlägig sei“ (Sommer 1998, 181).337, 14–15heerdenmässig zu denken und zu handeln]Der despektierliche Blickdes Geistesaristokraten auf die bloße Herdenexistenz als Lebensform der über-wiegenden Masse der Menschen, die sich aufgrund ihrer Mediokrität primär fürdie eigene Bequemlichkeit interessiert, ist auch sonst für N. charakteristisch.Insbesondere in seinen späteren Werken finden sich zahlreiche Belegstellen.N. meint, der soziale Druck der Herdenmoral treibe den Einzelnen in Anpas-sung und Mittelmäßigkeit und motiviere ihn zum Kampf gegen jede höhereExistenzform. Vgl. z. B. die Texte 62, 199, 212 inJenseits von Gut und Böse(KSA 5, 81–83, 119–120, 145–147).337, 21–23Die Künstler allein hassen dieses lässige Einhergehen in erborgtenManieren und übergehängten Meinungen]Einen im positiven Sinne ‚unzeit-gemäßen‘ Sonderstatus spricht N. den (pauschal genannten) Künstlern inUB III SE auch an späterer Stelle zu, und zwar aufgrund ihrer unkonventionel-len Mentalität und ihrer Bereitschaft zur Rebellion gegen die „bestehendenFormen und Ordnungen“ (351, 19). Als paradigmatisch für eine solche Haltungbetrachtet N. Richard Wagner (351, 17). Bereits am 11. März 1870 würdigt N. ineinem Brief an Carl von Gersdorff in diesem Sinne die unzeitgemäße Sonder-stellung Wagners und Schopenhauers: „Zweierlei halte ich mir immer vor: derunglaubliche Ernst und die deutsche Vertiefung in der Welt- und Kunstan-schauung Wagners, wie sie aus jedem Tone quillt, ist den meisten Menschenunsrer ‚Jetztzeit‘ ein Greuel, wie Schopenhauer’s Askesis und Verneinung desWillens“ (KSB 3, Nr. 65, S. 105).338, 5–7Wenn der grosse Denker die Menschen verachtet, so verachtet er ihreFaulheit: denn ihrethalben erscheinen sie als Fabrikwaare]Diese Aussage zieltbereits konkret auf die misanthropischen und pessimistischen TendenzenSchopenhauers, den N. explizit erst einige Seiten später in UB III SE zum erstenMal erwähnt (341, 24). N. übernimmt hier Schopenhauers Industrie-Metapher„Fabrikwaare“. In derWelt als Wille und Vorstellung Ierklärt Schopenhauer:„Der gewöhnliche Mensch, diese Fabrikwaare der Natur, wie sie solche täglichzu Tausenden hervorbringt, ist [...] einer in jedem Sinn völlig uninteressirtenBetrachtung, welches die eigentliche Beschaulichkeit ist, wenigstens durchausnicht anhaltend fähig“ (WWV I, § 36, Hü 220). Auch in seiner SchriftUeber dieUniversitäts-Philosophiespricht Schopenhauer pejorativ von „der Fabrikwaareder Natur [...] mit ihrem Fabrikzeichen auf der Stirn“ (PP I, Hü 209). Ähnlich
58Schopenhauer als Erzieherwie später auch N. vertritt bereits Schopenhauer einen prononcierten Geistes-aristokratismus: „Hat ein Mal die Natur in günstigster Laune das seltenste ihrerErzeugnisse, einen wirklich über das gewöhnliche Maaß hinaus begabtenGeist, aus ihren Händen hervorgehn lassen [...], – da dauert es nicht lange, sokommen die Leute mit einem Erdenkloß ihres Gelichters herangeschleppt, umihn daneben auf den Altar zu stellen; eben weil sie nicht begreifen [...], wiearistokratisch die Naturist: sie ist es so sehr, daß auf 300 Millionenihrer Fabrikwaare noch nicht Ein wahrhaft großer Geist kommt“ (PP I, Hü 189).Und in derWelt als Wille und Vorstellung IIerklärt Schopenhauer: „EigentlicheBildung, bei welcher Erkenntniß und Urtheil Hand in Hand gehn, kann nurWenigen zugewandt werden, und noch Wenigere sind fähig sie aufzunehmen.Für den großen Haufen tritt überall an ihre Stelle eine Art Abrichtung“(WWV II, Kap. 6, Hü 74).In UB III SE beruft sich N. zweimal sogar explizit auf SchopenhauersSchriftUeber die Universitäts-Philosophie(413, 418). Zu den zahlreichen impli-ziten Bezugnahmen N.s auf diese Schrift vgl. die Nachweise in Kapitel III.4 desÜberblickskommentars. – Zuvor nimmt N. bereits in UB I DS Anstoß daran,dass sich David Friedrich Strauß „zum kecken Vertheidiger des Genies undüberhaupt der aristokratischen Natur des Geistes aufwirft“ (KSA 1, 199, 23–25).Und in einem Nachlass-Notat aus der Entstehungszeit von UB I DS attestiert erStrauß: „Sein ‚Aristokratismus der Natur‘ ist ganz inconsequent und ange-schwindelt“ (NL 1873, 27 [23], KSA 7, 593). Wenn N. in UB I DS „dem Philisterdas Genie“ gegenüberstellt (KSA 1, 199, 20), dann greift er auf eine bereits seitder Epoche des Sturm und Drang in der Kulturgeschichte etablierte Oppositionzurück. Bereits im zweiten seiner nachgelassenen VorträgeUeber die Zukunftunserer Bildungsanstaltenkritisiert N. 1872 die „lauten Herolde des Bildungsbe-dürfnisses“, die er selbst – entgegen ihrer Programmatik – für „eifrige, ja fana-tische Gegner der wahren Bildung“ hält, weil diese seines Erachtens „an deraristokratischen Natur des Geistes festhält: denn im Grunde meinen sie, als ihrZiel, die Emancipation der Massen von der Herrschaft der großen Einzelnen,im Grunde streben sie darnach, die heiligste Ordnung im Reiche des Intellektesumzustürzen, die Dienstbarkeit der Masse, ihren unterwürfigen Gehorsam, ih-ren Instinkt der Treue unter dem Scepter des Genies“ (KSA 1, 698, 8–17). ZurFabrik- und Sklaven-Metaphorik bei Schopenhauer und N. vgl. auch NK 202,24–28.338, 11sei du selbst!]Der hier imperativisch formulierte Anspruch auf Authen-tizität kehrt in UB III SE an späterer Stelle wieder: in der Vorstellung, die Größedes unzeitgemäßen Menschen bestehe darin, „frei und ganz er selbst zu sein“(362, 17–18). In denAphorismen zur Lebensweisheit(5.B.9), Schopenhauers po-pulärstem Werk, heißt es: „Ganz erselbst seyndarf Jeder nur so lange er
Stellenkommentar UB III SE 1, KSA 1, S. 338–33959allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit:denn nur wann man allein ist, ist man frei“ (PP I, Hü 447). Vgl. dazu auchNK 362, 11–18.338, 27–29Periode, welche ihr Heil auf die öffentlichen Meinungen, das heisstauf die privaten Faulheiten setzt]Hier paraphrasiert N. den Untertitel derBie-nenfabel, eines Werkes, das der englische Arzt und Philosoph Bernard de Man-deville (1670–1733) veröffentlichte. Vgl. Bernard de MandevillesThe Fable ofthe Bees: or, Private Vices Public Benefitsvon 1714 (Die Bienenfabel oder privateLaster, öffentliche Vorteile). – Später nimmt N. inMenschliches, Allzumenschli-cheserneut auf dieses Werk Bezug: „Oeffentliche Meinungen – private Faulhei-ten“ (KSA 2, 316, 8–9). Zur Thematik der „öffentlichen Meinung“, die in N.sFrühwerk von Bedeutung ist und von ihm in UB I DS sogar bereits in der An-fangspassage reflektiert wird, vgl. ausführlich NK 159, 2, außerdem NK 425, 27.Georg Brandes äußert sich kritisch zu N.s These, indem er in seinem BuchFriedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus(1889,zunächst auf Dänisch) zu bedenken gibt: „Ein Aphorismus von Nietzsche lau-tet: ‚Was sind öffentliche Meinungen? Es sind private Faulheiten.‘ Der Satz istnicht unbedingt wahr. Es gibt einzelne Fälle, wo die öffentliche Meinung etwaswert sein kann. John Morley hat ein gutes Buch darüber geschrieben. In gewis-sen sehr unzweifelhaften Fällen, wo Treu und Glauben gebrochen werden, undbei gewissen grob-niederträchtigen Kränkungen des Menschenrechts kann dieöffentliche Meinung ein seltenes Mal sich wie eine Macht erheben, die es ver-dient, daß man ihr folgt. Sonst ist sie in der Regel ein Fabrikat, das im Dienstdes Bildungsphilistertums hergestellt wird“ (Brandes, 2004, 36).338, 29–30dass eine solche Zeit wirklich einmal getödtet wird]N. nimmt hierden Ausdruck ‚die Zeit totschlagen‘ wörtlich und kodiert ihn kulturkritisch imSinne der Epigonenproblematik um: Aus der von ihm imaginierten Perspektiveder Nachwelt sieht er seine eigene Gegenwart als eine Periode unauthentischlebender „Scheinmenschen“. Seiner Ansicht nach wird sie aufgrund ihrer Be-deutungslosigkeit von späteren Epochen aus der Kulturgeschichte eliminiert(vgl. 338, 26 – 339, 3). Zugleich orientiert sich N. an den Darlegungen zur Lan-geweile in derWelt als Wille und Vorstellung I: Hier konstatiert Schopenhauer,„daß sobald Noth und Leiden dem Menschen eine Rast vergönnen, die Lange-weile gleich so nahe ist, daß er des Zeitvertreibes nothwendig bedarf“; daherversuche er „die Last des Daseyns los zu werden, es unfühlbar zu machen, ,dieZeit zu tödten‘, d. h. der Langenweile zu entgehn“ (WWV I, § 57, Hü 369). ZurThematik der Langeweile bei Schopenhauer vgl. ausführlicher NK 379, 32–34und vor allem NK 397, 24.339, 7–12Wie hoffnungsvoll dürfen dagegen alle die sein, welche sich nicht alsBürger dieser Zeit fühlen; denn wären sie dies, so würden sie mit dazu dienen,
60Schopenhauer als Erzieherihre Zeit zu tödten und sammt ihrer Zeit unterzugehen – während sie die Zeitvielmehr zum Leben erwecken wollen, um in diesem Leben selber fortzuleben.]Mit diesem Lob des Anachronismus verbindet N. insofern eine Umwertung der‚Unzeitgemäßheit‘ ins Positive, als er durch sie die Zukunft ermöglicht sieht.Dabei entspricht der individuellen Perspektive seines Erachtens die kulturge-schichtliche Dimension: Denjenigen, die nicht über die Gegenwart hinauszu-denken vermögen, zieht N. die Unzeitgemäßen vor, die durch ihren Beitrag zurkünftigen kulturellen Entwicklung auch selbst über die endliche Lebensdauerhinaus weiterexistieren können. So erscheint Unzeitgemäßheit als ein Quali-tätskriterium sui generis, das fortwährende Präsenz im kulturellen Gedächtnisermöglicht. – In der Reinschrift, die als Vorlage des Druckmanuskripts fungier-te, findet sich die folgende Variante, die durch das Personalpronomen der 1.Person Plural N.s identifikatorisches Verhältnis zur Thematik der Unzeitgemäß-heit noch deutlicher erkennen lässt: „dürfen wir dagegen sein, die wir nichtBürger dieser Zeit sind! denn wären wir dies, so würden wir mit dazu dienen,ihre Zeit zu tödten – während wir als Thätige“ (KSA 14, 74).339, 20–22folglich wollen wir auch die wirklichen Steuermänner dieses Daseinsabgeben und nicht zulassen, dass unsre Existenz einer gedankenlosen Zufällig-keit gleiche]Die Leitmetapher der Seefahrt als bildhafte Vorstellung für denwechselhaften, durch vielfältige Risiken gefährdeten Lebensweg weist auf einebis in die Antike zurückreichende Tradition, die auch in Goethes GedichtSee-fahrtweiterwirkt (vgl. Neymeyr 1998, 29–44 und 2017, 230–240). In der stoi-schen Philosophie gehört der Topos der Seefahrt zum Repertoire. Seneca be-schreibt den Weisen wiederholt als ‚Steuermann‘. Vgl. dazu seine SchriftenEpistulae morales(85, 37; 88, 7; 108, 37),De providentia(4, 5; 5, 9–10)Ad Marci-am de consolatione(6, 3). – Im Rahmen der stoischen Philosophie steht fortunafür das Zufallsprinzip, das unkalkulierbare, unzuverlässige Schicksal, dasGlück und Unglück einschließt. Gemäß den Postulaten der stoischen Ethik sollder Mensch den Widrigkeiten des Schicksals mit virtus und fortitudo begeg-nen, also mit Tugend und Tapferkeit, um den Einfluss der ‚Zufälligkeit‘ aufsein Leben zu reduzieren (vgl. Neymeyr/Schmidt/Zimmermann 2008a).Auch N. greift auf das facettenreiche semantische Feld der Seefahrtsmeta-phorik zurück, die zu den wirkungsmächtigen Topoi der Kulturgeschichtezählt. In derFröhlichen Wissenschaftsetzt er die Seefahrtsmetaphorik ein, umdie Vorstellung einer Abenteurer-Existenz mit dem Postulat intellektueller Er-oberung neuer Denkwelten zu amalgamieren und zugleich mit der Imago einesmediterranen Lebensgefühls von besonderer Intensität zu vermitteln. So for-muliert N. die emphatischen Imperative: „gefährlich leben!Baut eureStädte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere!“ (KSA 3, 526,31–32). Das existentielle Wagnis der Seefahrer angesichts der Gefahr von Stür-
Stellenkommentar UB III SE 1, KSA 1, S. 339–34061men und Schiffbruch (KSA 3, 636, 16) erfordert Mut, Willensenergie und einekraftvolle Souveränität, die N. auch in der ersten Strophe seines Gedichts„Nach neuen Meeren“zumAusdruck bringt: „Dorthin –willich; und ichtraue / Mir fortan und meinem Griff. / Offen liegt das Meer, in’s Blaue / Treibtmein Genueser Schiff“ (KSA 3, 649, 1–9). Das Ethos individueller Selbstbestim-mung verbindet diese lyrische Inszenierung der Seefahrt mit dem Eroberer-Gestus seefahrender Abenteurer und mit N.s Postulat in UB III SE, die Men-schen sollten „Steuermänner dieses Daseins“ sein, statt sich gedankenlos derKontingenz zu überlassen. Zu N.s Experimental-Metaphorik vgl. Neymeyr2014a, 232–254 und 2016b, 323–353.340, 4–7Zwar giebt es zahllose Pfade und Brücken und Halbgötter, die dichdurch den Fluss tragen wollen; aber nur um den Preis deiner selbst; du würdestdich verpfänden und verlieren.]Dieser Passus spielt auf eine Episode im antikenHerakles-Mythos an: Mit seiner Gattin Deianeira gelangt Herakles an den FlussEuenos, an dem Nessos, ein Kentaur, also ein halbtierischer Naturdämon mitmenschlichem Oberkörper und Pferdeleib, die vorüberkommenden Wandererüberzusetzen pflegt. Während er Deianeira über den Fluss trägt, versucht ersich an ihr zu vergreifen. Herakles, der den Fluss bereits durchquert hat, tötetNessos daraufhin mit einem Pfeil.340, 9–11Wer war es, der den Satz aussprach: „ein Mann erhebt sich niemalshöher, als wenn er nicht weiss, wohin sein Weg ihn noch führen kann“?]DiesesZitat von Oliver Cromwell stammt aus einer Emerson-Ausgabe, die N. in seinerBibliothek hatte: Ralph Waldo Emerson: Versuche, 1858, 237 (NPB 211–212). VonN.s intensiver Beschäftigung mit diesem Werk zeugen zahlreiche Randnotizen,Unterstreichungen und Randstriche (vgl. NPB 212), auch das von ihm vollstän-dig mit Notizen ausgefüllte Titelblatt dieser Emerson-Edition (vgl. die Abbil-dung: NPB 215). Die im vorliegenden Kontext von UB III SE zitierte Stelle ausEmersons Essays hat N. mehrfach angestrichen (KSA 14, 75). Auch in einer spä-teren Textpassage von UB III SE (426, 11–25) beruft er sich mit einem langenwörtlichen Zitat auf Emerson. Und in einem nachgelassenen Notat erklärt N.unter dem Titel „Emerson“ emphatisch: „Ich habe mich nie in einem Buch sozu Hause und in meinem Hause gefühlt als – ich darf es nicht loben, es stehtmir zu nahe“ (NL 1881, 12 [68], KSA 9, 588).340, 12–13Wie kann sich der Mensch kennen?]Die Problematik der Selbster-kenntnis reflektiert N. auch in seiner nachgelassenen FrühschriftUeber Wahr-heit und Lüge im aussermoralischen Sinne(KSA 1, 877, 2–15), in der er die rheto-rische Frage formuliert: „Was weiss der Mensch eigentlich von sich selbst!“(KSA 1, 877, 2–3).
62Schopenhauer als Erzieher340, 16–20Zudem ist es ein quälerisches gefährliches Beginnen, sich selbst der-artig anzugraben und in den Schacht seines Wesens auf dem nächsten Wegegewaltsam hinabzusteigen. Wie leicht beschädigt er sich dabei so, dass kein Arztihn heilen kann.]Mit dieser Metaphorik knüpft N. an das Bergwerksmotiv an,das in der Literatur der Romantik besondere Bedeutung hatte und in Novalis’RomanHeinrich von Ofterdingen, Tiecks ErzählungDer Runenbergund E.T.A.Hoffmanns ErzählungDie Bergwerke zu Faluneine zentrale Rolle spielt. In sym-bolischer Verdichtung repräsentiert das Bergwerk für die Romantiker sowohldas Faszinosum der Innerlichkeit als auch das Risiko, sich in ihr wie in einemSchacht zu verlieren und dadurch zugrunde zu gehen.340, 33 – 341, 1dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondernunermesslich hoch über dir]Hier erweitert N. den Wesensbegriff über die bloßeFaktizität des bereits Vorhandenen hinaus um die Dimension des Idealen: Das‚wahre Wesen‘ des Menschen bestimmt er als ein ideales Telos, das als Impulsfür seine künftige Entwicklung fungieren soll – als eine Utopie der Selbstver-vollkommnung. – Hölderlin, der zu den Lieblingsdichtern N.s gehörte (vgl.KSB 3, Nr. 28, S. 51), entwickelte dieses Konzept in seinem BriefromanHyperionund brachte es zugleich auch im programmatischen Namen seines Protagonis-ten zum Ausdruck: Hyper-ion, der ‚Darüberhingehende‘, in der Höhe Wandeln-de, ist ein Beiname des Sonnengottes Helios. Sich ihm anzunähern, sollte dasidealistische Ziel Hyperions sein. Vermutlich ist N.s Vorstellung des ‚wahrenWesens‘ im vorliegenden Kontext von UB III SE auch durch HölderlinsHyper-ionangeregt. – Vor allem aber hatte er eine Maxime im Sinn, die sich in derZweiten Pindarischen Ode findet. N. selbst hat diesen Appell des Autors Pin-dar, auf den er im Zeitraum von 1869 bis 1888 wiederholt zu sprechen kommt,mehrfach so übersetzt: „Werde der, der du bist“. In den Jahren von 1876 bis1882 finden sich mehrere Belege dafür. So konstatiert N. in einem nachgelasse-nen Notat von 1876: „‚Werde der, der du bist‘: das ist ein Zuruf, welcher im-mer nur bei wenig [sic] Menschen erlaubt, aber bei den allerwenigsten dieserWenigen überflüssig ist“ (NL 1876, 19 [40], KSA 8, 340). Später zitiert er dieseantike Maxime in einem Brief an Lou von Salomé auch explizit unter Berufungauf Pindar. So schreibt er ihr vermutlich am 10. Juni 1882: „Pindar sagt einmal‚werdeder, der du bist!‘ / Treulich und ergeben / F N.“ (KSB 6, Nr. 239,S. 203).341, 2–6Deine wahren Erzieher und Bildner verrathen dir, was der wahre Ur-sinn und Grundstoff deines Wesens ist, etwas durchaus Unerziehbares und Un-bildbares, aber jedenfalls schwer Zugängliches, Gebundenes, Gelähmtes: deineErzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier.]Der auch autobiographi-sche Bezug dieser Aussage erhellt daraus, dass N. Schopenhauer wenig später
Stellenkommentar UB III SE 1, KSA 1, S. 340–34163als seinen eigenen „Erzieher und Bildner“ exponiert (KSA 1, 341, 22) und des-sen besonderer Qualität als seines „Lehrers und Zuchtmeisters [...] eingedenksein“ will (341, 23–24). Im vorliegenden Kontext schließt N. an Grundtendenzenund Konzepte verschiedener Autoren der Literatur- und Kulturgeschichte an.Affinitäten ergeben sich etwa zu Hölderlins BriefromanHyperion: durch dieFunktion, die der Erzieher Adamas dort für den jugendlichen Protagonistenhat. Hölderlin seinerseits orientiert sich in dieser Hinsicht an Jean-JacquesRousseaus BuchÉmile ou De l’éducation, das großen Einfluss auf neuzeitlicheErziehungstheorien hatte, weil es auf eine Überwindung traditioneller Erzie-hungsmethoden und auf eine freie Entfaltung des Kindes zielt. Vgl. dazu aus-führlich NK 369, 18–25, daneben auch NK 341, 13–15 und NK 369, 28–30. Durchden Einfluss der Erzieher soll das Individuum nicht heteronom überformt, son-dern zur Autonomie seines eigenen Wesens befreit werden, das N. als prinzipi-ell unerziehbare Essenz versteht. Wenig später charakterisiert er das Individu-um so: „Ein Jeder trägt eine productive Einzigkeit in sich, als den Kern seinesWesens“ (359, 20–21). Die unaufhebbare individuelle Prägung betont schon N.sLieblingsphilosoph Heraklit: vgl. Frg. 22 B 119 (Diels/Kranz). – In der deutschenLiteratur ist Goethes AltersgedichtUrworte. Orphischein repräsentatives Zeug-nis dieser Vorstellung.N. greift im vorliegenden Kontext auf anthropologische Prämissen zurück,die auch Schopenhauer in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophiefor-muliert: Seines Erachtens wird der „Erziehung und Bildung“ (PP I, Hü 209) zuUnrecht oft ein höherer Stellenwert für die Entstehung ‚echter‘ Philosophenzugesprochen als den genetischen Faktoren. Demgegenüber hält Schopenhau-er selbst die durch Vererbung „angeborenen Talente“ für prioritär (PP I,Hü 209), teilt also Prämissen, die bereits Kants Definition des Genies in derKritik der Urtheilskraftbestimmen (vgl. § 46): „Genie ist die angeborne Gemüths-anlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt“ (AA 5,307). – Zwar richtet N. sein kulturkritisches Interesse generell auf historischeEntwicklungsprozesse: So propagiert er in UB III SE eine sukzessive Entfaltungdes Individuums durch Erziehung und Bildung (341–343) und legt im Hinblickauf die kulturelle Entwicklung (380–387, 402) Wert auf eine Konstellation, inder das „Ideal [...] uns erzieht, während es uns aufwärts zieht“ (376, 7–19). Aberseine These, „der wahre Ursinn und Grundstoff“ des Individuums sei „etwasdurchaus Unerziehbares und Unbildbares“ (341, 3–4), korrespondiert mit Scho-penhauers anthropologischen Grundsätzen. Schopenhauer betont zwar denPrimat der Naturanlage (vgl. PP I, Hü 209), spricht zugleich aber der Lektüre„der selbsteigenen Werke wirklicher Philosophen“ (PP I, Hü 208) eine wesent-liche Funktion zu. Vgl. NK 341, 22–24. – Zum Bildungskonzept N.s allgemeinvgl. Christian Niemeyer 2002.
64Schopenhauer als ErzieherZwar ändert N. im Spätwerk seine Einstellung zu UB III SE fundamental,wenn er inEcce homobehauptet, hier komme „im Grunde nicht ‚Schopenhauerals Erzieher‘, sondern seinGegensatz,‚Nietzsche als Erzieher‘, zu Worte“(KSA 6, 320, 29–31). Aber eine Kontinuität zwischen Früh- und Spätwerk lässtsich insofern feststellen, als N. auch in derGötzen-Dämmerungnoch die Bedeu-tung genuiner ‚Erzieher‘ betont und eine kulturelle Krisensituation, ja einen‚Niedergang‘ gerade auf das Fehlen echter Erzieher zurückführt: „Dass Erzie-hung,Bildungselbst Zweck ist [...], dass es zu diesem Zweck derErzieherbedarf – undnicht derGymnasiallehrer und Universitäts-Gelehrten – manvergass das ... Erzieher thun noth, dieselbst erzogensind, überlegene,vornehme Geister, in jedem Augenblick bewiesen, durch Wort und Schweigenbewiesen, reife,süssgewordene Culturen [...]. Die Erzieherfehlen,dieAus-nahmen der Ausnahmen abgerechnet, dieersteVorbedingung der Erziehung:daher derNiedergang der deutschen Cultur“ (KSA 6, 107, 7–17). In diesemKontext substituiert N. die Perspektive auf ‚Schopenhauer als Erzieher‘ durchden Hinweis auf Burckhardt als Erzieher, indem er emphatisch erklärt: „Einejener allerseltensten Ausnahmen ist mein verehrungswürdiger Freund JakobBurckhardt in Basel: ihm zuerst verdankt Basel seinen Vorrang von Humanität“(KSA 6, 107, 18–20). Die Fortsetzung dieser Überlegung in derGötzen-Dämme-runglässt zugleich erkennen, wie nachhaltig N.s kritisches Urteil auch jetztnoch implizit durch die Polemik in Schopenhauers SchriftUeber die Universi-täts-Philosophiebeeinflusst ist (vgl. dazu die zahlreichen Belegstellen in Kapi-tel III.4 des Überblickskommentars). Denn N. schließt an Schopenhauers geis-tesaristokratische Position und an sein Verdikt über die Universitätsgelehrtenan, indem er konstatiert, anstelle genuiner Bildung dominiere „eine brutaleAbrichtung, um, mit möglichst geringem Zeitverlust, eine Unzahl junger Män-ner für den Staatsdienst nutzbar,ausnutzbar zumachen. ‚Höhere Erzie-hung‘ undUnzahl–daswiderspricht sich von vornherein. Jede höhere Erzie-hung gehört nur der Ausnahme“ (KSA 6, 107, 21–26).341, 9Afterbild der Erziehung]In der Reinschrift, die als Vorlage für das Druck-manuskript zu UB III SE fungierte, findet sich die folgende Variante: „Schatten-und Afterbild der Bildung“ (KSA 14, 75).341, 13–15sie [sc. die Erziehung] ist Nachahmung und Anbetung der Natur, wodiese mütterlich und barmherzig gesinnt ist, sie ist Vollendung der Natur]Scho-penhauer betont in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophiedie Bedeu-tung der Erbanlagen für die Genese ‚echter‘ Philosophen, indem er darauf in-sistiert, „daß Alles darauf ankommt, wie Einer aus den Händen der Naturhervorgegangen sei, welcher Vater ihn gezeugt und welche Mutter ihn empfan-gen habe“ (PP I, Hü 209). Dem von Schopenhauer behaupteten Primat der „an-
Stellenkommentar UB III SE 1, KSA 1, S. 34165geborenen Talente“ (PP I, Hü 209) trägt N. Rechnung, indem er bei der Betrach-tung der idealen Entstehungsbedingungen für ‚echte‘ Philosophen einen Blickauf Schopenhauers Eltern wirft (408–409). – Implizit steht hier auch bereitsRousseaus Naturkonzept im Hintergrund, das N. später im Vergleich mit denanthropologischen Vorstellungen Goethes und Schopenhauers expliziert (369–371). In seinem pädagogischen BuchÉmile ou De l’éducation(Emile oder überdie Erziehung) von 1762 plädiert Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) für einenatürliche Erziehung, welche die freie Entfaltung der kindlichen Persönlichkeitintendiert. Durch detaillierte Anweisungen will er die geistige und körperlicheEntwicklung gleichermaßen fördern. In einer idealen Lehrer-Schüler-Bezie-hung kann der Lehrer nach Rousseaus Überzeugung zur Entwicklung der kind-lichen Individualität auf der Basis von Natur und Empfindung beitragen, in-dem er die ‚guten‘ Fähigkeiten des Kindes behutsam lenkt und wachsen lässt.Zu Rousseaus Lehren und zu N.s Vorbehalten gegen ihn vgl. NK 369, 18–25 undNK 369, 28–30.341, 22–24so will ich denn heute des einen Lehrers und Zuchtmeisters, dessenich mich zu rühmen habe, eingedenk sein,Arthur Schopenhauer’s]ObwohlSchopenhauer schon in der Anfangspassage von UB III SE implizit als Vorbild-figur präsent ist (z. B. als „der grosse Denker“: 338, 5–7), retardiert N. die Nen-nung des Namens bis zum Ende des 1. Kapitels. Erst hier exponiert er Schopen-hauer in markanter Schlussstellung und mit rhetorischer Emphase (vgl. auchKSA 1, 778–782, 808 und einen Brief N.s vom 13. Dezember 1875 in KSB 5,Nr. 495, S. 129). Dem existentiellen Pathos dieser Inszenierung steht die nach-trägliche Umdeutung diametral gegenüber, die N. aufgrund seiner späterenAbwendung von Schopenhauer inEcce homovornimmt. Vgl. dazu N.s Selbst-aussagen zu denUnzeitgemässen Betrachtungeninsgesamt: KSA 6, 316–321, da-rin konkret über UB III SE und UB IV WB: KSA 6, 319–321. Während N. Scho-penhauer in UB III SE 1874 emphatisch als den lange ersehnten „Erzieher“preist (350, 15) und ihn sogar als seinen ‚Zuchtmeister‘ apostrophiert (341, 23),der auf geradezu idealtypische Weise den ‚echten‘ Philosophen repräsentiere,ändert sich seine Perspektive nach der Abkehr vom eigenen Schüler-Statusfundamental: So behauptet N. 1888 inEcce homorückblickend, in UB III SEkomme „im Grunde nicht ‚Schopenhauer als Erzieher‘, sondern seinGegen-satz,‚Nietzsche als Erzieher‘, zu Worte“ (KSA 6, 320, 29–31). „Die Schrift ‚Wag-ner in Bayreuth‘ ist eine Vision meiner Zukunft; dagegen ist in ‚Schopenhauerals Erzieher‘ meine innerste Geschichte, meinWerdeneingeschrieben. VorAllem meinGelöbniss!...“ (KSA 6, 320, 9–12), also eine Antizipation der eige-nen künftigen Entwicklung.Schopenhauer selbst insistiert in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philo-sophieauf dem Primat der Naturbegabung vor der Sozialisation und erklärt,
66Schopenhauer als Erzieherdie Bedeutung von „Erziehung und Bildung“ (PP I, Hü 209) für die Entstehung‚echter‘ Philosophen werde oftmals auf Kosten der genetischen Prädispositio-nen überschätzt. Stattdessen komme „alles darauf“ an, „wie Einer aus denHänden der Natur hervorgegangen sei“ (PP I, Hü 209). Vgl. auch NK 341, 2–6.Allerdings hält Schopenhauer die Lektüre „der selbsteigenen Werke wirklicherPhilosophen“ (PP I, Hü 208) für ein wesentliches Stimulans zu autonomer in-tellektueller Tätigkeit. In seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophieemp-fiehlt er, „einenwirklichenPhilosophen zur Hand“ zu nehmen, „gleichvielaus welcher Zeit [...]: immer begegnet man einem schönen und gedankenrei-chen Geiste, der Erkenntniß hat und Erkenntniß wirkt“ (PP I, Hü 174).Dieser Einschätzung entsprechen die Erfahrungen, die N. selbst mit Scho-penhauer als Erzieher gemacht hat und die er in UB III SE expliziert (vgl. 341–350). Hier ergeben sich Affinitäten zu Schopenhauers Darlegungen im Kapitel„Ueber Philosophie und ihre Methode“ derParerga und Paralipomena II,woerdie Rezeptionssituation so beschreibt: „Der philosophische Schriftsteller ist derFührer und sein Leser der Wanderer. Sollen sie zusammen ankommen, so müs-sen sie, vor allen Dingen, zusammen ausgehn: d. h. der Autor muß seinen Le-ser aufnehmen auf einem Standpunkt, den sie sicherlich gemein haben: diesaber kann kein anderer seyn, als der des uns Allen gemeinsamen, empirischenBewußtseyns. Hier also fasse er ihn fest an der Hand und sehe nun, wie hochüber die Wolken hinaus er, auf dem Bergespfade, Schritt vor Schritt, mit ihmgelangen könne“ (PP II, Kap. 1, § 5, Hü 6–7). Zur Gipfel-Metaphorik bei Scho-penhauer und N. vgl. NK 366, 30–31 und NK 381, 5–6.2.341, 27–28Will ich beschreiben, welches Ereigniss für mich jener erste Blickwurde, den ich in Schopenhauer’s Schriften warf]Hier zeichnen sich Affinitätenzur Einschätzung Schopenhauers ab, der sich in seiner SchriftUeber die Uni-versitäts-Philosophiezur stimulierenden Wirkung philosophischer Lektüre äu-ßert: Der zur Philosophie „Befähigte und eben daher ihrer Bedürftige“ werdedurch „jedes Buch irgend eines ächten Philosophen, das ihm in die Händefällt, mächtiger und wirksamer“ angeregt als durch den „Vortrag eines Kathe-derphilosophen“ (PP I, Hü 149).342, 5–14Dann fragte ich mich wohl: welches wären wohl die Grundsätze, nachdenen er dich erzöge? und ich überlegte mir, was er zu den beiden Maximen derErziehung sagen würde, welche in unserer Zeit im Schwange gehen. Die eine for-dert, der Erzieher solle die eigenthümliche Stärke seiner Zöglinge bald erkennenund dann alle Kräfte und Säfte und allen Sonnenschein gerade dorthin leiten, um
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 341–34267jener einen Tugend zu einer rechten Reife und Fruchtbarkeit zu verhelfen. Dieandre Maxime will hingegen, dass der Erzieher alle vorhandenen Kräfte heranzie-he, pflege und unter einander in ein harmonisches Verhältniss bringe.]Mittelseiner dialektischen Argumentation entfaltet N. die unterschiedlich akzentuier-ten Bildungskonzepte seiner Zeit: Der Thesis (Perfektionierung von Spezialbe-gabungen, auch auf Kosten der Gesamtpersönlichkeit) folgt als Antithesis dashumanistische Bildungsideal, das auf eine harmonische Ausbildung allerFähigkeiten des Schülers zielt. Mit dem Beispiel des Goldschmieds Cellini be-gründet N. einerseits den Anspruch dominanter Spezialbegabungen auf ange-messene Förderung, um andererseits aber gerade vor dem Hintergrund einessolchen Sonderfalls die ausgewogene Entfaltung sämtlicher Persönlichkeits-komponenten und ihre harmonische Balance als „Vollendung der Natur“ (341,14–15) zu postulieren. Indem N. letztlich die Synthesis beider Erziehungsprinzi-pien zum erstrebenswerten Bildungsideal erklärt, formuliert er seine pädagogi-sche Zielsetzung, „Zentralkraft“ und „Peripherie“ zu einer lebendigen Einheitzu vermitteln. – Ausgehend vom Ideal „der harmonischen Persönlichkeiten“(KSA 1, 299, 4), formuliert N. bereits in UB II HL seine Kritik am gesellschaftli-chen Primat bloßer Nützlichkeitskriterien. So distanziert er sich von einer ‚Ab-richtung‘ der Menschen zugunsten „der gemeinsamen möglichst nutzbaren Ar-beit“, indem er erklärt: „Das heisst eben doch nur: die Menschen sollen zuden Zwecken der Zeit abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Handanzulegen; sie sollen in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten, bevorsie reif sind, ja damit sie gar nicht mehr reif werden – weil dies ein Luxuswäre, der ‚dem Arbeitsmarkte‘ eine Menge von Kraft entziehen würde“ (KSA 1,299, 5–11). Diese Problematik unterscheidet sich von der in UB III SE exponier-ten Alternative der Erziehungsmaximen. Dabei geht es N. letztlich um „die har-monische Ganzheit und den vielstimmigen Zusammenklang in Einer Natur“(342, 26–27).Johann Gottfried von Herder hatte mit seinem HauptwerkIdeen zur Philoso-phie der Geschichte der Menschheit(1784–1791) maßgeblichen Einfluss auf dasHumanitätsdenken der Weimarer Klassik. Er sieht den Menschen in einemSpannungsfeld von Notwendigkeit und Freiheit: Einerseits sei er existentiellvon naturalen und historischen Faktoren abhängig, andererseits verfüge er je-doch auch über Freiräume zu autonomer Selbstgestaltung und individuellerSelbstverwirklichung innerhalb sozialer Kontexte. Im Anschluss an den Fort-schrittsoptimismus der Aufklärung betont Herder, der Mensch könne durch dieAusbildung zu einer allseitigen Persönlichkeit zur Selbstvervollkommnung ge-langen. Dazu sei es notwendig, dass er Einseitigkeit vermeide, indem er seinganzes Potential entwickle und dabei zugleich emotionale und rationale Kräf-te, also Erkennen und Empfinden, sowie alle sonstigen Fähigkeiten in ein aus-
68Schopenhauer als Erziehergewogenes Verhältnis zueinander bringe. – Die Affinität von N.s Konzepten mitPrämissen Herders, gegen den er gleichwohl heftig polemisierte, erscheint alsAusdruck einer „Wahlverwandtschaft wider Willen“ (vgl. dazu v. Rahden 2007,473–477).N.s intensive Beschäftigung mit den ästhetischen Schriften Schillers, dievor allem in seiner frühen Schaffensphase auffällt, manifestierte sich bereitsin derGeburt der Tragödieund später auch inMenschliches, AllzumenschlichesII. (Zur zentralen Bedeutung von N.s Schiller-Rezeption und zu seiner späterenAbkehr von ihm, die in derGötzen-Dämmerungsogar in Polemik gegen denangeblichen „Moral-Trompeter von Säckingen“ Ausdruck fand (KSA 6, 111, 5–6), vgl. Venturelli 2003). – Schiller reflektiert die Problematik einseitiger Ent-wicklung vor allem in seiner SchriftÜber die ästhetische Erziehung des Men-schen in einer Reihe von Briefen. Vgl. hier insbesondere den Sechsten Brief, indem Schiller die immer weiter fortschreitende Spezialisierung kulturgeschicht-lich begründet und sowohl Vorteile als auch Nachteile hervorhebt: Ähnlich wieN. betont bereits Schiller den „Kontrast [...] zwischen der heutigen Form derMenschheit“ und der „ehemaligen, besonders der griechischen“ (Schiller: FA,Bd. 8, 570). Er betrachtet es als Charakteristikum der Moderne, dass „nichtbloß einzelne Subjekte sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teilihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen, wie bei verkrüppelten Ge-wächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind“ (ebd., 571): „Ewig nur an eineinzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Menschselbst nur als Bruchstück aus“ (ebd., 572–573); so „entwickelt er nie die Harmo-nie seines Wesens“ (ebd., 573).Aber „so wenig es auch den Individuen bei dieser Zerstückelung ihres We-sens wohl werden kann“: „die Gattung [hätte] auf keine andere Art [...] Fort-schritte machen können“ (ebd., 575). „Die mannigfaltigen Anlagen im Men-schen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegen zusetzen. Dieser Antagonism der Kräfte ist das große Instrument der Kultur, aberauch nur das Instrument; denn solange derselbe dauert, ist man erst auf demWege zu dieser“ (ebd., 576). „Einseitigkeit in Übung der Kräfte führt zwar dasIndividuum unausbleiblich zum Irrtum, aber die Gattung zur Wahrheit. Da-durch allein, daß wir die ganze Energie unsers Geistes in Einem Brennpunktversammeln, und unser ganzes Wesen in eine einzige Kraft zusammenziehen,setzen wir dieser einzelnen Kraft gleichsam Flügel an, und führen sie künstli-cherweise weit über die Schranken hinaus, welche die Natur ihr gesetzt zuhaben scheint“ (ebd., 576). „Wieviel also auch für das Ganze der Welt durchdiese getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag,so ist nicht zu leugnen, daß die Individuen, welche sie trifft, unter dem Fluchdieses Weltzweckes leiden. Durch gymnastische Übungen bilden sich zwar ath-
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 34269letische Körper aus, aber nur durch das freie und gleichförmige Spiel der Glie-der die Schönheit. Eben so kann die Anspannung einzelner Geisteskräfte zwaraußerordentliche, aber nur die gleichförmige Temperatur derselben glücklicheund vollkommene Menschen erzeugen“ (ebd., 577).Aus diesen Erwägungen zu den Vor- und Nachteilen der Spezialisierungdes Menschen im Laufe des Zivilisationsprozesses zieht Schiller die folgendeQuintessenz: „Es muß also falsch sein, daß die Ausbildung der einzelnen Kräf-te das Opfer ihrer Totalität notwendig macht; oder wenn auch das Gesetz derNatur noch so sehr dahin strebte, so muß es bei uns stehen, diese Totalität inunsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wiederherzustellen“ (ebd., 578). – Das Ideal, das Schiller im Siebzehnten Brief seinerSchriftÜber die ästhetische Erziehung des Menschenformuliert, zielt darauf,„den Menschen zu einem in sich selbst vollendeten Ganzen“ zu machen (ebd.,620). Analog dazu sieht N. „die Aufgabe“ von „Erziehung“ darin, Einzelbega-bungen so zu fördern, dass „alle vorhandenen Kräfte [...] unter einander in einharmonisches Verhältniss“ gebracht werden (342, 13–14). Zum Bildungsgedan-ken bei N. und Schiller vgl. auch Ulrichs 2005, 111–124.N.s Reflexion über die konträren pädagogischen Maximen, die einerseitsdie einseitige Kultivierung des Spezialistentums, andererseits jedoch eine har-monische Integration unterschiedlicher Begabungen favorisieren, weist eineaufschlussreiche Affinität auch zu Goethes BildungsromanWilhelm MeistersLehrjahreauf, den N. in UB III SE mehrmals nennt (vgl. NK 371, 15–17 undNK 376, 19–29). Im 5. Kapitel des 8. Buches vonWilhelm Meisters Lehrjahre,aus dem N. auch in 371, 15–17 zitiert, berichtet Natalie über retrospektive Le-bensbetrachtungen ihres Oheims: „Wenn ich nicht, pflegte er oft zu sagen, mirvon Jugend auf so sehr widerstanden hätte, wenn ich nicht gestrebt hätte, mei-nen Verstand ins Weite und Allgemeine auszubilden, so wäre ich der be-schränkteste und unerträglichste Mensch geworden, denn nichts ist unerträgli-cher als abgeschnittene Eigenheit an demjenigen, von dem man eine reine,gehörige Tätigkeit fordern kann“ (Goethe: FA, Bd. 9, 919).Das synthetische Konzept, das N. als eine zwischen den beiden Alternati-ven – Spezialisierung vs. allseitige Bildung – vermittelnde Option favorisiert(342–343), ist auch in diesem Kapitel von Goethes RomanWilhelm MeistersLehrjahrebereits Gegenstand der Reflexion. So erklärt die Figur Jarno über denAbbé: „Was ihn uns so schätzbar macht, [...] was ihm gewissermaßen die Herr-schaft über uns alle erhält, ist der freie und scharfe Blick, den ihm die Naturüber alle Kräfte, die im Menschen nur wohnen, und wovon sich jede in ihrerArt ausbilden läßt, gegeben hat. Die meisten Menschen, selbst die vorzügli-chen, sind nur beschränkt, jeder schätzt gewisse Eigenschaften an sich undandern, nur die begünstigt er, nur die will er ausgebildet wissen: Ganz entge-
70Schopenhauer als Erziehergengesetzt wirkt der Abbé, er hat Sinn für alles, Lust an allem, es zu erkennenund zu befördern. [...] Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alleKräfte zusammengenommen die Welt. Diese sind unter sich oft im Widerstreit,und indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie die Natur zusammen, undbringt sie wieder hervor. [...] Jede Anlage ist wichtig, und sie muß entwickeltwerden. Wenn einer nur das Schöne, der andere nur das Nützliche befördert,so machen beide zusammen erst einen Menschen aus. Das Nützliche befördertsich selbst, denn die Menge bringt es hervor, und alle könnens nicht entbeh-ren; das Schöne muß befördert werden, denn wenige stellens dar, und vielebedürfens. [...] Eine Kraft beherrscht die andere, aber keine kann die anderebilden; in jeder Anlage liegt auch allein die Kraft sich zu vollenden; das verste-hen so wenig Menschen, die doch lehren und wirken wollen“ (Goethe: FA,Bd. 9, 932–933). – Während ein humanistisch-individualistisches Ideal der har-monisch ausgebildeten Persönlichkeit in seinem RomanWilhelm Meisters Lehr-jahreals Zielvorstellung dominiert, ändert Goethe das Grundkonzept für denspäteren RomanWilhelm Meisters Wanderjahreangesichts der sozioökonomi-schen Folgen der beginnenden Industrialisierung nachhaltig, und zwar zu-gunsten eines gesellschaftlich orientierten, arbeitsteilig organisierten Gemein-schaftsprojekts, das auf den Nutzen zielt. Vgl. dazu NK 299, 3–9.342, 17Benvenuto Cellini’s Vater]Benvenuto Cellini wurde im Jahre 1500 inFlorenz geboren und war von 1545 bis zu seinem Tod 1571 in Florenz als Gold-schmied und Bildhauer tätig, nachdem er zuvor Lehr- und Studienjahre in Flo-renz, Pisa, Lucca und Rom verbracht hatte. Am Hof der Päpste in Rom fandBenvenuto Cellini, der heutzutage als berühmter Vertreter des Manierismusund als ein typischer ‚uomo universale‘ der Renaissance gilt, hochgestellteAuftraggeber und Mäzene, die für seine künstlerische Existenz von großer Be-deutung waren. Als Cellinis Hauptwerk gilt die von ihm 1555 vollendete Statuedes Perseus. Sein ereignisreiches und zugleich wechselvolles Leben, zu demzahlreiche Reisen, ausgeprägte Konflikte auch mit seinen Auftraggebern undsogar mehrere Kerkeraufenthalte gehörten, stellt er in seiner zwischen 1558und 1566 entstandenen, aber von ihm selbst nicht veröffentlichten Autobiogra-phie (Vita) dar, die erst 1728 publiziert und später durch Goethes Übersetzung(1803) bekannt wurde. Außergewöhnlich ist, dass Cellinis Karriere als Künstlerbis zum Alter von nahezu sechzig Jahren von einer kriminellen Laufbahn be-gleitet wurde, die auch Gewalttaten und Kapitalverbrechen wie Mord ein-schloss. – In der vorliegenden Passage nimmt N. auf eine Episode von Benve-nuto CellinisVitaBezug, die dieser im 2. Kapitel des Ersten Buches seinerAutobiographie darstellt: Hier schildert er die vergeblichen Bemühungen sei-nes musikbegeisterten Vaters, aus ihm einen großen Musiker zu machen. Ge-gen seinen Vater setzte Benvenuto Cellini bereits in jugendlichem Alter seinen
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 342–34471Berufswunsch durch, bildender Künstler zu werden. Vgl. dazu Goethes Über-setzung dieser Autobiographie:Leben des Benvenuto Cellini(vgl. Goethe: FA,Bd. 11, 1998). – Auch Schopenhauer erwähnt Benvenuto Cellini in derWeltals Wille und Vorstellung, und zwar im Zusammenhang mit den wechselndenEinstellungen gegenüber dem Willen zum Leben, die jeweils von konkretenSituationen abhängig sind (WWV I, § 68, Hü 467). Außerdem weist Schopen-hauer auf die Biographie „das Leben des Benvenuto Cellini“ in der „Bibliotecade’ Classici Italiani (Milano 1804 [...])“ hin (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 569).342, 25–27Aber wo finden wir überhaupt die harmonische Ganzheit und denvielstimmigen Zusammenklang in Einer Natur]Das pädagogische Ideal der all-seitigen harmonischen Ausbildung aller Kräfte entspricht Herders Humanitäts-schriften und zentralen Aspekten von Schillers theoretischen Abhandlungen.Vgl. dazu NK 342, 6–14.343, 4–8vielmehr wäre die Aufgabe seiner Erziehung, [...] den ganzen Men-schen zu einem lebendig bewegten Sonnen- und Planetensysteme umzubildenund das Gesetz seiner höheren Mechanik zu erkennen.]Indem N. sein Bildungs-ideal mit kosmologischer Metaphorik beschreibt, transponiert er das pädagogi-sche Ideal einer ganzheitlichen Persönlichkeitsausbildung auf eine Metaebene:Individuum und Weltall, Anthropologie und Kosmologie erscheinen im Medi-um einer gleichnisartigen Konstellation harmonisch vermittelt. Vgl. auchNK 349, 29–32 und NK 350, 7–8.343, 28Sammelsurium von verschrobenen Köpfen]Zur Verschrobenheit des Ge-lehrten vgl. mehrere Belege in UB III SE (344, 407–408). In SchopenhauersSchriftUeber die Universitäts-Philosophiefinden sich ähnliche Formulierun-gen: „Sind nicht unzählige Köpfe der gegenwärtigen Gelehrtengeneration [...]verschroben und verdorben?“ (PP I, Hü 177). „Daraus erwächst denn so eineGeneration impotenter, verschrobener [...] Köpfe“ (PP I, Hü 179).344, 8der ökonomische Lehrsatz des laisser faire]Bei der Maxime ‚Laisser fai-re‘ handelt es sich um das Prinzip des Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhun-dert. Diesem Konzept zufolge entwickelt sich eine freie Wirtschaft nach denGesetzmäßigkeiten des Marktes, d. h. am besten ohne staatliche Lenkung undIntervention. Als Schlagwort fand der Grundsatz des Laisser faire weite Ver-breitung; er wurde aus der ökonomischen Sphäre auf den Bereich der Erzie-hung und Bildung übertragen. N. reflektiert hier primär die pädagogisch-mora-lische Version des Laisser faire und bewertet sie kritisch: Durch den Primatdes Quantitätskriteriums in Strategien enthemmter Maximierung „nach demGrundsatze ‚je mehr desto besser‘“ (344, 6) wird die Entwicklung von Individu-en und Kulturgemeinschaften ebenso gefährdet wie durch die Indifferenz eines
72Schopenhauer als Erzieherbloßen Laisser faire. N. reflektiert vor diesem Hintergrund auch die Problema-tik der Sozialisation des Wissenschaftlers auf Kosten der Menschlichkeit undhält eine „höhere Maxime der Erziehung“ (344, 5) für unentbehrlich. Zur Mise-re der zeitgenössischen Gelehrtengeneration vgl. Schopenhauer (PP I, Hü 177–179) und das Kapitel III.4 im Überblickskommentar.344, 22–23die Wissenschaft, also ein unmenschliches Abstractum]Eine unper-sönliche Sozialisation des einzelnen durch die Institution der Wissenschafthält N. für problematisch, weil sie den Gelehrten als Menschen verkümmernlasse. Nach seiner Überzeugung ist die Gestaltung einer lebendigen Kultur al-lein durch die Orientierung an „sittlichen Vorbilder[n]“ möglich. In diesemKontext sieht N. Schopenhauer als paradigmatischen Erzieher.344, 31–34man zehrt thatsächlich an dem ererbten Capital von Sittlichkeit, wel-ches unsre Vorfahren aufhäuften und welches wir nicht zu mehren, sondern nurzu verschwenden verstehen]Hier erweitert N. seine kritische Kulturdiagnose,indem er sie auf die zeitgenössische Epigonenproblematik bezieht, die seit den1830er Jahren zum kulturkritischen Repertoire gehörte. Dabei transferiert erden ästhetisch akzentuierten Epigonenbegriff in die ethische Sphäre. – Dermoderne, pejorativ gefärbte Begriff des Epigonen entstand am Ende der Goe-thezeit; er bezeichnet den durch einen Mangel an Originalität gekennzeichne-ten unschöpferischen Nachahmer, der sich eklektizistisch an ‚klassischen‘Vorbildern orientiert, zugleich aber an deren Übergröße leidet. TraditionellenDenkschemata verhaftet, gelangt der Epigone weder zu eigenständigen künst-lerischen Ausdrucksformen noch zu einer kritisch-konstruktiven Auseinander-setzung mit der jeweils aktuellen Zeitsituation.Autoren wie Grillparzer, Keller, Stifter und Fontane reflektierten die Epigo-nenproblematik in theoretischen Texten und in fiktionalen Werken (vgl. Ney-meyr 2004). Schon Immermann hatte den Begriff des Epigonen, der auf dasaltgriechische Wort ‚epigonos‘ (ἐπίγονος) zurückgeht und wertneutral den Sohnoder Nachkommen bezeichnet, aus dem genealogischen Bedeutungshorizont indie geistig-künstlerische Sphäre übertragen. Die eigene Generation betrachtetKarl Immermann als epigonal, weil sie sich auf eine unkreative Nachahmungder geistigen Vorfahren in der Epoche der Klassik und Romantik beschränke.In seinem RomanDie Epigonen(1836) lässt er eine Figur das Epigonen-Elendfolgendermaßen diagnostizieren: „Die große Bewegung im Reiche des Geistes,welche unsre Väter [...] unternahmen, hat uns eine Menge von Schätzen zuge-führt [...]. Aber es geht mit geborgten Ideen, wie mit geborgtem Gelde, wer mitfremdem Gut leichtfertig wirtschaftet, wird immer ärmer“ (Immermann: Werkein fünf Bänden, Bd. 2, 1971, 121, 122). Wie N. in UB III SE betont bereits Immer-manns Romanfigur mithilfe ökonomischer Metaphorik den Mangel an Solidität,
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 344–34573den Verlust genuiner Substanz, der epigonale Schattenexistenzen entstehenlässt. – Im Jahre 1847 diagnostiziert der Schriftsteller und Literaturhistoriker Ro-bert Prutz die Epigonenproblematik. In seinenVorlesungen über die deutscheLiteratur der Gegenwartspricht er von „Epigonen“, „welche die Erbschaft ihrergroßen Vorfahren weder zu erhalten wissen, noch wissen sie dieselbe zu entbeh-ren! die nicht leben könnten ohne die Größe und den Ruhm ihrer Vorgänger“,von denen sie sich zugleich „erdrückt fühlen“ (Prutz 1975, 248).In UB II HL kritisiert N. den „lähmende[n]“ Glauben, „ein Spätling der Zei-ten zu sein“ (KSA 1, 308, 12), und empfiehlt anstelle epigonaler Retrospektiveeinen „vorwärts“ gerichteten Blick: „Formt in euch ein Bild, dem die Zukunftentsprechen soll, und vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein“ (KSA 1,295, 6–7). Trotz der problematischen Folgen einer historisierenden Bildungs-kultur deutet N. die Situation der „Erben und Nachkommen klassischer understaunlicher Mächte“ sogar positiv (KSA 1, 307, 21–22): als Stimulans, um demGeist einer „neuen Zeit“ den Boden zu bereiten, in der „wirklich etwas Neues,Mächtiges, Lebenverheissendes und Ursprüngliches ist“ (KSA 1, 306, 11–13).Symptomatisch erscheint auch die psychologisch pointierte Kulturdiagnose,die N. in UB I DS entwirft: Hier kritisiert er diejenigen, die „den Begriff desEpigonen-Zeitalters“ benutzen, „nur um Ruhe zu haben und bei allem unbe-quemen Neueren sofort mit dem ablehnenden Verdikt ‚Epigonenwerk‘ bereitsein zu können“ – aus Hass gegen „den dominirenden Genius und die Tyranniswirklicher Kulturforderungen“ (KSA 1, 169, 15–31).345, 1–2mit einer naturalistischen Ungeübtheit und Unerfahrenheit]Im vorlie-genden Kontext kritisiert N. einen unbefriedigenden Reduktionismus in denempiristischen Konzepten der Naturalisten, die moralischen Wertungskriteriennicht gerecht werden und ein angemessenes „Nachdenken über sittliche Fra-gen“ (344, 28) nicht zu fördern vermögen. – Beim Naturalismus handelt es sichum ein sehr facettenreiches Phänomen in der Philosophie, Literatur und Kunstseit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entscheidende programmatischeImpulse für den Naturalismus gingen von Taine aus, der etwa ab 1853 einenParadigmenwechsel für die Geisteswissenschaften propagierte: Ausgehend voneiner durchgehenden Kausalverkettung alles Realen, sollten sie sich ebenfallsan naturwissenschaftlichen Prinzipien und Methoden orientieren, mithin demIdeal einer wertfreien Deskription folgen und kausale Erklärungen bieten. Cha-rakteristisch für naturalistische Tendenzen in der Philosophie ist eine Bevorzu-gung realistischer Ansätze gegenüber idealistischen Konzepten, die Ausrich-tung an naturwissenschaftlichen Methoden und positivistischen Prämissensowie eine entschiedene Abkehr von metaphysischen, religiösen und mysti-schen Weltdeutungen. In diesem Sinne bestimmt eine naturalistische Argu-mentation die Religionskritik Feuerbachs. Und durch Darwins Evolutionstheo-
74Schopenhauer als Erzieherrie wurde ein naturalistisches Menschenbild popularisiert. Zu den LehrenDarwins vgl. NK 194, 24–26. Zu N.s Darwin-Rezeption vgl. Stegmaier 1987, 264–287 und Sommer 2012b, 223–240. Zum Darwinismus-Diskurs im 19. Jahrhundertgenerell vgl. die umfassende Darstellung von Bayertz/Gerhard/Jaeschke, Bd. 2,2007.In der bildenden Kunst entwickelte sich der Naturalismus etwa ab 1850, inder Literatur erreichte er seinen Höhepunkt hingegen erst in den 1880er und1890er Jahren. Die naturalistischen Strömungen, die in der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts zunächst insbesondere von Autoren in Frankreich, Skandina-vien und Russland initiiert wurden (etwa von Zola und den Brüdern de Gon-court sowie von Ibsen und Tolstoi), propagierten eine präzise Darstellung derWirklichkeit, vor allem die genaue literarische Gestaltung sozialer Milieus. ImNaturalismus versuchten sich die Autoren auch in der Literatur an experimen-tellen, induktiven Methoden der Naturwissenschaften zu orientieren, um sozi-alpsychologische Mechanismen aufzudecken und dadurch zugleich Gesell-schaftskritik zu üben. In der deutschen Literatur gilt dies in besonderem Maßefür die sozialen Dramen Gerhart Hauptmanns (vgl. z. B. sein DramaVor Sonnen-aufgang). Unter Verzicht auf jedwede metaphysische Deutung wollten die Na-turalisten das real Gegebene mithilfe positivistischer Verfahren auf seine histo-rischen, biologischen und soziologischen Ursachen hin analysieren. Dabeiverbanden sie ihren Anspruch auf detailgetreue Mimesis der Realität mit einemausgeprägten sozialkritischen Engagement.345, 15–16die antiken Moralsysteme und die in allen gleichmässig waltendeNatürlichkeit]N.s Formulierung lässt offen, welche Moralsysteme der Antike erkonkret im Sinn hat, wenn er christliche Ideale mit der „antiken Tugend“ (345,20) konkurrieren sieht, so dass der moderne Mensch unschlüssig, friedlos undresignativ zwischen beiden Optionen changiert. Vor allem die von Zenon vonKition begründete Philosophie der Stoiker, die in der Antike zu den einfluss-reichsten Philosophenschulen zählte und eine facettenreiche Wirkungsge-schichte bis in die Moderne aufweist, propagiert ein ‚naturgemäßes Leben‘:durch die Maxime ‚secundum naturam vivere‘. Zur stoischen Tradition und ih-ren vielfältigen Transformationen vgl. das zweibändige WerkStoizismus in dereuropäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte vonder Antike bis zur Moderne(Hg. Neymeyr/Schmidt/Zimmermann 2008a). – AlsTherapeutikum gegen die Wechselfälle des Lebens, vor allem gegen Schmerzund Tod, empfahlen die Stoiker eine Haltung der Ataraxia, mithin der Uner-schütterlichkeit der Seele, die der Mensch durch vernunftgeleitete Selbstbe-herrschung erringen soll. Der Maxime eines ‚naturgemäßen Lebens‘ entsprichtdieses Konzept aufgrund der stoischen Prämissen: Denn die Stoiker hieltenden Logos für das dynamische Ordnungsprinzip, das die gesamte Natur durch-
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 345–34675waltet. Der von N. in UB III SE entfaltete Anspruch auf individuelle Selbstver-vollkommnung korrespondiert im Grundansatz auch mit stoischen Autonomie-Vorstellungen und wirkt in UB IV WB dann in der Auffassung weiter, dass „derunfreie Mensch eine Schande der Natur ist“ und „dass Jeder, der frei werdenwill, es durch sich selber werden muss“ (KSA 1, 506, 33 – 507, 2).Dass N. in UB IV WB jedoch bereits eine deutliche Reserve gegenüber demstoischen Ideal der Apatheia und den auf Affektbeherrschung zielenden Postu-laten der Stoiker erkennen lässt, erklärt sich auch durch seine Begeisterungfür die Musik Richard Wagners, der er „Leidenschaft“ als Ausdruck authenti-scher „Natur“ zuspricht (vgl. KSA 1, 491, 9 – 495, 8). Daher behauptet N. inUB IV WB, „dass die Leidenschaft besser ist, als der Stoicismus und die Heu-chelei“ (KSA 1, 506, 29–30). Später kritisiert er in derFröhlichen Wissenschaftund inJenseits von Gut und Bösedie Glückssuggestionen stoischer Moralpredi-ger, die „Recepte“ gegen Leidenschaften aller Art formulieren (KSA 5, 118, 1–6). Aus der Empfehlung von „Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen diehitzige Narrheit der Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten“(KSA 5, 118, 20–22), sieht N. eine „beständige Reizbarkeit bei allen natürlichenRegungen und Neigungen“ hervorgehen (KSA 3, 543, 17–18). Daher befürchteter seelische Verarmung und eine Reduktion der natürlichen Erlebnisfähigkeitdurch stoische Selbstdisziplinierung (vgl. dazu KSA 3, 543, 22–24). In diesemSinne konstatiert N. zuvor bereits inMenschliches, Allzumenschliches II:Diestoische Erstarrung „verkehrt endlich die Natur“ (KSA 2, 471, 4). Und inJen-seits von Gut und Bösehinterfragt N. das stoische Prinzip eines ‚naturgemäßenLebens‘ in einer mehrgliedrigen subversiven Argumentation (KSA 5, 21, 25 –22, 28). Vgl. auch NK 261, 11–18. – Zu N.s Ambivalenzen gegenüber dem Stoi-zismus vgl. Neymeyr 2008c, Bd. 2, 1165–1198 und 2009a, 65–92. Vgl. außerdemNK 351, 2–5, NK 375, 9–10 und NK 506, 29 – 507, 3.346, 12–14einfach und ehrlich, im Denken und Leben, also unzeitgemässzu sein, das Wort im tiefsten Verstande genommen]Der ursprünglich tendenziellpejorative (bestenfalls neutrale) Begriff ‚unzeitgemäß‘ wird hier von N. um-gewertet und mit positiver Bedeutung ausgestattet. Indem er Schopenhauerdie Qualitäten Einfachheit und Ehrlichkeit attestiert, stellt er ihn als unzeit-gemäßen Antipoden moderner Kompliziertheit und Unehrlichkeit dar. Wenigspäter hebt N. den Anspruch auf „Wahrheit und Ehrlichkeit“ als Spezifikumder „Einsamen und Freien im Geiste“ hervor (354, 13–15). Vgl. dazu NK 354,13–16. Dabei greift er zugleich auf Einschätzungen Schopenhauers zurück, derwiederholt über die Relation zwischen Mitwelt und Nachwelt reflektiert und inderWelt als Wille und Vorstellung Ischreibt: „Man lese die Klagen großer Geis-ter, aus jedem Jahrhundert, über ihre Zeitgenossen: stets lauten sie wie vonheute; weil das Geschlecht immer das selbe ist“ (WWV I, § 49, Hü 279). – Im
76Schopenhauer als ErzieherKapitel 20 „Ueber Urtheil, Kritik, Beifall und Ruhm“ derParerga und Paralipo-mena IIantizipiert Schopenhauer sogar bereits N.s Postulat der ‚Unzeitgemäß-heit‘ (346, 13; 361, 9–14), wenn er behauptet: „um etwas Großes zu leisten,etwas, das seine Generation und sein Jahrhundert überlebt“, sei es „eineHauptbedingung, daß man seine Zeitgenossen, nebst ihren Meinungen, An-sichten und daraus entspringendem Tadel und Lobe, für gar nichts achte“,weil sie „vom rechten Wege abführen. Daher muß, wer auf die Nachwelt kom-men will, sich dem Einflusse seiner Zeit entziehn, dafür aber freilich auchmeistens dem Einfluß auf seine Zeit entsagen und bereit seyn, den Ruhm derJahrhunderte mit dem Beifall der Zeitgenossen zu erkaufen“ (PP II, Kap. 20,§ 242, Hü 503). In diesem Sinne werde „die Reise zur Nachwelt durch eine ent-setzlich öde Gegend zurückgelegt“ (PP II, Kap. 20, § 242, Hü 505). Hingegenseien „die Werke gewöhnlichen Schlages [...] mit dem Geiste der Zeit, d. h. dengerade herrschenden Ansichten, genau verbunden und auf das Bedürfniß desAugenblicks berechnet“, so dass sie rasch Anerkennung finden (PP II, Kap. 20,§ 242, Hü 504). Vgl. auch NK 407, 29–31 und NK 364, 7–11.In seinem späteren WerkDie fröhliche Wissenschaftgreift N. im Text 99unter dem Titel „DieAnhänger Schopenhauer’s“einerseits affirmativauf positive Charakteristika Schopenhauers zurück, die er bereits in UB III SEhervorgehoben hat, ergänzt sie andererseits aber um kritische Überlegungen.So stellt er sich die Frage, was die deutschen „AnhängerSchopenhauer’s“von „ihrem Meister zuerst anzunehmen“ pflegen und erwägt mehrere möglicheAntworten: „Ist es sein harter Thatsachen-Sinn, sein guter Wille zu Helligkeitund Vernunft [...]? Oder die Stärke seines intellectuellen Gewissens, das einenlebenslangen Widerspruch zwischen Sein und Wollenaushieltundihndazuzwang, sich auch in seinen Schriften beständig und fast in jedem Puncte zuwidersprechen? Oder seine Reinlichkeit in Dingen der Kirche und des christli-chen Gottes?“ (KSA 3, 453, 22 – 454, 1). Und nachdem N. zusätzlich noch meh-rere zentrale „Lehren“ Schopenhauers in Betracht gezogen hat, lautet sein Fa-zit: „Nein, diess Alles bezaubert nicht [...]: aber die mystischen Verlegenheitenund Ausflüchte Schopenhauer’s, an jenen Stellen, wo der Thatsachen-Denkersich vom eitlen Triebe, der Enträthseler der Welt zu sein, verführen und verder-ben liess, die unbeweisbare Lehre vonEinem Willen[...], dieLeugnungdes Individuums[...], die Schwärmerei vomGenie[...], der Unsinn vomMitleide[...]alsderQuelle aller Moralität: diese und ähnlicheAusschwei-fungen undLaster des Philosophen werden immer am ersten angenommenund zur Sache des Glaubens gemacht“; weil sie „immer am leichtesten nachzu-ahmen“ sind (KSA 3, 454, 6 – 455, 1). In dieser Darstellung relativiert N. diezunächst von ihm betonte Ehrlichkeit und intellektuelle Redlichkeit Schopen-hauers, und zwar durch den Hinweis auf eine durch Geltungsbedürfnis beding-
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 34677te Korrumpierung, die er als „Laster des Philosophen“ betrachtet, aber zu-gleich auch für die Ursache seiner Breitenwirkung hält.346, 20Ich gehöre zu den Lesern Schopenhauers]Durch seine Schopenhauer-Lektüre folgte N. dem Ratschlag des Philosophen selbst, der in der Vorrede zur2. Auflage derWelt als Wille und Vorstellung Izu dem „heillosen Irrthum“ Stel-lung nimmt, man „könne Kants Philosophie aus den Darstellungen Andererdavon kennen lernen“, und dezidiert erklärt: „Die Kantische Lehre also wirdman vergeblich irgend wo anders suchen, als in Kants eigenen Werken [...]. InFolge seiner Originalität gilt von ihm im höchsten Grade was eigentlich vonallen ächten Philosophen gilt: nur aus ihren eigenen Schriften lernt man siekennen; nicht aus den Berichten Anderer“ (WWV I, Hü XXV). Und in seinerSchriftUeber die Universitäts-Philosophiebetont Schopenhauer generalisie-rend, „die eigentliche Bekanntschaft mit den Philosophen“ ermögliche alleindie Lektüre ihrer Werke, die sich durch philosophiegeschichtliche Darstellun-gen keineswegs substituieren lasse (PP I, Hü 208). In diesem Sinne distanziertsich N. in UB III SE ebenfalls von der Haltung des Lesers, der „zwischen sichund die Dinge Begriffe, Meinungen, Vergangenheiten, Bücher treten lässt“(410, 3–4). Vgl. auch NK 410, 3–5.346, 23–25Mein Vertrauen zu ihm war sofort da und ist jetzt noch dasselbe wievor neun Jahren. Ich verstand ihn als ob er für mich geschrieben hätte]N. hattedas Werk Schopenhauers bereits im Jahre 1865 kennengelernt, also neun Jahrevor der Publikation von UB III SE im Jahre 1874. In einem Nachlass-Notat des-selben Jahres gesteht N. allerdings: „Ich bin fern davon zu glauben, dass ichSchopenhauer richtig verstanden habe, sondern nur mich selber habe ichdurch Schopenhauer ein weniges besser verstehen gelernt; das ist es, weshalbich ihm die grösste Dankbarkeit schuldig bin“; dann erklärt er, es sei ihm„nicht so wichtig [...], dass bei irgend einem Philosophen genau ergründet undan’s Licht gebracht werde, was er eigentlich im strengsten Wortverstande ge-lehrt habe“ (NL 1874, 34 [13], KSA 7, 795–796). Diese Aussagen dokumentierenden hohen Stellenwert einer identifikatorischen Schopenhauer-Lektüre für N.,dem die Vorbildfunktion des authentischen Beispiels in seiner Frühphase vielbedeutete. In diesem Sinne erklärt N. in UB III SE prononciert: „Ich mache miraus einem Philosophen gerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu ge-ben“ (350, 23–24).346, 26–28Daher kommt es, dass ich nie in ihm eine Paradoxie gefunden habe,obwohl hier und da einen kleinen Irrthum]Das positive, mitunter enthusiasti-sche Schopenhauer-Bild, das auch etliche Briefe N.s belegen, hatte sich kaummehr als zwei Jahre nach der Publikation von UB III SE bereits deutlich verän-dert. So fragt er Cosima Wagner am 19. Dezember 1876: „werden Sie sich wun-
78Schopenhauer als Erzieherdern, wenn ich Ihnen eine allmählich entstandene, mir fast plötzlich in’s Be-wußtsein getretene Differenz mit Schopenhauer’s Lehre eingestehe? Ich stehefast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite; schon als ich über Sch.schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lagalles amMenschen“(KSB 5, Nr. 581, S. 210). Gerade die Reflexionen überden „Schopenhauerischen Menschen“ (371, 20) richtet N. dann allerdings baldgegen seinen einstigen ‚Erzieher‘: „DerSchopenhauersche Menschtriebmich zur Skepsis gegen alles Verehrte Hochgehaltene, bisher Vertheidigte(auch gegen Griechen Schopenhauer Wagner) Genie Heilige – Pessimismus derErkenntniss“ (NL 1878, 27 [80], KSA 8, 500). In einem Kapitel derGötzen-Däm-merungmit dem symptomatischen Titel „Streifzüge eines Unzeitgemässen“ po-lemisiert N. sogar heftig gegen Schopenhauer, indem er ihm „die grösste psy-chologische Falschmünzerei“ unterstellt, weil er die „Exuberanz-Formen desLebens“ wie Kunst, Heroismus, Schönheit, Erkenntnis, Wahrheitsstreben undTragödie auf eine ‚Verneinung des Willens‘ zurückgeführt habe (KSA 6, 125, 9–15). Vgl. ergänzend das heterogene Spektrum von Selbstaussagen N.s in KapitelIII.3 des Überblickskommentars.346, 31 – 347, 5Schopenhauer will nie scheinen: denn er schreibt für sich, undniemand will gern betrogen werden, am wenigsten ein Philosoph, der sich sogarzum Gesetze macht: betrüge niemanden, nicht einmal dich selbst! Selbst nichtmit dem gefälligen gesellschaftlichen Betrug, den fast jede Unterhaltung mit sichbringt und welchen die Schriftsteller beinahe unbewusst nachahmen; noch weni-ger mit dem bewussteren Betrug von der Rednerbühne herab und mit den künstli-chen Mitteln der Rhetorik.]Im Kontext dieser Aussage bringt N. Redlichkeit,Wahrheitsethos und Authentizität mit der von Schopenhauer als eine Art von‚Selbstgespräch‘ (347, 5–6) verstandenen Philosophie in Verbindung. In seinerSchriftUeber die Universitäts-Philosophieerklärt Schopenhauer in einer Fußno-te dezidiert: „Ich habe dieWahrheitgesucht, und nicht eine Professur“ (PP I,Hü 151–152). Im Text 99 derFröhlichen Wissenschaftvollzieht N. teilweise einenachträgliche Relativierung der intellektuellen Redlichkeit als charakterlicherQualität Schopenhauers: vgl. dazu NK 346, 12–14.Im Kapitel 23 „Ueber Schriftstellerei und Stil“ derParerga und Paralipo-mena IIunterscheidet Schopenhauer „zweierlei Schriftsteller: solche, die derSache wegen, und solche, die des Schreibens wegen schreiben. Jene habenGedanken gehabt, oder Erfahrungen gemacht, die ihnen mittheilenswerthscheinen; Diese brauchen Geld [...]. Sie denken zum Behuf des Schreibens.Man erkennt sie daran, daß sie ihre Gedanken möglichst lang ausspinnenund auch halbwahre, schiefe, forcirte und schwankende Gedanken ausfüh-ren, auch meistens das Helldunkel lieben, um zu scheinen was sie nicht sind;weshalb ihrem Schreiben Bestimmtheit und volle Deutlichkeit abgeht“ (PP II,
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 34679Kap. 23, § 272, Hü 532). Laut Schopenhauer gilt dies für literarische und philo-sophische Autoren gleichermaßen. Im Kapitel 21 „Ueber Gelehrsamkeit undGelehrte“ derParerga und Paralipomena IIschreibt Schopenhauer über dieIllusion, „das so große Gedränge von Schülern und Meistern“ signalisiere,„daß es dem Menschengeschlechte gar sehr um Einsicht und Wahrheit zuthun sei“; seines Erachtens „trügt der Schein. Jene lehren, um Geld zu verdie-nen und streben nicht nach Weisheit, sondern nach dem Schein und Kreditderselben: und Diese lernen nicht, um Kenntniß und Einsicht zu erlangen,sondern um schwätzen zu können und sich ein Ansehn zu geben“ (PP II,Kap. 21, § 244, Hü 509).Den Begriff der ‚Rhetorik‘, die Techniken zur elaborierten und überzeugen-den Formulierung von Erkenntnissen, Ansichten und Appellen bereitstellt, ver-wendet N. im vorliegenden Kontext pejorativ, wenn er von den „künstlichenMitteln der Rhetorik“ spricht. Denn er sieht mit der Rhetorik auch die Gefahrverbunden, dass ihre Praktiken in den Dienst einer suggestiven oder sogardemagogischen Beeinflussung der Adressaten gestellt werden. Demgegenübererblickt N. das spezifische Charakteristikum von Schopenhauers Schreibweisegerade darin, dass er „das Tiefsinnige einfach, das Ergreifende ohne Rhetorik“zu sagen vermag (347, 31–32). Dabei folgt N. dem Stilideal Schopenhauers (vgl.dazu NK 347, 31–32).Im Kontext dieser Aussage erklärt Schopenhauer, „jeder Mediokre“ suche„seinen, ihm eigenen und natürlichen Stil zu maskiren. Dies nöthigt ihn zu-nächst, auf alleNaivetätzuverzichten; wodurch diese das Vorrecht der über-legenen und sich selbst fühlenden, daher mit Sicherheit auftretenden Geisterbleibt. Jene Alltagsköpfe nämlich können schlechterdings sich nicht entschlie-ßen, zu schreiben, wie sie denken; weil ihnen ahndet, daß alsdann das Dingein gar einfältiges Ansehn erhalten könnte“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 548). Undin derWelt als Wille und Vorstellung Ierklärt Schopenhauer: So „wird jederschöne und gedankenreiche Geist sich immer auf die natürlichste, unumwun-denste, einfachste Weise ausdrücken, [...] umgekehrt nun aber wird Geistesar-muth, Verworrenheit, Verschrobenheit sich in die gesuchtesten Ausdrücke unddunkelsten Redensarten kleiden, um so in schwierige und pomphafte Phrasenkleine, winzige, nüchterne, oder alltägliche Gedanken zu verhüllen“ (WWV I,§ 47, Hü 270–271). Vgl. auch die Belege in NK 347, 31–32.Obwohl N. im vorliegenden Kontext deutliche Vorbehalte gegenüber derRhetorik zum Ausdruck bringt, kultiviert er beim Schreiben selbst einen rheto-risch geprägten Stil. Nachdem seine Tragödienschrift in der altphilologischenFachwelt sehr kritisch rezipiert worden war, versuchte N. fortan mithilfe rheto-rischer Stilisierung besondere Publikumswirksamkeit zu erlangen und studier-te zu diesem Zweck sowohl traditionelle Rhetoriken (Aristoteles, Cicero, Quinti-
80Schopenhauer als Erzieherlian) als auch zeitgenössische Rhetorik-Lehrbücher von Richard Volkmann, dieer für seine eigenen Rhetorik-Vorlesungen an der Universität Basel nutzte,nämlichHermagoras oder Elemente der Rhetorik(1865) undDie Rhetorik derGriechen und Römer in systematischer Übersicht(1872). – Zu den rhetorischenStrategien, mit denen N. in UB II HL Pathos erzeugen wollte, gehört der Rück-griff auf eine Vielzahl von rhetorischen Figuren (vgl. in UB II HL z. B. KSA 1,252, 34 – 253, 9 sowie KSA 1, 277–278). Mit auffallender Häufigkeit verwendetN. insbesondere Wiederholungs-, Häufungs-, Erweiterungs- und Steigerungsfi-guren (Iteratio, Accumulatio, Amplificatio und Anaphern) sowie ausdrucks-starke Metaphern. Vgl. dazu exemplarisch NK 1/2, 294–298.347, 25höfische Anmuth der guten französischen Schriftsteller]Hier kontrastiertN. bereits Eleganz und Esprit der Franzosen mit dem „Schwer- und Tiefsinn“der Deutschen (391). Diese Opposition vertieft er im 6. Kapitel von UB III SE,um sie dann ganz auf Kosten der Franzosen zu radikalisieren. Der Wechsel vonneutraler zu pejorativer Charakterisierung klingt in dem Verb „verschmähen“(347, 26) bereits an, wenn N. die Ansicht vertritt, dass „Schopenhauer’s rauheund ein wenig bärenmässige Seele die Geschmeidigkeit und höfische Anmuthder guten französischen Schriftsteller nicht sowohl vermissen als verschmä-hen“ lehre (347, 23–26). Anschließend polemisiert er dann sogar gegen Imitati-onsversuche deutscher Autoren, die sich auf das „nachgemachte gleichsamübersilberte Scheinfranzosenthum [...] so viel zu Gute thun“ (347, 27–28). Damitschließt N. tendenziell auch an literarische Debatten der Sturm-und-Drang-Epoche an: So wendete sich etwa Jakob Michael Reinhold Lenz 1774 in seinerdramentheoretischen SchriftAnmerkungen übers Theaterdezidiert gegen dieNormen der AristotelischenPoetikund gegen die Autoren des französischenKlassizismus, die sich strikt an den Prinzipien derPoetikorientierten; im Sturmund Drang avancierte Shakespeare nicht nur für Lenz, sondern auch für Goethezum paradigmatischen Vorbild. – Zu den Kontroversen der Realisten und Idea-listen (Goethe, Lenz, Büchner versus Aristoteles, Winckelmann, Schiller) vgl.Neymeyr 2012a, 198–220.347, 29–30Schopenhauers Ausdruck erinnert mich hier und da ein wenig anGoethe, sonst aber überhaupt nicht an deutsche Muster.]Eine aufschlussreicheVariante hierzu bietet die Reinschrift, die als Vorlage des Druckmanuskriptsfungierte: „an die Engländer mehr als an irgend welche“ (KSA 14, 75).347, 31–32das Tiefsinnige einfach, das Ergreifende ohne Rhetorik, das Streng-Wissenschaftliche ohne Pedanterie zu sagen]Indem N. Schopenhauers Schreib-weise auf diese Weise charakterisiert, folgt er zugleich dessen Stilideal. Im Ka-pitel 23 „Ueber Schriftstellerei und Stil“ derParerga und Paralipomena IIbe-zeichnet Schopenhauer den Stil als „die Physiognomie des Geistes“ (PP II,
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 34781Kap. 23, § 282, Hü 547). Hier kontrastiert er „das Prägnante“ mit dem Prätentiö-sen, „Platte[n] und Seichte[n]“ (PP II, Kap. 23, § 273, Hü 535) und erklärt expli-zit, es sei „ein Lob, wenn man einen Autornaivnennt; indem es besagt, daßer sich zeigen darf, wie er ist. [...] Auch sehn wir jeden wirklichen Denker be-müht, seine Gedanken so rein, deutlich, sicher und kurz, wie nur möglich,auszusprechen. Demgemäß ist Simplicität stets ein Merkmal, nicht allein derWahrheit, sondern auch des Genies gewesen. [...] Ist doch der Stil der bloßeSchattenriß des Gedankens: undeutlich, oder schlecht schreiben, heißt dumpf,oder konfus denken“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 550).Am Anfang dieses Kapitels statuiert Schopenhauer: „jeder Schriftstellerwird schlecht, sobald er irgend des Gewinnes wegen schreibt“ (PP II, Kap. 23,§ 272, Hü 532). Die pragmatischen Autoren, die ökonomische Interessen verfol-gen und beim Schreiben primär an den Profit denken, erkennt er an ihrem Stil:an fehlender Deutlichkeit, an redundanter Darstellung und an diffusen oderschiefen Gedanken (PP II, Kap. 23, § 272, Hü 532). Entschieden kritisiert Scho-penhauer das „Bestreben, Worte für Gedanken zu verkaufen“ und mit ihnen„den Schein des Geistes hervorzubringen, um den so schmerzlich gefühltenMangel desselben zu ersetzen“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 549). Er sieht „dieGeistlosigkeit und Langweiligkeit der Schriften der Alltagsköpfe“ dadurch be-dingt, dass ihnen der „Sinn ihrer eigenen Worte“ nicht klar ist: Da „der Präge-stempel“ zu „deutlich ausgeprägten Gedanken“, nämlich „das eigene klareDenken, ihnen abgeht“, produzieren sie bloß „ein unbestimmtes dunkles Wort-gewebe, gangbare Redensarten, abgenutzte Wendungen und Modeausdrücke“(PP II, Kap. 23, § 283, Hü 552–553).Schopenhauers Maxime lautet: „Man brauche gewöhnliche Worte undsage ungewöhnliche Dinge“; bei „deutschen Schriftstellern“ konstatiert er al-lerdings eine problematische Tendenz, „ihre sehr gewöhnlichen Gedanken indie ungewöhnlichsten Ausdrücke, die gesuchtesten, preziösesten und selt-samsten Redensarten zu kleiden. Ihre Sätze schreiten beständig auf Stelzeneinher“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 554). Schopenhauer selbst sieht die Vorliebefür den „Bombast“ und das Wohlgefallen „am hochtrabenden, aufgedunsenen,preziösen, hyperbolischen und aerobatischen Stile“ (PP II, Kap. 23, § 283,Hü 554) sogar als Indiz für den trivialen Denker an: Seines Erachtens erkenntman „am preziösen Stil den Alltagskopf“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 555). Und erstellt fest: „Die Wahrheit ist nackt am schönsten, und der Eindruck, den siemacht, um so tiefer, als ihr Ausdruck einfacher war; theils, weil sie dann dasganze, durch keinen Nebengedanken zerstreute Gemüth des Hörers ungehin-dert einnimmt; theils, weil er fühlt, daß er hier nicht durch rhetorische Künstebestochen, oder getäuscht ist, sondern die ganze Wirkung von der Sache selbstausgeht“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 556).
82Schopenhauer als ErzieherInwiefern Schopenhauer mit seiner Kritik am prätentiösen, künstlich ver-klausulierten oder verschroben-pedantischen Stil mehrere repräsentative Phi-losophen attackiert, erhellt ebenfalls aus dem Kapitel 23 „Ueber Schriftstellereiund Stil“ derParerga und Paralipomena II: „Da sieht man die Schriftstellerbald dithyrambisch, wie besoffen, und bald, ja schon auf der nächsten Seite,hochtrabend, ernst, gründlich-gelehrt, bis zur schwerfälligsten, kleinkauen-desten Weitschweifigkeit, gleich der des weiland Christian Wolf, wiewohl immodernen Gewande. Am längsten aber hält die Maske der Unverständlichkeitvor, jedoch nur in Deutschland, als wo sie, vonFichteeingeführt, vonSchellingvervollkommnet, endlich inHegelihren höchsten Klimax er-reicht hat: stets mit glücklichstem Erfolge. Und doch ist nichts leichter, als sozu schreiben, daß kein Mensch es versteht; wie hingegen nichts schwerer, alsbedeutende Gedanken so auszudrücken, daß Jeder sie verstehn muß. DasUnverständliche ist dem Unverständigenverwandt“ (PP II, Kap. 23,§ 283, Hü 549–550).348, 6–7„ein Philosoph muss sehr ehrlich sein, um sich keiner poetischen oderrhetorischen Hülfsmittel zu bedienen.“]N. zitiert hierAus Arthur Schopenhauer’shandschriftlichem Nachlaß. Abhandlungen, Anmerkungen, Aphorismen undFragmentevon 1864 (NPB 543), 371: „Ein Philosoph muß sehr ehrlich seyn, umsich keiner poetischen oder rhetorischen Hülfsmittel zu bedienen.“ N. hat dieStelle in seinem Handexemplar nicht markiert. – Auch sinngemäß findet sichbereits bei Schopenhauer diese von N. goutierte Auffassung. Die Ehrlichkeitund Redlichkeit, die N. vom Philosophen fordert (347, 348), postuliert Schopen-hauer in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophie(PP I, Hü 202). Undim Kapitel 23 „Ueber Schriftstellerei und Stil“ derParerga und Paralipomena IIwarnt er den Autor „vor dem sichtbaren Bestreben, mehr Geist zeigen zu wol-len, als er hat; weil Dies im Leser den Verdacht erweckt, daß er dessen sehrwenig habe, da man immer und in jeder Art nur Das affektirt, was man nichtwirklich besitzt“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 550). Nach Schopenhauers Überzeu-gung signalisieren gerade „Naivetät“ und„Simplicität“ den Wert eines Au-tors (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 548, 550). Vom heutzutage pejorativen Begriffdes Naiven (im Sinne von einfältig, töricht oder kindisch) unterscheidet sichSchopenhauers positive Vorstellung der Naivität fundamental, die eine natürli-che Schlichtheit und ursprüngliche Klarheit impliziert: „Ueberhaupt zieht dasNaive an: die Unnatur hingegen schreckt überall zurück“ (PP II, Kap. 23, § 283,Hü 550). Daher ringe jeder genuine „Denker“ fortwährend um einen möglichstklaren und prägnanten Stil, der seinen Gedanken einen adäquaten Ausdruckverleihen solle. „Simplicität“ sei mithin ein wesentliches Charakteristikum der„Genies“ (ebd.). „Ein guter, gedankenreicher Schriftsteller“ wird „sich stets aufdie einfachste und entschiedenste Weise ausdrücken; weil ihm daran liegt, ge-
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 34883rade den Gedanken, den er jetzt hat, auch im Leser zu erwecken und keinenandern“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 551). Vgl. auch die Belege in NK 346, 31 –347, 5 und NK 347, 31–32.348, 15Ehrlichkeit]N. attestiert seinem Lehrer Schopenhauer hier und auf denfolgenden Seiten die moralische Qualität, die dieser selbst in seiner SchriftUe-ber die Universitäts-Philosophiefür den seriösen Philosophen postuliert: eine„Redlichkeit“ (PP I, Hü 202, 204), für die sogar Leiden in Kauf genommen wird.Vgl. auch 371, 20–22: „DerSchopenhauerische Mensch nimmt dasfreiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich.“ Ähnlich wie N.(366, 20, 22) kontrastiert auch Schopenhauer in der SchriftUeber die Universi-täts-Philosophie(PP I, Hü 202) ein unbedingtes Wahrheitsethos mit einer prag-matischen, durch andersgeartete Zwecke bedingten Verlogenheit. – Dass N.in UB III SE so dezidiert die charakterlichen Qualitäten Schopenhauers betont,insbesondere „Ehrlichkeit, „Heiterkeit und „Beständigkeit“ (350, 1), ist durchseine am Paradigma der „Philosophen Griechenlands“ (350, 29) ausgerichteteIdealvorstellung des Philosophen bedingt. Infolgedessen schreibt N. dem exis-tentiellen Bezug der Philosophie und der Vorbildfunktion des authentischenBeispiels zentrale Bedeutung zu. Diese Priorität erhellt in UB III SE insbesonde-re aus dem Beginn des 3. Kapitels: „Ich mache mir aus einem Philosophengerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben“ (350, 23–24). DiesePräferenz bestimmt auch ein Nachlass-Notat aus der Entstehungszeit vonUB III SE, in dem N. keineswegs den Anspruch erhebt, „Schopenhauer richtigverstanden“ zu haben; stattdessen betont er die wichtige Funktion, die sein‚Erzieher‘ Schopenhauer als Stimulans für seine eigene Selbsterkenntnis ge-habt habe (NL 1874, 34 [13], KSA 7, 795–796). Bezeichnenderweise akzentuiertN. hier die Strategie zur Selbstfindung durch persönliche Orientierung am phi-losophischen Vorbild, die gerade „für Menschen geeignet“ ist, „welche einePhilosophie für ihr Leben“ suchen (ebd.). Zur partiellen nachträglichen Relati-vierung der intellektuellen Redlichkeit Schopenhauers, die N. in derFröhlichenWissenschaftvollzieht, vgl. NK 346, 12–14.348, 16Montaigne]Michel Eyquem de Montaigne (1533–1592) begründete mitseinenEssais(1580) die Gattung des Essays. Unter ‚Essai‘ verstand er primärein methodisches Experimentieren mit intellektuellen Möglichkeiten. In seinenmeditativen und skeptischenEssais, in deren Zentrum zumeist der reflektieren-de Mensch steht, versucht sich Montaigne seinen Themen durch permanentePerspektivenwechsel ohne ein konkret vorgegebenes Erkenntnisziel prozessualzu nähern. Auf diese Weise will er die Leser zu eigenem Nachdenken anregen,statt sie moraldidaktisch zu belehren. – N. war mit MontaignesEssaisdurchWagner bekannt geworden, der sie ihm zu Weihnachten 1870 geschenkt hatte.
84Schopenhauer als ErzieherVgl. N.s Brief vom 30. Dezember 1870: „Zu Weihnachten bekam ich [...] einestattliche Ausgabe des ganzen Montaigne (den ich sehr verehre)“ (KSB 3,Nr. 116, S. 172). In N.s Bibliothek befinden sich zwei Ausgaben von MontaignesEssais. Vgl. Michel de Montaigne: Essais, 1864 (NPB 393) und die deutscheÜbersetzung: Michel de Montaigne [Auf dem Titelblatt: Michaels Herrn vonMontagne (sic)]: Versuche, nebst des Verfassers Leben, 3 Theile, 1753–1754(NPB 393–394). – Zu einem Übersetzungsproblem in N.s UB III SE vgl. NK 348,18–22. Im Hinblick auf Montaigne spricht N. von seinem „Bekanntwerden mitdieser freiesten und kräftigsten Seele“ (348, 18–19). Zu N.s Montaigne-Rezep-tion im Zusammenhang mit der Thematik des freien Geistes vgl. Vivetta Viva-relli 1998.348, 20Plutarch]Griechischer Schriftsteller (ca. 45–125 n. Chr.) aus Chaironeia(Böotien). Von seinen Werken gehörten vor allem die Parallel-Biographien be-deutender Griechen und Römer seit dem Humanismus zum europäischen Bil-dungskanon. Traditionell galt die Plutarch-Lektüre als obligatorischer Bestand-teil des Erziehungswesens. Oft beruft sich auch Montaigne auf Plutarch, der indenParallelen Lebensläufenbedeutende Persönlichkeiten der griechischen undrömischen Antike miteinander vergleicht, etwa Alexander den Großen und Cä-sar. Dabei korreliert Plutarch das individuelle Ethos der dargestellten Persön-lichkeiten mit ihren politischen Leistungen. – N. empfiehlt in UB II HL Plutarchals Antidot gegen die Missstände seiner eigenen Zeit und stilisiert die humanis-tische Tradition ins Heroisch-Idealische, indem er Plutarchs Helden zu ‚unzeit-gemäßen‘ Vorbildern für den modernen Menschen erhebt. Sein Schlussplädo-yer im 6. Kapitel der Historienschrift lautet: „Sättigt eure Seelen an Plutarchund wagt es an euch selbst zu glauben, indem ihr an seine Helden glaubt. Miteinem Hundert solcher unmodern erzogener, das heisst reif gewordener undan das Heroische gewöhnter Menschen ist jetzt die ganze lärmende Afterbil-dung dieser Zeit zum ewigen Schweigen zu bringen“ (KSA 1, 295, 18–23).348, 18–22Mir wenigstens geht es seit dem Bekanntwerden mit dieser freiestenund kräftigsten Seele[sc. Montaigne]so, dass ich sagen muss, was er von Plut-arch sagt:kaum habe ich einen Blick auf ihn geworfen, so ist mir ein Bein oderein Flügel gewachsen“.]In seinem Zitat unterlief N. ein Übersetzungsfehler, aufden ihn Marie Baumgartner am 3. April 1875 in einem Brief hinwies (KGB II 6/I, Nr. 660, S. 94–95). Marie Baumgartner schrieb u. a. Folgendes an N. [inKSA 14, 75 ist dieser Brief irrtümlich auf den 7. April 1875 datiert]: „[...] Der Sinnscheint mir nicht mehr der zu sein daß dem Montaigne selbst ein Bein oderFlügel wachse, als Zeichen seiner eigenen, zunehmenden Tüchtigkeit und Fül-le durch den Umgang mit Plutarch; sondern der: daß vielmehr dem Plutarchein solch unerschöpflicher Vorrath und Reichthum des Köstlichsten inne
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 348–34985wohnt daß derjenige der noch so flüchtig, noch so auf gerathewohl bei ihmschöpft, ganz unfehlbar Etwas Gutes erobert; etwa so, wie wenn Jemand blind-lings mit der Gabel in eine Platte sticht, und doch einen ‚Schenkel oder Flügel‘(vom Geflügel) erwischt, (also einguterBrocken) dieses ein Beweis ist daßdie Platte lauter gute Stücke enthält. – Diese Auffassung ist zwar realistischerund lange nicht so poetisch als das deutsche Wachsen der geistigen Flügel;aber dem Gutsbesitzer und Jäger Montaigne mag dieser Gedankengang den-noch nahe genug gelegen sein. So viel ich bis jetzt beobachten konnte, glaubeich daß eine ernstgemeinte Uebersetzung von Montaigne sich sehr hüten müß-te, seine Ur-Einfachheit und Keckheit zu idealisiren; diese Methode müßte ihnganz entstellen. Wenn man ihn je mit deutschen Worten reden lassen kann, sowird man doch von vielen Franzosen am allerwenigsten ihndeutsch auf-fassendürfen. Er denkt zu sehr französisch!“N. gestand seinen Irrtum vier Tage später in seinem Antwortbrief vom7. April 1875 ein: „Die Montaigne-Stelle hat eine gewisse Perplexität erzeugt:nämlich: diedeutsche Übersetzunglautet ganz anders als ich die Stelleim ‚Schopenhauer‘ angeführt habe; falsch ist sie aber auch, wie die meinigeAuffassung, nur in ganz anderer Weise falsch. / Ich empfehle nun in der fran-zösischen Ausgabe die Sache so zu wenden: wirstreichen dieWorte p. 17‚was er von Plutarch sagt‘ und führen den Gedanken ‚Kaum habe ich einenBlick usw.‘ so ein, dass er von mir herrührt: was ja auch im Grunde das Richti-ge ist, da Montaigne jedenfalls etwas anderes sagt und seine Worte hier geradenicht in den Ton meiner Stelle passen. / Der Entdeckerin meines Irrthumsvielen Dank; es steht eben schlecht mit meinem Französisch, und bevor ichMontaigne idealisire, sollte ich ihn wenigstens richtig verstehen. / [...] Auchlassen wir das ‚Bein‘ weg und begnügen uns mit dem ‚Flügel‘.“ (KSB 5, Nr. 438,S. 39–40.)348, 26Aliis laetus, sibi sapiens.]Lateinische Sentenz unbekannter Herkunft.Übersetzung: für die anderen heiter (bzw. ein Heiterer, Fröhlicher), für sichselbst weise (ein Weiser). – Vermutlich orientiert sich N. hier an einem (insDeutsche übersetzten) Werk des von ihm sehr geschätzten Ralph Waldo Emer-son: Die Führung des Lebens. Gedanken und Studien, 1862, 184: „Es ist einealte Regel für verständiges Betragen: ‚Aliis laetus, sapiens sibi,‘ welche das eng-lische Sprichwort wiedergibt durch: ‚Sei fröhlich und weise.‘“ – Vgl. Campioni/Morillas Esteban (2008), 292. Zu N.s besonderer Wertschätzung für Emersonvgl. auch die Erläuterungen in NK 340, 9–11.349, 4David Straussens Heiterkeit]N. kritisiert die oberflächliche Heiterkeitdes Bildungsphilisters David Friedrich Strauß, gegen den er in UB I DS heftigpolemisiert. (Zum Themenkomplex ‚Philister‘/‘Bildungsphilister‘ in N.s Werken
86Schopenhauer als Erzieherund seinem Rückgriff auf Schopenhauers Begriffsverständnis vgl. ausführlichNK 352, 27.)349, 14das Problem des Daseins]Hier verwendet N. eine Formulierung, diesein einstiger ‚Erzieher‘ wiederholt gebraucht – auch in der SchriftUeber dieUniversitäts-Philosophie, auf die N. in UB III SE zweimal ausdrücklich hinweist(413, 418). Hier ist explizit die Rede vom „Problem des Daseyns“ bzw. vom„Problem des Lebens“ (vgl. PP I, Hü 153, 169, 171, 203). Mit exklamatorischemNachdruck schreibt Schopenhauer: „O! daß man solchen Spaaßphilosopheneinen Begriff beibringen könnte von dem wahren und furchtbaren Ernst, mitwelchem das Problem des Daseyns den Denker ergreift und sein Innerstes er-schüttert!“ (PP I, Hü 169). Und im Kapitel „Selbstdenken“ seinerParerga undParalipomena IIformuliert er in diesem Zusammenhang sogar anthropologi-sche Implikationen: „Wenn man wohl erwägt, wie groß und wie nahe liegenddasProblem des Daseynsist, dieses zweideutigen, gequälten, flüchtigen,traumartigen Daseyns; – so groß und so nahe liegend, daß, sobald man esgewahr wird, es alle andern Probleme und Zwecke überschattet und ver-deckt; – und wenn man nun dabei vor Augen hat, wie alle Menschen, – einigewenige und seltene ausgenommen, – dieses Problems sich nicht deutlichbewußt sind, ja, seiner gar nicht inne zu werden scheinen, sondern um allesAndere eher, als darum, sich bekümmern, und dahinleben, nur auf den heuti-gen Tag und die fast nicht längere Spanne ihrer persönlichen Zukunft bedacht,indem sie jenes Problem entweder ausdrücklich ablehnen, oder hinsichtlichdesselben sich bereitwillig abfinden lassen mit irgend einem Systeme derVolksmetaphysik und damit ausreichen; – wenn man [...] Das wohl erwägt; sokann man der Meinung werden, daß der Mensch doch nur sehr im weiternSinne eindenkendes Wesenheiße, und wird fortan über keinen Zug vonGedankenlosigkeit, oder Einfalt, sich sonderlich wundern, vielmehr wissen,daß der intellektuelle Gesichtskreis des Normalmenschen zwar über den desThieres, – dessen ganzes Daseyn, der Zukunft und Vergangenheit sich nichtbewußt, gleichsam eine einzige Gegenwart ist, – hinausgeht, aber doch nichtso unberechenbar weit“, wie man meint (PP II, Kap. 22, § 271, Hü 530). Hierrelativiert Schopenhauer den Sonderstatus des ‚animal rationale‘.349, 17–21während dem Menschen nichts Fröhlicheres und Besseres zu Theilwerden kann, als einem jener Siegreichen nahe zu sein, die, weil sie das Tiefstegedacht, gerade das Lebendigste lieben müssen und als Weise am Ende sichzum Schönen neigen]N. paraphrasiert hier die Schlusspartie von Hölderlinszweistrophiger OdeSokrates und Alcibiades: „Wer das Tiefste gedacht, liebt dasLebendigste, / Hohe Jugend versteht, wer in die Welt geblickt / Und es neigendie Weisen / Oft am Ende zu Schönem sich“ (Hölderlin: Gedichte, 1992, 205).
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 349–35087Den ersten dieser Schlussverse zitiert N. wörtlich und mit expliziter NennungHölderlins in einem nachgelassenen Notat (NL 1873, 29 [202], KSA 7, 711).349, 29–32Ich schildere nichts als den ersten gleichsam physiologischen Ein-druck, welchen Schopenhauer bei mir hervorbrachte, jenes zauberartige Ausströ-men der innersten Kraft eines Naturgewächses auf ein anderes]Eine ähnlicheEinschätzung im Hinblick auf die Natur des Philosophen formuliert bereitsSchopenhauer in der Schlusspartie seiner SchriftUeber die Universitäts-Philo-sophie, an die N. hier anzuschließen scheint. Allerdings betont er die Relevanzder Pädagogik mit größerem Nachdruck als Schopenhauer, der die „Natur“ imSinne der „angeborenen Talente“ für erheblich wichtiger hält als die „Erzie-hung und Bildung“ (PP I, Hü 209). – Zugleich antizipiert N. in der Darstellungeiner quasi-physiologischen Wirkung schon Aspekte der späteren Schaffens-phase, in der er auch für den Umgang mit philosophischen Themen die Aus-richtung an Prinzipien naturwissenschaftlichen Experimentierens postuliert.Zu N.s Experimental-Philosophie vgl. Volker Gerhardt 1986, 45–61.Den „gleichsam physiologischen Eindruck“ reflektiert N. anschließend(349, 33 – 350, 1) methodisch nach dem Modell einer naturwissenschaftlichenFaktorenanalyse: Die sympathetische Anziehungskraft Schopenhauers auf sichselbst analysiert N., indem er zwischen drei Komponenten differenziert. Dabeinähert er sich in dreifacher Hinsicht naturwissenschaftlicher Begrifflichkeit an:erstens indem er von seiner „gleichsam physiologischen“ Wirkung spricht,zweitens dadurch, dass er diesen „Eindruck nachträglich [zu] zerlege[n]“sucht, und drittens insofern, als er ihn (wie ein Chemiker) „aus drei Elementengemischt“ findet (349, 33–34). Demgemäß beschreibt N. Schopenhauers „Be-ständigkeit“, die an das stoische Ideal der constantia erinnert, als eine imma-nente Notwendigkeit, die mit der Gravitation, einem physikalischen Prinzip,vergleichbar sei: nämlich „wie durch ein Gesetz der Schwere gezwungen“ (350,7–8). Und Schopenhauers „Kraft“ erscheint ihm als „aufwärts“ strebend „wieeine Flamme bei Windstille“ (350, 4–5).349, 26–28„Was ist doch ein Lebendiges für ein herrliches köstliches Ding! wieabgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend!“]N. zitiert an dieserStelle nicht ganz exakt aus GoethesTagebuch der italienischen Reise IV, Vene-dig. Am 9. Oktober 1786 schreibt Goethe hier über die „Wirtschaft der Seeschne-cken, Patellen und Taschenkrebse“ am Meer: „Was ist doch ein Lebendiges fürein köstliches, herrliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wiewahr, wie seiend!“ (Goethe: FA, Bd. 15/1, 99).350, 7–8wie durch ein Gesetz der Schwere gezwungen]Auf das Prinzip derGravitation nimmt N. hier Bezug, indem er die intuitive Sicherheit, mit derSchopenhauer „seinen Weg“ fand, mit dem Gesetz der Schwerkraft analogi-
88Schopenhauer als Erziehersiert. Eine ähnliche Darstellungsstrategie findet sich am Anfang von UB III SE(343, 5–8), wo N. die Funktion einer ganzheitlichen „Erziehung“ darin erblickt,den „Menschen zu einem lebendig bewegten Sonnen- und Planetensystemeumzubilden und das Gesetz seiner höheren Mechanik zu erkennen.“ Vgl. auchNK 349, 29–32.350, 10Tragelaphen-Menschheit]Der Begriff ‚Tragelaph‘, der im Altgriechi-schen ein Fabeltier (Bockhirsch) bezeichnet, wird in übertragenem Sinne fürein heterogenes literarisches Werk verwendet, das sich mehreren Gattungenzuordnen lässt. – N. erweitert den Begriff über das Feld der Literatur hinausund verwendet ihn, um die Menschen seiner eigenen Epoche als Mischwesenzu charakterisieren. Diese Zeitdiagnose formuliert N., um Schopenhauer alspositives Gegenbeispiel zu profilieren: als ein „Naturwesen“, das gerade in derdekadenten Moderne durch seine homogene Ganzheit als Vorbild fungierenkann. Entsprechende Thesen finden sich in Schopenhauers SchriftUeber dieUniversitäts-Philosophiezur „Natur“ des Philosophen (PP I, Hü 209).350, 14–16ich ahnte, in ihm jenen Erzieher und Philosophen gefunden zu haben,den ich so lange suchte. Zwar nur als Buch: und das war ein grosser Mangel.]Diese Einschätzung N.s entspricht tendenziell der Auffassung Schopenhauers,der in der SchriftUeber die Universitäts-Philosophiefeststellt: „die eigentlicheBekanntschaft mit den Philosophen läßt sich durchaus nur in ihren eigenenWerken machen und keineswegs durch Relationen aus zweiter Hand [...]. Zu-dem hat das Lesen der selbsteigenen Werke wirklicher Philosophen jedenfallseinen wohlthätigen und fördernden Einfluß auf den Geist, indem es ihn inunmittelbare Gemeinschaft mit so einem selbstdenkenden und überlegenenKopfe setzt“ (PP I, Hü 208). Und in denParerga und Paralipomena IIerklärt er:Wenn „wir, von der Bewunderung eines großen Geistes, dessen Werke unseben beschäftigt haben, ergriffen, ihn zu uns heranwünschen, ihn sehn, spre-chen, und unter uns besitzen möchten; so bleibt auch diese Sehnsucht nichtunerwidert: denn auch er hat sich gesehnt nach einer anerkennenden Nach-welt, welche ihm die Ehre, Dank und Liebe zollen würde, die eine neiderfüllteMitwelt ihm verweigerte“ (PP II, Kap. 20, § 242, Hü 506–507).Allerdings erscheint Schopenhauer die Lektüre eines Buches als Ersatz füreine persönliche Bekanntschaft mit einem bewunderten großen Geist nicht alsDefizit oder gar – wie für N. – als „grosser Mangel“. So erklärt Schopenhauerin denParerga und Paralipomena IIim Kapitel „Ueber Lesen und Bücher“: „DieWerkesind dieQuintessenzeines Geistes: sie werden daher, auch wenner der größte ist, stets ungleich gehaltreicher seyn, als sein Umgang, auch die-sen im Wesentlichen ersetzen, – ja, ihn weit übertreffen und hinter sich lassen“(PP II, Kap. 24, § 296a, Hü 594). – N. selbst zieht an einer späteren Stelle von
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 35089UB III SE die erfahrungsgesättigte Menschenkenntnis einer bloßen Bücher-Ge-lehrsamkeit vor, indem er gerade am Beispiel von Schopenhauers Jugend allge-mein die „Begünstigungen“ dessen hervorhebt, „welcher nicht Bücher, son-dern Menschen kennen, nicht eine Regierung, sondern die Wahrheit verehrenlernen soll“ (408, 30–32).350, 20–21Erben [...]: nämlich seine Söhne und Zöglinge]N. überträgt den ur-sprünglich aus der genealogisch-biologischen Sphäre stammenden Begriff des‚Epigonen‘, der nach der sogenannten ‚Kunstperiode‘ der Klassik und Roman-tik von Immermann kulturkritisch umkodiert wurde und in der neuen Bedeu-tung eines unkreativen Nachahmers bei zahlreichen Zeitgenossen Verwendungfand, hier in den früheren Bedeutungszusammenhang zurück. Mit dem Pro-blem der Epigonalität im übertragenen kulturkritischen Sinne setzt sich auchN. selbst auseinander. So rät er im Kontext seiner Historismus-Kritik in UB IIHL seinen Zeitgenossen: „vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein“ (KSA 1,295, 7). Dazu und zum Epochenhorizont vgl. ausführlich NK 344, 31–34.3.350, 25–27die indische Geschichte, die beinahe die Geschichte der indischenPhilosophie ist, beweist es]Hier stellt N. einen impliziten Bezug zur PhilosophieSchopenhauers her. Im Vierten Buch seines HauptwerksDie Welt als Wille undVorstellung I/IIerhält die indische Philosophie im Kontext der Verneinung desWillens zum Leben zentrale Bedeutung. Vgl. auch Schopenhauers Vorwort zurersten Auflage derWelt als Wille und Vorstellung I. Nachdem er dem Leser vorallem die Kantische und Platonische Philosophie als Basis für die Lektüre sei-nes eigenen Werkes empfohlen hat, schreibt Schopenhauer: „Ist er aber garnoch der Wohlthat der Veda’stheilhaft geworden, deren uns durch die Upa-nischaden eröffneter Zugang, in meinen Augen, der größte Vorzug ist, den die-ses noch junge Jahrhundert vor den früheren aufzuweisen hat, indem ich ver-muthe, daß der Einfluß der Sanskrit-Litteratur nicht weniger tief eingreifenwird, als im 15. Jahrhundert die Wiederbelebung der Griechischen: hat also,sage ich, der Leser auch schon die Weihe uralter Indischer Weisheit empfangenund empfänglich aufgenommen; dann ist er auf das allerbeste bereitet zu hö-ren, was ich ihm vorgetragen habe“ (WWV I, Hü, XII). Und mittels einer Para-lipse formuliert Schopenhauer ein selbstbewusstes Understatement, indem ererklärt, dass er, „wenn es nicht zu stolz klänge, behaupten möchte, daß jedervon den einzelnen und abgerissenen Aussprüchen, welche die Upanischadenausmachen, sich als Folgesatz aus dem von mir mitzutheilenden Gedanken
90Schopenhauer als Erzieherableiten ließe, obgleich keineswegs auch umgekehrt dieser schon dort zu fin-den ist“ (WWV I, Hü XII–XIII).350, 23–31Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel als er im Standeist ein Beispiel zu geben. [...] Aber das Beispiel muss durch das sichtbare Lebenund nicht bloss durch Bücher gegeben werden, also dergestalt, wie die Philoso-phen Griechenlands lehrten, durch Miene, Haltung, Kleidung, Speise, Sitte mehrals durch Sprechen oder gar Schreiben.]Diesen Aspekt führt N. an späterer Stel-le weiter: „Die einzige Kritik einer Philosophie, die möglich ist und die auchetwas beweist, nämlich zu versuchen, ob man nach ihr leben könne, ist nieauf Universitäten gelehrt worden“ (417, 26–29). – Von der bei N. durch dasVorbild antiker Philosophen angeregten Idealvorstellung einer Einheit vonTheorie und Praxis unterscheidet sich die Auffassung Schopenhauers funda-mental, der in derWelt als Wille und Vorstellunggerade die Differenz betontund sie auch für legitim hält: Es sei „so wenig nöthig, daß der Heilige einPhilosoph, als daß der Philosoph ein Heiliger sei: so wie es nicht nöthig ist,daß ein vollkommen schöner Mensch ein großer Bildhauer, oder daß ein gro-ßer Bildhauer auch selbst ein schöner Mensch sei. Ueberhaupt ist es eine selt-same Anforderung an einen Moralisten, daß er keine andere Tugend empfeh-len soll, als die er selbst besitzt. Das ganze Wesen der Welt abstrakt, allgemeinund deutlich in Begriffen zu wiederholen, und es so als reflektirtes Abbild inbleibenden und stets bereit liegenden Begriffen der Vernunft niederzulegen:dieses und nichts anderes ist Philosophie“ (WWV I, § 68, Hü 453).351, 2–5und doch ist es nur ein Wahn, dass ein Geist frei und selbständig sei,wenn diese errungene Unumschränktheit – die im Grunde schöpferische Selbst-umschränkung ist – nicht durch jeden Blick und Schritt von früh bis Abend neubewiesen wird.]Mit dieser Spezifikation des Freiheitsbegriffs grenzt N. hier kre-ative Autonomie von bloßem laisser faire ab. Indem N. Freiheit mit Selbstbe-stimmung im Sinne bewusster „Selbstumschränkung“ korreliert, schafft er eineAffinität zu wichtigen Aspekten der stoischen Philosophie. Obwohl er später inJenseits von Gut und Bösewiederholt Vorbehalte gegenüber der stoischen„Selbst-Tyrannei“ (KSA 5, 22, 20–21) und „Bildsäulenkälte“ (KSA 5, 118, 21) for-muliert, betont er zugleich auch das kreative Potential stoischer Selbstdis-ziplin. In einer dialektischen Argumentation geht N. davon aus, dass geradeaus moralischem „Zwang“, „beschränkten Horizonten“ und selbstauferlegter„Zucht“ Freiheit, Souveränität und geistige Stärke resultieren können (KSA 5,108–109). Mit „allzugrosse[r] Freiheit“ (KSA 5, 109, 33) hingegen sieht er dieGefahr geistiger Diffusion verbunden, die zur Ursache einer unkreativen Ver-fassung werden und auf diese Weise letztlich sogar die kulturelle Weiterent-wicklung behindern kann. Da die Bündelung schöpferischer Energien eine
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 350–35191Konzentration durch „VerengerungderPerspektive“voraussetze (KSA 5,110, 1–2), erweitere eine kluge Selbstbeschränkung des Menschen in diesemSinne auch seinen geistigen Aktionsradius. Moralische Selbstformierung (etwanach Prinzipien der stoischen Philosophie) wird nach N.s Vorstellung zum un-entbehrlichen Movens kultureller Entwicklung und erhält überdies – geradeangesichts drohender Décadence und affektiver Überreizung – eine wichtigeStabilisierungsfunktion. (Vgl. dazu Neymeyr 2008c, Bd. 2, 1165–1198 und2009a, 65–92.)351, 6–7Kant hielt an der Universität fest, unterwarf sich den Regierungen]Im8. Kapitel von UB III SE ergänzt N. diese Einschätzung durch das kritische Ur-teil: „Aber schon Kant war, wie wir Gelehrte zu sein pflegen, rücksichtsvoll,unterwürfig und, in seinem Verhalten gegen den Staat, ohne Grösse: so dasser jedenfalls, wenn die Universitätsphilosophie einmal angeklagt werden soll-te, sie nicht rechtfertigen könnte“ (414, 15–19). Indem N. Kant eine devote Kom-promissbereitschaft vorwirft, unterstellt er ihm implizit ein inkonsequentesVerhalten, das den aufklärerischen Autonomie-Prinzipien seiner philosophi-schen Lehre nicht entspreche. Vgl. dazu allerdings die Hintergrundinformatio-nen in NK 414, 15–19, die N.s Behauptungen über Kants angeblichen Opportu-nismus als eine durch unzureichende Kenntnis der Schriften Kants und seinesVerhaltens als Universitätsprofessor bedingte Fehleinschätzung erweisen.N.s kritische Perspektive auf Kant in UB III SE unterscheidet sich übrigensvon dem Urteil Schopenhauers in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philoso-phie. Denn während N. behauptet, Kant habe sich durch devotes Verhaltengegenüber dem Staat als repräsentativer Vertreter der akademischen Philoso-phie erwiesen, beschreibt Schopenhauer den Philosophieprofessor Kant alseine singuläre Ausnahmeexistenz im Universitätsbetrieb: Es gehöre „zu denseltensten Fällen, daß ein wirklicher Philosoph zugleich ein Docent der Philo-sophie“ sei; laut Schopenhauer stellt „geradeKantdiesen Ausnahmsfall“ dar(PP I, Hü 151–152). In diesem Zusammenhang verweist Schopenhauer selbst je-doch zugleich auf einen aufschlussreichen Passus in derWelt als Wille undVorstellung II, der die Bedeutung des zeitgeschichtlichen Kontextes für KantsWerk hervorhebt und durch eine kritische Bemerkung zur Person Kants wohlauch N.s Perspektive auf Kant beeinflusste. Hier erklärt Schopenhauer: „DaßjedochKantzugleich von und für die Philosophie leben konnte, beruhte aufdem seltenen Umstande, daß, zum ersten Male wieder, [...] ein Philosoph aufdem Throne saß: nur unter solchen Auspicien konnte die Kritik der reinen Ver-nunft das Licht erblicken. Kaum war der König todt, so sehn wir auch schonKanten,weil er zur Gilde gehörte, von Furcht ergriffen, sein Meisterwerk inder zweiten Ausgabe modificiren, kastriren und verderben, dennoch aber baldin Gefahr kommen, seine Stelle zu verlieren“ (WWV II, Kap. 17, Hü 179).
92Schopenhauer als ErzieherIn mehrfacher Hinsicht sind die Perspektiven Schopenhauers und N.s aufKants Philosophie durch Analogien und Differenzen bestimmt (vgl. Neymeyr1995a, 225–248 und 1996a, 215–263). Dies gilt auch im Hinblick auf den StatusKants als Universitätsphilosoph. So treten Affinitäten hervor, wenn Schopen-hauer selbst seine Kant-Verehrung relativiert: In seiner SchriftUeber die Univer-sitäts-Philosophiemerkt er kritisch an, „daß auch Kants Philosophie eine groß-artigere, entschiedenere, reinere und schönere geworden seyn würde, wenn ernicht jene Professur bekleidet hätte“ (PP I, Hü 161–162). Und analog zu Scho-penhauers Einschätzung betont N. in UB III SE ebenfalls das revolutionäre Po-tential, das der Kantischen Lehre durch die Infragestellung des traditionellenWahrheitsbegriffs innewohne (355–356). – Gleichwohl erscheinen die Differen-zen in den von Schopenhauer und N. formulierten Einschätzungen fundamen-tal: Während Schopenhauer Kant mit seinen „Hauptschriften“ zur „wichtigstenErscheinung“ erklärt, „welche seit zwei Jahrtausenden in der Philosophie her-vorgetreten ist“, und deren „Wirkung“ auf kongeniale Rezipienten „der Staar-operation am Blinden gar sehr zu vergleichen“ findet (WWV I, Hü XI),behauptet N., dass Kants „Beispiel“ von Überanpassung „vor allem Universi-tätsprofessoren und Professorenphilosophie erzeugte“ (351, 9–10). Vgl. im Kon-trast dazu aber die Belegstellen in NK 414, 15–19, die N.s Opportunismus-Vor-würfe gegen Kant widerlegen, indem sie ein von Zivilcourage zeugendesVerhalten Kants gegenüber obrigkeitsstaatlichen Forderungen dokumentieren.351, 10–13Schopenhauer macht mit den gelehrten Kasten wenig Umstände, se-parirt sich, erstrebt Unabhängigkeit von Staat und Gesellschaft – dies ist seinBeispiel, sein Vorbild]Hier bezieht sich N. insbesondere auf die SchriftUeberdie Universitäts-Philosophie, in der Schopenhauer dezidiert erklärt: „Das wirkli-che Philosophiren verlangt Unabhängigkeit“ (PP I, Hü 206). „Der Wahrheit istdie Atmosphäre der Freiheit unentbehrlich“ (PP I, Hü 161). Unter diesen Prä-missen konstatiert er eine Depravation der zeitgenössischen Universitätsphilo-sophie, die den Wahrheitsanspruch bloßen Staatsinteressen unterordnet. Vonsich selbst behauptet Schopenhauer: „Ich habe dieWahrheitgesucht undnicht eine Professur“ (PP I, Hü 151–152).In seiner Kritik an der Universitätsphilosophie beleuchtet Schopenhauerzum einen die fundamentale Problematik der akademischen „Professionsphilo-sophen“ generell (PP I, Hü 182), zum anderen polemisiert er konkret gegen eini-ge zeitgenössische Repräsentanten, vor allem gegen die drei nachkantischenIdealisten Fichte, Schelling und Hegel, daneben aber auch gegen Herbart undSchleiermacher. In deutlicher Übereinstimmung mit Schopenhauers SchriftUe-ber die Universitäts-Philosophiewertet N.den Typusdesakademischen Gelehrtenin UB III SE ebenfalls ab. (Belegstellen dazu finden sich in Kapitel III.4 des Über-blickskommentars, das erstmals einen ausführlichen Vergleich dieser beiden
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 35193Schriften durchführt.) Schopenhauer und N. kritisieren Universitätsphiloso-phen, die sich auf die Interessen der Regierung, die Zwecke der Religion oder dieTendenzen des Zeitgeistes ausrichten (PP I, Hü 159; SE 425) und dadurch ihre ei-gentliche Aufgabe vernachlässigen: die kompromisslose „Wahrheitsforschung“(PP I,Hü 149,158,167,190,204;SE 411).WährendSchopenhauervorallemgegendie Vereinnahmung der Philosophie als „ancilla theologiae“ (PP I, Hü 200) undals „Apologie der Landesreligion“ polemisiert (PP I, Hü 151, 154, 159, 194, 203,204), gelten N.s Vorbehalte primär der Depravation der Universitätsphilosophiedurch Staatsinteressen (SE 365, 368, 415, 422).Auch in den radikalen Konsequenzen, die sie jeweils aus ihrer kritischenEinschätzung ziehen, stimmen Schopenhauer und N. überein: Mit Nachdruckplädieren sie für die Abschaffung (PP I, Hü 167, 192–193, 207–208; SE 421) derallzu „lukrativen Philosophie“ (PP I, Hü 159, 201), um ihre Perversion zumstaatlich subventionierten universitären ‚Brotgewerbe‘ (PP I, Hü 164, 196, 207;SE 398, 400, 411, 413) künftig zu verhindern (PP I, Hü 167) und die Würde derPhilosophie, ihr heroisches Potential und ihre produktive Gefährlichkeit wie-derherzustellen (PP I, Hü 154; SE 366, 426–427). (Zu den Unterschieden imGesamtduktus der beiden Schriften sowie zu Analogien und Differenzen beiEinzelaspekten vgl. den detaillierten Vergleich in Kapitel III.4 des Überblicks-kommentars.)Allerdings übergeht N. den (zumindest teilweise) reaktiven Charakter vonSchopenhauers SchriftUeber die Universitäts-Philosophie, deren polemischerDuktus auch vor dem Hintergrund seiner eigenen erfolglosen Versuche zuverstehen ist, sich an der Berliner Universität beruflich zu etablieren. Bekannt-lich trug zum Scheitern einer möglichen Karriere als Universitätsdozent maß-geblich die selbstbewusste Entscheidung Schopenhauers bei, seine Vorlesun-gen synchron zum Hauptkolleg über „Logik und Metaphysik“ anzukündigen,das der damals – im Gegensatz zu Schopenhauer – bereits berühmte Hegel ander Berliner Universität abhielt. Vgl. dazu detaillierter NK 406, 28–30. – Aufdiese für Schopenhauer traumatische und folgenreiche Erfahrung spielt N. inUB III SE an, wenn er mit Bezug auf die einstige Konkurrenzsituation und aufdie seit etwa 1850 einsetzende Popularität Schopenhauers betont: „ich glaubedass jetzt bereits mehr Menschen seinen Namen als den Hegels kennen“ (406,28–30).Schopenhauers Leiden an der fehlenden akademischen Anerkennungspiegelt auch seine SchriftUeber die Universitäts-Philosophiewider. Die Hal-tung der Universitätsphilosophen ihm selbst gegenüber beschreibt Schopen-hauer hier folgendermaßen: „Der Spaaß bei der Sache aber ist, daß diese Leu-te sich Philosophen nennen, als solche auch über mich urtheilen, und zwarmit der Miene der Superiorität, ja, gegen mich vornehm thun und vierzig Jah-
94Schopenhauer als Erzieherre lang gar nicht würdigten [...], mich keiner Beachtung werth haltend“ (PP I,Hü 152). – Auch die unerbittliche Schärfe von Schopenhauers Polemik vorallem gegen die (zunächst viel erfolgreicheren) Philosophen Fichte, Schellingund Hegel, die sich nicht nur in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philoso-phie, sondern auch in anderen Werken findet, lässt sich aus dem Trauma derNichtbeachtung erklären.351, 16–21Unsre Künstler leben kühner und ehrlicher; und das mächtigste Bei-spiel, welches wir vor uns sehn, das Richard Wagners, zeigt, wie der Genius sichnicht fürchten darf, in den feindseligsten Widerspruch mit den bestehenden For-men und Ordnungen zu treten, wenn er die höhere Ordnung und Wahrheit, diein ihm lebt, an’s Licht herausheben will.]Hier greift N. auf einen Aspekt derEingangspartie von UB III SE zurück: „Die Künstler allein hassen dieses lässigeEinhergehen in erborgten Manieren und übergehängten Meinungen“ (337, 21–23). Schon hier spricht N. den (pauschal genannten) Künstlern aufgrund ihrerunkonventionellen Mentalität einen im positiven Sinne ‚unzeitgemäßen‘ Son-derstatus zu. Dass sich mit dem künstlerischen Habitus auch eine Bereitschaftzur Rebellion gegen die etablierten Ordnungen und ihre Repräsentanten ver-bindet, macht N. erst später explizit, indem er diese Haltung an RichardWagner exemplifiziert (351, 16–21). Nach Schopenhauer erscheint hier bereitsWagner als zweite paradigmatische Vorbildfigur; ihm widmet sich N. inUB IV WB. – Die von N. verwendete Lichtmetaphorik findet sich wiederholtauch bei Schopenhauer, etwa dort, wo er zwischen unterschiedlichen Denker-typen differenziert: „man kann die Denker eintheilen in solche, die fürsichselbst, undsolche, die fürAnderedenken: diese sind die Regel, jene dieAusnahme. Erstere sind demnach Selbstdenker im zwiefachen, und Egoistenim edelsten Sinne des Worts: sie allein sind es, von denen die Welt Belehrungempfängt. Denn nur das Licht, welches Einer sich selber angezündet hat,leuchtet nachmals auch Andern“ (PP I, Hü 163). Zur Lichtmetaphorik bei Scho-penhauer und N. vgl. auch NK 366, 13–16 und NK 387, 7–9.351, 27–30Also: ich wollte sagen, dass die Philosophie in Deutschland es mehrund mehr zu verlernen hat, „reine Wissenschaft“ zu sein: und das gerade sei dasBeispiel des Menschen Schopenhauer.]Hier übt N. implizit Kritik an ImmanuelKant, der in der Einleitung zur zweiten Auflage derKritik der reinen Vernunftvon 1787 die „Idee einer besondern Wissenschaft“ entwirft, „dieKritik derreinen Vernunftheißen kann“ (AA 3, 42). Wenig später schreibt Kant: „DieTranscendental-Philosophie ist die Idee einer Wissenschaft, wozu die Kritik derreinen Vernunft den ganzen Planarchitektonisch,d.i.ausPrincipien, ent-werfen soll“ (ebd., 44). „Die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft ist nunin der Frage enthalten:Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 351–35295(ebd., Bd. 3, 39). Erkenntnisse „a priori“ definiert Kant als solche, die „vonaller Erfahrung unabhängig stattfinden“ (ebd., 28). Dann formuliert er eineKapitelüberschrift als These: „DiePhilosophie bedarf einer Wissen-schaft, welche die Möglichkeit, die Principien und den Um-fang aller Erkenntnisse a priori bestimme“(ebd., 30). Und schon1783 spricht Kant in seinenProlegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik,die als Wissenschaft wird auftreten könnenvon „der Metaphysik, als einer spe-culativen Wissenschaft der reinen Vernunft“ (AA 4, 371).N. betont im vorliegenden Textzusammenhang das vorbildliche Beispieldes Philosophen Schopenhauer und kontrastiert dessen Philosophie mit einervon empirischer Erfahrung abgelösten esoterisch-weltfernen Vorstellung vonWissenschaft und Philosophie. Damit schließt er an Thesen an, die er inUB III SE bereits zuvor formuliert hat (vgl. 350, 23–31). Vgl. außerdem 417, 26–29. Den existentiellen Bezug N.s zu Schopenhauer als „Vaterfigur, Vorbild,Begleiter und Gesprächspartner, Leitfigur wie Arzt und Helfer dieser frühenJahre“ betont Wachendorff 1998, 58. – Schopenhauers eigenem Philosophie-Verständnis entspricht diese Einschätzung N.s allerdings nicht. Das erhellt bei-spielsweise aus einer These in Schopenhauers Hauptwerk: „Das ganze Wesender Welt abstrakt, allgemein und deutlich in Begriffen zu wiederholen, und esso als reflektirtes Abbild in bleibenden und stets bereit liegenden Begriffen derVernunft niederzulegen: dieses und nichts anderes ist Philosophie“ (WWV I,§ 68, Hü 453). Und im Kontext dieser These, die Kants Prämissen näher stehtals der Vorstellung von Philosophie, die N. in UB III SE entwirft, beschreibtSchopenhauer die Differenz von Theorie und Praxis als legitim (ebd.). Vgl. dazuNK 350, 23–31.352, 6–12Ein neuerer Engländer schildert die allgemeinste Gefahr ungewöhnli-cher Menschen, die in einer an das Gewöhnliche gebundenen Gesellschaft leben,also: „solche fremdartige Charaktere werden anfänglich gebeugt, dann melan-cholisch, dann krank und zuletzt sterben sie. Ein Shelley würde in England nichthaben leben können, und eine Rasse von Shelley’s würde unmöglich gewesensein“.]Mit der Paraphrase „Ein neuerer Engländer“ ist Walter Bagehot (1826–1877) gemeint. N. zitiert hier aus Bagehots WerkDer Ursprung der Nationen.Betrachtungen über den Einfluß der natürlichen Zuchtwahl und der Vererbungauf die Bildung politischer Gemeinwesen(1874, 167). An späterer Stelle vonUB III SE nimmt N. explizit auf Bagehot Bezug (420, 13–14), und zwar mit ei-nem längeren Zitat, das – ganz in N.s Sinne – eine massive Kritik an den Sys-temphilosophen formuliert (420, 14–29). Percy Bysshe Shelley (1792–1822), denWalter Bagehot in N.s Zitat erwähnt, war ein englischer Schriftsteller, der inseiner Lyrik entschieden gegen Tyrannei und Unterdrückung protestierte.
96Schopenhauer als ErzieherBei der Abschrift der deutschen Übersetzung unterläuft N. im Hinblick aufden geographischen Bezug ein Zitat-Fehler, auf den Jörg Salaquarda hinweist.Bei Bagehot heißt es: „Ein Shelley würde in Neu-England [sic!] nicht habenleben können“. Vgl. dazu die Aussage in der englischen Originalausgabe: Ba-gehotsPhysics and Politics, or Thoughts on the Application of the Principle of‚Natural Selection‘ and ‚Inheritance‘ to Political Society: „societies tyranicallycustomary, uncongenial minds become first cowed, then melancholy, then outof health, and at last die. A Shelley in New England could hardly have lived,and a race of Shelley’s would have been impossible“ (The Collected Works ofWalter Bagehot, VIII vol.s, 1974 ff., Bd. VII, 100). Auch das einschränkende„hardly“ im englischen Text entfällt in der deutschsprachigen Version N.s. Vgl.dazu Salaquarda 1979, 396–397. – Kritischer als im vorliegenden Kontext vonUB III SE äußert sich N. in einem nachgelassenen Notat von 1885 über Shelley.Dort wendet er sich energisch „Gegen denfalschen Idealismus,wodurchübertriebene Feinheit sich die besten Naturen der Welt entfremden“, um dannfortzufahren: „Und daß solche Shelleys, Hölderlins, Leopardis zu Grundegehn, ist billig, ich halte gar nicht viel von solchen Menschen“ (NL 1885, 34[95], KSA 11, 451). Dieser despektierliche Gestus unterscheidet sich grundle-gend von dem empathischen Ton, mit dem N. im vorliegenden Kontext vonUB III SE auf die Fragilität und melancholische Disposition von Ausnahmeexis-tenzen wie „Shelley“ oder „Hölderlin und Kleist“ eingeht, die an „ihrer Unge-wöhnlichkeit“ zugrunde gingen (352, 10–13).In diesem Zusammenhang greift N. auch auf den seit der Antike etabliertenTopos von der Melancholie des Genies zurück, der sich in der Kulturgeschichtebis zum 19. Jahrhundert durch zahlreiche Aussagen belegen lässt, etwa von Aris-toteles und Cicero sowie Goethe und Schopenhauer als prominenten Beispielen.In derWelt als Wille und Vorstellung IIrekurriert Schopenhauer auf diesen Tradi-tionszusammenhang: „SchonAristoteleshat, nach Cicero (Tusc., I, 33), be-merkt, omnes ingeniosos melancholicos esse; welches sich, ohne Zweifel, aufdie Stelle in des Aristoteles Problemata, 30, 1, bezieht“ (WWV II, Kap. 31,Hü 438). Analoge Aussagen finden sich in SchopenhauersAphorismen zur Le-bensweisheit(PP I, Hü 346–347). Vgl. das Zitat in NK 354, 21. Anschließend zi-tiert er ein Gedicht Goethes, das mit den Versen endet: „Darum behagt demDichtergenie / Das Element der Melancholie“ (WWV II, Kap. 31, Hü 438). Undüber die Rezeption seiner eigenen Philosophie schreibt Schopenhauer: „Manhat geschrieen über das Melancholische und Trostlose meiner Philosophie“(WWV II, Kap. 46, Hü 666). – Anders akzentuiert N. die Korrelation zwischenMelancholie und Genialität, wenn er an späterer Stelle von UB III SE konsta-tiert, der Mensch sei aufgrund seiner „Begrenztheit“ von „Sehnsucht und Me-lancholie erfüllt“ und trage daher „ein tiefes Verlangen nach dem Genius in
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 35297sich. Hier ist die Wurzel aller wahren Cultur“ (358, 1–4). Zur Thematik der Geni-alität bei Schopenhauer vgl. NK 358, 29–33 und NK 386, 21–22.352, 19–23Jener geübte Diplomat, der Goethe nur überhin angesehn und ge-sprochen hatte, sagte zu seinen Freunden: Voilà un homme, qui a eu de grandschagrins! – was Goethe so verdeutscht hat: „das ist auch einer, der sich’s hatsauer werden lassen!“]Die wörtliche Übersetzung des französischen Zitats lau-tet: Hier steht ein Mann, der viel Kummer gehabt hat. – Mit dem Goethe-Zitatnimmt N. auf den kleinen AufsatzAntik und modernBezug, in dem JohannWolfgang von Goethe diese Episode mitteilt: „Bejahrten Personen fällt, aus derFülle der Erfahrung, oft bei Gelegenheit ein, was eine Behauptung erläuternund bestärken könnte; deshalb sey folgende Anekdote zu erzählen vergönnt.Ein geübter Diplomat, der meine Bekanntschaft wünschte, sagte, nachdem ermich bei dem ersten Zusammentreffen nur überhin angesehen und gespro-chen, zu seinen Freunden: Voilà un homme qui a eu de grands chagrins! DieseWorte gaben mir zu denken: der gewandte Gesichtsforscher hatte recht gese-hen, aber das Phänomen blos durch den Begriff von Duldung ausgedrückt,was er auch der Gegenwirkung hätte zuschreiben sollen. Ein aufmerksamer,gerader Deutscher hätte vielleicht gesagt: Das ist auch einer, der sich’s hatsauer werden lassen!“ (Goethe: Sämmtliche Werke in vierzig Bänden, Bd. 30,1857, 464–465). N. hat diese Seite durch ein ‚Eselsohr‘ markiert. – Der erste Teildes französischen Zitats „Voilà un homme“ kommt noch in einer anderen Epi-sode von Goethes Biographie vor: bei seiner Begegnung mit Napoleon. Auf die-se Situation nimmt N. inJenseits von Gut und BöseBezug, indem er den Ab-schnitt 209 folgendermaßen enden lässt: „Man verstehe doch endlich dasErstaunen Napoleon’s tief genug, als er Goethen zu sehen bekam: es verräth,was man sich Jahrhunderte lang unter dem ‚deutschen Geiste‘ gedacht hatte.‚Voilà un homme!‘ – das wollte sagen: ‚Das ist ja einMann!Undichhatte nureinen Deutschen erwartet!‘ –“ (KSA 5, 142, 9–14). Vgl. dazu auch Goethes eige-ne Notizen über seine Unterredung mit Napoleon am 2. Oktober 1808 und Be-richte von Zeitgenossen über dieses Ereignis (Goethe: Begegnungen und Ge-spräche, Bd. VI, 1999, 536–545).352, 23–26„Wenn sich nun in unsern Gesichtszügen, fügt er hinzu, die Spurüberstandenen Leidens, durchgeführter Thätigkeit nicht auslöschen lässt, so istes kein Wunder, wenn alles, was von uns und unserem Bestreben übrig bleibt,dieselbe Spur trägt“.]Hier setzt N. das Zitat aus Goethes kleiner SchriftAntikund modernfort (vgl. NK 352, 19–23). Bei Goethe heißt es direkt anschließend:„Wenn sich nun in unseren Gesichtszügen die Spur überstandenen Leidens,durchgeführter Thätigkeit nicht auslöschen läßt, so ist es kein Wunder, wennalles was von uns und unserem Bestreben übrig bleibt, dieselbe Spur trägt und
98Schopenhauer als Erzieherdem [sic] aufmerksamen Beobachter auf ein Daseyn hindeutet, das in einerglücklichsten Entfaltung so wie in der nothgedrungensten Beschränkung sichgleich zu bleiben und wo nicht immer die Würde, doch wenigstens die Hartnä-ckigkeit des menschlichen Wesens durchzuführen trachtete“ (Goethe: Sämmt-liche Werke in vierzig Bänden, Bd. 30, 1857, 465). Vgl. auch HA 12, 173.352, 27Bildungsphilister]N. versteht das Kompositum ‚Bildungsphilister‘ kei-neswegs nur als Spezifikation des Simplex ‚Philister‘. Das zeigen seine Begriffs-definitionen: „Das Wort Philister ist bekanntlich dem Studentenleben entnom-men und bezeichnet in seinem weiteren, doch ganz populären Sinne denGegensatz des Musensohnes, des Künstlers, des ächten Kulturmenschen. DerBildungsphilister aber [...] unterscheidet sich von der allgemeinen Idee der Gat-tung ‚Philister‘ durch Einen Aberglauben: er wähnt selber Musensohn und Kul-turmensch zu sein; ein unbegreiflicher Wahn, aus dem hervorgeht, dass er garnicht weiss, was der Philister und was sein Gegensatz ist: [...] Er fühlt sich, beidiesem Mangel jeder Selbsterkenntniss, fest überzeugt, dass seine ‚Bildung‘gerade der satte Ausdruck der rechten deutschen Kultur sei“, glaubt sogarselbst „der würdige Vertreter der jetzigen deutschen Kultur zu sein und machtdem entsprechend seine Forderungen und Ansprüche“ (KSA 1, 165, 7–26). – Inden von N. publizierten Werken kommt der Begriff ‚Bildungsphilister‘ nachUB I DS (KSA 1, 165, 6) noch fünfmal vor, davon dreimal in den unmittelbarfolgenden Schriften UB II HL (KSA 1, 326, 13–14) und UB III SE (352, 27; 401,24–25) und zweimal mit ausdrücklichem Bezug auf UB I DS inMenschliches,Allzumenschliches II(KSA 2, 370, 3–4) und inEcce homo(KSA 6, 317, 16). –Einen Prioritätsanspruch erhebt N. im Hinblick auf den Begriff ‚Bildungsphilis-ter‘, wenn er in der Vorrede zuMenschliches, Allzumenschliches IIsich selbst„die Vaterschaft des jetzt viel gebrauchten und missbrauchten Wortes ‚Bil-dungsphilister‘“ zuschreibt (KSA 2, 370, 2–4). Sogar in seiner SpätschriftEccehomovertritt er im Rückblick auf seineUnzeitgemässen Betrachtungenmit kon-kretem Bezug auf UB I DS noch die Ansicht: „das Wort Bildungsphilister istvon meiner Schrift her in der Sprache übrig geblieben“ (KSA 6, 317, 16–17). Die-ser Prioritätsanspruch N.s ist nicht berechtigt. Hierzu und zum Einfluss desromantischen Philisterbegriffs auf das Wort ‚Bildungsphilister‘ vgl. NK 165, 6(UB I DS) und NK 326, 13–14 (UB II HL).Ursprünglich stammt der Begriff des ‚Philisters‘, wie N. selbst konstatiert,aus der Studentensprache. Nach GrimmsDeutschem Wörterbuchist der Philis-ter „ein nüchterner, pedantischer, beschränkter, lederner mensch ohne sinnfür eine höhere und freiere auffassung“, mithin ein Spießbürger (DeutschesWörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 13, 1827). DasDeutsche Wörter-buchnennt auch Belege aus Werken Goethes und Heines (vgl. ebd.). Die Vor-stellung der Bildungsbeflissenheit ist durchaus auch mit dem älteren Philister-
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 35299Begriff konnotiert, doch bezeichnet dieser eher den Typus des konservativenBiedermanns. Allerdings deutet schon die romantische Verwendung des Be-griffs teilweise auf den für die Gründerzeit typischen fortschrittsoptimistischenliberalen Bürger voraus, den N. mit dem Wort ‚Bildungsphilister‘ bezeichnet.Vor dem Hintergrund der pejorativen Vorstellungen vom ‚Philister‘ ver-sucht N. Schopenhauer und sich selbst als Genies zu etablieren. Dabei schließter auch an die schon im Sturm und Drang verbreitete Antithese von ‚Genie‘und ‚Gelehrtem‘ an. – Bereits Schopenhauer verwendet den Begriff ‚Philister‘wiederholt pejorativ, besonders ausführlich in denAphorismen zur Lebensweis-heit, aber auch in der SchriftUeber die Universitäts-Philosophie, die N. inUB III SE explizit nennt (413, 418). Bei der Hervorhebung der negativen Bedeu-tungsvalenzen des Begriffs ‚Philister‘ orientiert sich N. an Schopenhauers Auf-fassung. Das erhellt auch daraus, dass er außerdem den von Schopenhauerkontrastiv zu ‚Philister‘ gebrauchten Begriff ‚Musensohn‘ aus dessen Definitionübernimmt. Allerdings ist der Begriff ‚Bildungsphilister‘ bei N. stärker kultur-kritisch konnotiert.Schopenhauer thematisiert den Typus des Philisters auch in seinenApho-rismen zur Lebensweisheitim Kapitel II „Von Dem, was Einer ist“. Hier betonter, „daß der Mensch, welcher, in Folge des streng und knapp normalen Maaßesseiner intellektuellen Kräfte,keine geistige Bedürfnisse hat,eseigent-lich ist, den ein der deutschen Sprache ausschließlich eigener, vom Studenten-leben ausgegangener, nachmals aber in einem höheren, wiewohl dem ur-sprünglichen, durch den Gegensatz zum Musensohne, immer noch analogenSinne gebrauchter Ausdruck als denPhilisterbezeichnet“ (PP I, Hü 364).Schopenhauer definiert den ‚Philister‘ als einen Menschen „ohne geistigeBedürfnisse“, derinfolgedessen auch „ohne geistigeGenüssebleibt [...].Kein Drang nach Erkenntniß und Einsicht, um ihrer selbst Willen, belebt seinDaseyn, auch keiner nach eigentlich ästhetischen Genüssen [...]. Wirkliche Ge-nüsse für ihn sind allein die sinnlichen: durch diese hält er sich schadlos“(PP I, Hü 365). Geselliger Zeitvertreib reicht „gegen die Langeweile nicht aus,wo Mangel an geistigen Bedürfnissen die geistigen Genüsse unmöglich macht.Daher auch ist dem Philister ein dumpfer, trockener Ernst, der sich dem thieri-schen nähert, eigen und charakteristisch. Nichts freut ihn, nichts erregt ihn,nichts gewinnt ihm Antheil ab. Denn die sinnlichen Genüsse sind bald er-schöpft; die Gesellschaft, aus eben solchen Philistern bestehend, wird baldlangweilig [...]. Allenfalls bleiben ihm noch die Genüsse der Eitelkeit, nach sei-ner Weise, welche denn darin bestehn, daß er an Reichthum, oder Rang, oderEinfluß und Macht, Andere übertrifft“ (PP I, Hü 365). Menschen von überlege-ner Intellektualität erregen laut Schopenhauer „seinen Widerwillen, ja, seinenHaß [...]; weil er dabei nur ein lästiges Gefühl von Inferiorität, und dazu einen
100Schopenhauer als Erzieherdumpfen, heimlichen Neid verspürt, den er aufs Sorgfältigste versteckt, indemer ihn sogar sich selber zu verhehlen sucht [...]. Ein großes Leiden aller Philis-ter ist, daßIdealitätenihnen keine Unterhaltung gewähren, sondern sie,um der Langenweile zu entgehn, stets derRealitätenbedürfen“ (PP I,Hü 366).Diese charakteristische Verbindung von geistiger Mediokrität mit Phlegma,Missgunst und Ressentiment, durch die Schopenhauer den Philister gekenn-zeichnet sieht, weist zum einen auf N.s Definition des ‚Bildungsphilisters‘ vo-raus, in der eine bornierte Selbstzufriedenheit stärker akzentuiert ist als beiSchopenhauer, zum anderen auf N.s spätere Konzepte des Herdenmenschenund des Ressentiments. – Zum Gegensatz zwischen Genie und Philister vgl.WWV II, Kap. 31, Hü 453. Weitere Belege zum ‚Philister‘ bei Schopenhauer:WWV II, Kap. 38, Hü 507; PP I, Hü 384; PP II, Kap. 1, § 21, Hü 20; PP II, Kap. 23,§ 283, Hü 567. In seiner SchriftUeber die Universitäts-PhilosophieverwendetSchopenhauer auch den pejorativen Begriff ‚Philisterei‘ (PP I, Hü 158, 164) –etwa wenn er die Gefahr betont, dass man „den philosophischen Hörsaal ineine Schule der plattesten Philisterei umschafft“ (PP I, Hü 164). Vgl. auch PP II,Kap. 9, § 123, Hü 258 und WWV II, Kap. 12, Hü 136. Den „ekelhaften Hegeljar-gon“ macht Schopenhauer dafür verantwortlich, dass „die platteste, philister-hafteste, ja niedrigste Gesinnung an die Stelle der edlen und hohen Gedanken“tritt (PP I, Hü 177).352, 34 – 353, 8Nun hatte der arme Schopenhauer auch so eine geheime Schuldauf dem Herzen, nämlich seine Philosophie mehr zu schätzen als seine Zeitgenos-sen; und dazu war er so unglücklich, gerade durch Goethe zu wissen, dass erseine Philosophie, um ihre Existenz zu retten, um jeden Preis gegen die Nichtbe-achtung seiner Zeitgenossen vertheidigen müsse; denn es giebt eine Art Inquisiti-onscensur, in der es die Deutschen nach Goethe’s Urtheil weit gebracht haben;es heisst: unverbrüchliches Schweigen.]Eigentlich bezeichnet der Begriff ‚Inqui-sition‘ Untersuchungsorgane bestimmter Institutionen (z. B. der katholischenKirche), welche die Einhaltung von Vorschriften überwachen und über Ab-weichler Sanktionen verhängen. Besondere Bekanntheit erlangten die Inquisi-tionsprozesse gegen religiöse ‚Häretiker‘. – Indem N. hier „unverbrüchlichesSchweigen“ als „eine Art Inquisitionscensur“ charakterisiert, zitiert er (wieauch in 353, 17) aus Schopenhauers SchriftUeber den Willen in der Natur: „Ach-selträgerei und Augendienerei sind an der Tagesordnung, Tartüffiaden werdenohne Schminke aufgeführt, ja Kapuzinaden ertönen von der den Wissenschaf-ten geweihten Stätte: das ehrwürdige Wort Aufklärung ist eine Art Schimpfwortgeworden, die größten Männer des vorigen Jahrhunderts, Voltaire, Rousseau,Locke, Hume, werden verunglimpft, diese Heroen, diese Zierden und Wohlthä-ter der Menschheit [...]. Litterarische Faktionen und Brüderschaften auf Tadel
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 352101und Lob werden geschlossen, und nun wird das Schlechte gepriesen und aus-posaunt, das Gute verunglimpft, oder auch, wieGoethesagt, ‚durch einunverbrüchliches Schweigen sekretirt, in welcher Art vonInquisitionscensur es die Deutschen weit gebracht haben‘(Tag- und Jahreshefte, J. 1821)“ (Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik,Hü 16–17). – Schopenhauer zitiert in dieser Passage nicht präzise aus autobio-graphischen Aussagen in GoethesTag- und Jahresheftenvon 1821. Hier äußertsich Goethe folgendermaßen über das BuchSpanien und die Revolutioneinesvielgereisten Autors: „Seine Art zu schauen und zu denken sagt dem Zeitgeistnicht zu; daher sekretiert dieser das Buch durch ein unverbrüchliches Schwei-gen, in welcher Art von Inquisitionszensur es die Deutschen weit gebracht ha-ben“ (Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. MünchnerAusgabe, Bd. 14, 1986, 304).Außerdem spielt N. hier auch auf andere Aussagen Schopenhauers an, diesein Leiden an mangelnder öffentlicher Resonanz und an fehlender Anerken-nung für sein Werk offenbaren. An späterer Stelle von UB III SE greift N. dieseThematik nochmals auf (406, 9 – 407, 4). – In der SchriftUeber die Universitäts-Philosophieäußert sich Schopenhauer folgendermaßen über missgünstige Zeit-genossen: „je mehr Verdienst seine Sache hat, desto mehr wird sie, nicht ihreBewunderung, sondern ihren Groll erregen; desto determinirteren passivenWiderstand werden sie ihr entgegenstellen, also mit desto hämischerem Schwei-gen sie zu ersticken suchen [...], damit nur die ihnen verhaßte Stimme der Ein-sicht und Aufrichtigkeit nicht durchdringe“ (PP I, Hü 202). Schopenhauer be-trachtet sich selbst als ein Opfer dieser „Taktik des passiven Widerstandes“ (PP I,Hü 200): Denn „durch die gänzliche Nichtbeachtung meiner Werke haben sie anden Tag zu legen vermeint, was ich sei (wiewohl sie gerade dadurch an den Taggelegt haben, was sie sind)“ (PP I, Hü 200). Die Begriffe „Nichtbeachtung“ und„Schweigen“ verwendet in diesem Kontext auch N. (353, 5, 8).Ein solches Verhalten als probate Strategie zur „Unterdrückung“ bedeuten-der Leistungen wurde laut Schopenhauer schon vom „altenSeneka“[sic] di-agnostiziert: Er spricht in seinenEpistulae moralesvom „silentium, quodlivorindixerit“, also vom Schweigen, das der Neid auferlegt (PP I, Hü 160). Vgl. auchPP I, Hü 152, 160, 171, 175, 196. Die Strategie philosophischer Konkurrenten, diedarauf zielt, die Wirksamkeit seines Werkes durch beharrliches Schweigen zuboykottieren, bezeichnet Schopenhauer als ‚Sekretieren‘ (PP I, Hü 196): Seinervon der Norwegischen Societät der Wissenschaften am 26. Januar 1839 ge-krönten PreisschriftUeber die Freiheit des Willensbegegnete man laut Scho-penhauer „mit dem passiven Widerstande [...]: sie ist aufs strengste sekretirt“und wird „comme non avenue angesehn“ wie „alle meine Werke. Meine Phi-losophie interessirt eben die Herren nicht: das kommt aber daher, daß die
102Schopenhauer als ErzieherErgründung der Wahrheit sie nicht interessirt“ (PP I, Hü 196). Vgl. ergänzendNK 353, 17 (auch zum Ausdruck ‚Sekretieren‘).353, 10Makulatur]1. beim Druckvorgang schadhaft gewordener und fehler-hafter Bogen, wieder einzustampfender Fehldruck, 2. Altpapier. Aus dem Kon-text geht hervor, dass N. hier letzteres meint.353, 17„legor et legar“]Lateinisches Wortspiel mit Gegenwarts- und Zukunfts-bezug: Ich werde gelesen, und ich werde gelesen werden. Dieses selbstbewuss-te Diktum Schopenhauers zitiert N. aus der zweiten Vorrede der SchriftUeberden Willen in der Natur(Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik, Hü XIII):Nachdem Schopenhauer jahrzehntelang unter dem Mangel an öffentlicherResonanz gelitten hatte, erlebte er gegen Ende seines Lebens noch seine wach-sende Bekanntheit. Dadurch sah er sich veranlasst, über die Philosophieprofes-soren, die er für seine Gegner hielt, wortreich zu triumphieren. Im Anschlussan eine Bemerkung zum aktuellen Publikumsinteresse „an der Philosophie“versetzt sich Schopenhauer mit ironischem Gestus in die Mentalität seiner ver-meintlichen Widersacher: „Nichtsdestoweniger habe ich den Philosophiepro-fessoren eine betrübte Nachricht mitzutheilen. Ihr Kaspar Hauser [...], den sie,beinahe vierzig Jahre hindurch, von Licht und Luft so sorgfältig abgesperrtund so fest eingemauert hatten, daß kein Laut sein Daseyn der Welt verrathenkonnte, – ihr Kaspar Hauser ist entsprungen! ist entsprungen und läuft in derWelt herum; – Einige meinen gar, es sei ein Prinz. – Oder, in Prosa zu reden:was sie über Alles fürchteten, daher mit vereinten Kräften und seltener Stand-haftigkeit, mittelst eines so tiefen Schweigens, so einträchtigen Ignorirens undSekretirens, wie es noch nie dagewesen, über ein Menschenalter hinaus, glück-lich zu verhüten gewußt haben, – dies Unglück ist dennoch eingetreten: manhat angefangen, mich zu lesen, – und wird nun nicht wieder aufhören. Legoret legar: es ist nicht anders. Wahrlich schlimm und höchst ungelegen; ja, einerechte Fatalität, wo nicht gar Kalamität. Ist Dies der Lohn, für so viel treue,traute Schweigsamkeit? für so festes, einträchtiges Zusammenhalten? Bekla-genswerthe Hofräthe!“ (Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik, Hü XII–XIII). – Von der Strategie des Schweigens oder ‚Sekretierens‘ als probatem Mit-tel, um philosophische Leistungen und ihre Urheber jahrzehntelang zu unter-drücken, ist mehrfach auch in Schopenhauers SchriftUeber die Universitäts-Philosophiedie Rede: vgl. PP I, Hü 152, 196 und weitere Belege in NK 352, 34 –353, 8.InEcce homogreift N. in autobiographischem Kontext auf SchopenhauersDiktum zurück, um es grimmig umzukehren: „Wiekönnteich, mitdiesemGefühle der Distanz, auch nur wünschen, von den ‚Modernen‘, die ich kenne –,gelesen zu werden! – Mein Triumph ist gerade der umgekehrte, als der Scho-
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 353103penhauer’s war, – ich sage: ‚non legor, non legar‘.“ (KSA 6, 299, 5–9.) Zuvorbetont N. in diesemEcce-homo-Kapitel „Warum ich so gute Bücher schreibe“die eigene, die Rezeption seiner Werke behindernde ‚Unzeitgemäßheit‘: „Ichselber bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum geboren“ (KSA 6,298, 7–8).Obwohl N. das lateinische Diktum Schopenhauers inEcce homonur in ne-gierter Form auf sich selbst beziehen will, lässt sich feststellen, dass die Zu-kunftsorientierung seines programmatischen Ideals der Unzeitgemäßheit nichtnur in UB III SE, sondern in allen vierUnzeitgemässen Betrachtungenvon Auf-fassungen Schopenhauers maßgeblich geprägt ist. Entsprechendes gilt für daskomplementäre Verhältnis einer so verstandenen Unzeitgemäßheit zur kriti-schen Gegenwartsdiagnose. Im 20. Kapitel „Ueber Urtheil, Kritik, Beifall undRuhm“ derParerga und Paralipomena IIargumentiert Schopenhauer mit analo-ger Grundtendenz: Während die „Werke gewöhnlichen Schlages [...] mit demGeiste der Zeit, d h. den gerade herrschenden Ansichten, genau verbundenund auf das Bedürfniß des Augenblicks berechnet“ sind, trifft dies auf die „au-ßerordentlichen Werke“ nicht zu, „welche bestimmt sind, der ganzen Mensch-heit anzugehören und Jahrhunderte zu leben“; denn diese sind „bei ihrem Ent-stehn, zu weit im Vorsprung, eben deshalb aber der Bildungsepoche und demGeiste ihrer eigenen Zeit fremd. Sie gehören diesen nicht an, sie greifen inihren Zusammenhang nicht ein, gewinnen also den darin Begriffenen kein In-teresse ab. Sie gehören eben einer andern, einer höhern Bildungsstufe undeiner noch fern liegenden Zeit an“ (PP II, Kap. 20, § 242, Hü 504). Die Konse-quenzen für die Rezeption erläutert Schopenhauer so: „Die ausgezeichnetenGeister dringen selten bei Lebzeiten durch; weil sie im Grunde doch bloß vonden ihnen schon verwandten ganz und recht eigentlich verstanden werden“;daher „wird die Reise zur Nachwelt durch eine entsetzlich öde Gegend zurück-gelegt“ (PP II, Kap. 20, § 242, Hü 505). Bei N. wie bei Schopenhauer ist die mitdem Ideal der Unzeitgemäßheit verbundene Zukunftsorientierung wesentlichauch biographisch motiviert: durch das Leiden an fehlender Resonanz der ei-genen Werke in der Gegenwart.353, 20–23so quälte ihn die Sorge, sein kleines Vermögen zu verlieren und viel-leicht seine reine und wahrhaft antike Stellung zur Philosophie nicht mehr fest-halten zu können]Schopenhauer lebte als Privatgelehrter vom Erbe des Vaters(vgl. in UB III SE auch 409, 5–13). Die Bedeutung ökonomischer Unabhängig-keit nach dem Modell antiker Philosophen betont Schopenhauer in seinerSchriftUeber die Universitäts-Philosophie: „Das Geldverdienen mit der Philoso-phie war und blieb, bei den Alten, das Merkmal, welches den Sophisten vomPhilosophen unterschied. Das Verhältniß der Sophisten zu den Philosophenwar demnach ganz analog dem zwischen den Mädchen, die sich aus Liebe
104Schopenhauer als Erzieherhingegeben haben, und den bezahlten Freudenmädchen“ (PP I, Hü 164). Indiesem Sinne argumentiert N. auch in 411, 24–27: „Freiheit und immer wiederFreiheit: dasselbe wunderbare und gefährliche Element, in welchem die grie-chischen Philosophen aufwachsen durften.“ Schopenhauer erklärt in seinerSchriftUeber die Universitäts-Philosophiedezidiert: „Der Wahrheit ist die Atmo-sphäre der Freiheit unentbehrlich“ (PP I, Hü 161). „Das wirkliche Philosophie-ren verlangt Unabhängigkeit“ (PP I, Hü 206).353, 32Vereinsamung]Die Einsamkeit ist bei Schopenhauer ein wichtiges Mo-tiv. Auch in N.s Werken und Briefen spielt die Einsamkeit eine besondere Rolle.InMenschliches, Allzumenschliches Ischreibt N. bezeichnenderweise in einemText mit dem Titel „Von denFreunden“: „wievereinsamt ist jederMensch!“ (KSA 2, 263, 5). In derFröhlichen Wissenschaftfindet sich ein Gedichtmit dem TitelDer Einsame(KSA 3, 360). Und eine nachgelassene Notiz N.s ausdem Sommer 1888 lautet: „einsame Tage, / ihr wollt auf tapferen Füßen gehn!“(NL 1888, 20 [78], KSA 13, 563).Schopenhauer bezeichnet die Einsamkeit wiederholt als das Los aller her-vorragenden Geister. Im Kapitel „Paränesen und Maximen“ derAphorismen zurLebensweisheitschreibt er: „Ganz erselbst seyndarf Jeder nur so lange erallein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit:denn nur wann man allein ist, ist man frei. Zwang ist der unzertrennliche Ge-fährte jeder Gesellschaft, und jede fordert Opfer, die um so schwerer fallen, jebedeutender die eigene Individualität ist. Demgemäß wird Jeder in genauerProportion zum Werthe seines eigenen Selbst die Einsamkeit fliehen, ertragen,oder lieben. Denn in ihr fühlt der Jämmerliche seine ganze Jämmerlichkeit, dergroße Geist seine ganze Größe, kurz, Jeder sich als was er ist. Ferner, je höherEiner auf der Rangliste der Natur steht, desto einsamer steht er, und zwar we-sentlich und unvermeidlich“ (PP I, Hü 447). Analog: WWV I, § 39, Hü 240. DieLiebe zur Einsamkeit betrachtet Schopenhauer sogar als Indikator für den in-tellektuellen Wert eines Menschen. Vor allem betont er den Hang des Genieszur Einsamkeit. Geistige Eminenz führe notwendigerweise zur Ungeselligkeit.Schopenhauer konstatiert, „daß das Genie wesentlich einsam lebt. Es ist zuselten, als daß es leicht auf seines Gleichen treffen könnte, und zu verschiedenvon den Uebrigen, um ihr Geselle zu sein“ (WWV II, Kap. 31, Hü 446). – DerEinsamkeitstopos, auf den Schopenhauer zurückgreift, ist zugleich auch einwesentlicher Bestandteil der romantischen Genieästhetik.354, 1–3die Philosophie eröffnet dem Menschen ein Asyl, wohin keine Tyranneidringen kann, die Höhle des Innerlichen, das Labyrinth der Brust]Hier verbindetN. das Zitat aus einem Gedicht Goethes mit der Anspielung auf das berühmte‚Höhlengleichnis‘, das Platon in einem erkenntnistheoretischen Kontext seiner
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 353–354105Politeiaentwirft. Zum Status des ‚Höhlengleichnisses‘ in der Platonischen Phi-losophie vgl. ausführlich NK 376, 2. – In UB III SE findet sich das Motiv derHöhle mehrmals, etwa in 354, 2, in 354, 26 und in 359, 30 sowie (besondersdeutlich als Anspielung auf Platons ‚Höhlengleichnis‘) in 356, 13–15. Spätergreift N. implizit auch in derFröhlichen Wissenschaftauf Platons ‚Höhlen-gleichnis‘ zurück (vgl. KSA 3, 467, 5–9). InAlso sprach Zarathustraentwirft N.im Anschluss an Platons Allegorie auch selbst Höhlenausgänge: Seinen Prota-gonisten Zarathustra lässt er aus einer Höhle vom Berg zu den Menschen he-rabsteigen, um ihnen seine Botschaft zu verkünden.Die letzte Strophe in Goethes GedichtAn den Mondlautet in der früheren(vermutlich am 11. August 1777 entstandenen) Fassung: „Was den Menschenunbewußt / Oder wohl veracht / Durch das Labyrinth der Brust / Wandelt inder Nacht“ (Goethe: FA, Bd. 1, 235). In der späteren Fassung des Ersten Weima-rer Jahrzehnts lautet die Schlussstrophe so: „Was von Menschen nicht ge-wußt, / Oder nicht bedacht, / Durch das Labyrinth der Brust / Wandelt in derNacht“ (ebd., 302). Die von N. nur zwei Zeilen später thematisierte „Gefahr derEinsamen“ (354, 5) klingt auch in Goethes GedichtAn den Mondan und er-scheint in V. 12 der späteren Version sogar explizit: „In der Einsamkeit“ (ebd.,301). Zum Faszinosum wird das „Labyrinth des Daseins“ in FW 322, wo N. als„die tiefsten“ Denker diejenigen betrachtet, die „in sich wie in einen ungeheu-ren Weltraum“ hineinsehen (KSA 3, 552, 12–16).354, 13–16Sie wissen, diese Einsamen und Freien im Geiste, – dass sie fortwäh-rend irgend worin anders scheinen als sie denken: während sie nichts als Wahr-heit und Ehrlichkeit wollen]Diese Formulierung antizipiert den für N. später sowichtigen Typus des ‚freien Geistes‘. Als Strategie gegen die kulturelle Depra-vation seiner Gegenwart formuliert er in UB III SE die Aufgabe, „die freien Geis-ter und die tief an unsrer Zeit Leidenden mit Schopenhauer bekannt zu ma-chen“ (407, 7–8). – Außerdem bringt er hier Freiheit und Wahrheit in eineKorrelation, die an die SchriftUeber die Universitäts-Philosophiedenken lässt:Hier betrachtet Schopenhauer „die Atmosphäre der Freiheit“ als conditio sinequa non für die „Wahrheit“ (PP I, Hü 161). Vgl. ergänzend NK 346, 12–14.354, 20–21eine Wolke von Melancholie auf ihrer Stirne]Zwar bezieht N. dieseMetapher im näheren Kontext generell auf die „Einsamen und Freien im Geis-te“ (354, 13–14), aber implizit ist immer auch konkret Schopenhauer mitge-meint. – Dass die Melancholie schon seit Aristoteles geradezu topisch mit demGenie verbunden wird, betont (unter Rekurs auf Cicero) bereits Schopenhauerin derWelt als Wille und Vorstellung(WWV II, Kap. 31, Hü 438). Vgl. das Zitatin NK 352, 6–12. Analoge Aussagen finden sich im 2. Kapitel derAphorismenzur Lebensweisheit. Hier gibt Schopenhauer eine physiologische Erklärung derMelancholie: „Abnormes Übergewicht der Sensibilität wird Ungleichheit der
106Schopenhauer als ErzieherStimmung, periodische übermäßige Heiterkeit und vorwaltende Melancholieherbeiführen. Weil nun auch das Genie durch ein Übermaß der Nervenkraft,also der Sensibilität bedingt ist; so hat Aristoteles ganz richtig bemerkt, daßalle ausgezeichnete und überlegene Menschen melancholisch seien“ (PP I,Hü 346–347). Im Anschluss an das griechische Zitat aus den pseudo-aristoteli-schenProblemata(30, 1) fährt Schopenhauer fort (PP I, Hü 347): „Ohne Zweifelist dieses die Stelle, welche Cicero im Auge hatte, bei seinem oft angeführtenBericht: Aristoteles ait, omnes ingeniosos melancholicos esse (Tusc. I, 33).“Schopenhauer selbst schafft in derWelt als Wille und Vorstellungeinenkonkreten autobiographischen Bezug, indem er die negative Reaktion der Zeit-genossen auf seine pessimistische Weltanschauung so beschreibt: „Man hatgeschrieen über das Melancholische und Trostlose meiner Philosophie [...]“(WWV II, Kap. 46, Hü 666). Auch wenn Schopenhauer dieses Negativetikett an-schließend in Frage stellt, indem er gerade den Pessimismus seiner Philoso-phie als realistisch, die Optimisten hingegen als naiv betrachtet, steht hier zu-gleich doch auch die traditionelle Verbindung von Genialität und Melancholieseit der Antike im Hintergrund (vgl. dazu NK 352, 6–12). Zur Thematik der Geni-alität bei Schopenhauer vgl. NK 358, 29–33 und NK 386, 21–22.354, 25–26Sie kommen aus ihrer Höhle heraus]Vgl. NK 354, 1–3.355, 8–10Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden Denker,welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt]Diese existenti-elle Problematik exemplifiziert N. wenig später durch Kleist (355, 27 – 356, 11).Vgl. dazu NK 355, 29 – 356, 8.355, 17–19Zwar soll [...] seit der That dieses stillen Gelehrten auf allen geistigenGebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht glauben.]Hier spielt N. auf die ‚Kopernikanische Wende‘ an, die Kant durch die von ihmin derKritik der reinen Vernunftentworfene Erkenntnistheorie eingeleitet hat.Kant vertritt hier die Auffassung, dass sich die Gegenstände nach der Erkennt-nis richten müssen (nicht umgekehrt). N.s Vorbehalt bezieht sich an dieserStelle nicht auf das revolutionäre Potential der Kantischen Lehre selbst, diedurch die Suspendierung des traditionellen Wahrheitsbegriffs Zeitgenossenwie (vorgeblich) Heinrich von Kleist fundamental zu „erschüttern“ vermochte(355, 33), sondern lediglich auf deren Depravation in inferioren Köpfen: Die„populäre Wirkung“ der Kantischen Philosophie hält N. für problematisch,wenn sie lediglich „in der Form eines zernagenden und zerbröckelnden Skepti-cismus und Relativismus“ (355, 22–24) Ausdruck findet oder gar zu einem„müssigen Scepticismus“ degeneriert (419, 24–25).Gerade bei „den thätigsten und edelsten Geistern“ (355, 25) bewertet N. dienachhaltige Wirkung der Kant-Lektüre positiv: So habe Kleist eine existentielle
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 354–355107„Erschütterung und Verzweiflung an aller Wahrheit“ erlitten (355, 27). Aller-dings vermutet N., dass „nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig einge-griffen“ hat (355, 15–16). Sein Urteil über die Bedeutung Kants zeigt Affinitätenzu Schopenhauers Feststellung in der SchriftUeber die Universitäts-Philoso-phie: „Kant ist vielleicht der originellste Kopf, den jemals die Natur hervorge-bracht hat“ (PP I, Hü 181). In der Kantischen Transzendentalphilosophie siehtSchopenhauer „die wichtigste Lehre, welche seit 2000 Jahren aufgestellt wor-den“ ist (PP I, Hü 180, 181). Für einen fatalen Irrtum hält er die Anmaßung der„drei Sophisten“ (PP I, Hü 195, 179) Fichte, Schelling, Hegel und ihrer Anhän-ger, „Kants mühsälige Vorarbeit“ durch die eigenen Werke überboten zu haben(PP I, Hü 179). Diese Hybris führte laut Schopenhauer zur Verdrängung Kants,einer „Weltepoche in der Philosophie“ (PP I, Hü 191), und damit zum „Rück-schritt vom größten Fortschritt, den jemals die Philosophie gemacht“ hat (PP I,Hü 182). Dieser „philosophische Skandal“ der „letzten 50 Jahre“ (PP I, Hü 191)ist nach Schopenhauers Überzeugung durch die Universitäten und die akade-mische Philosophie überhaupt erst möglich geworden. Zur Bedeutung Kantsvgl. ergänzend auch PP I, Hü 197–200.355, 24Skepticismus und Relativismus]Während der absolute Skeptizismusjede Möglichkeit einer verlässlichen Erkenntnis der Wirklichkeit negiert undauch die sinnliche Wahrnehmung als Basis von Erfahrung in Frage stellt, be-zweifelt der relative Skeptizismus lediglich die Erkenntnismöglichkeiten in be-stimmten Bereichen, etwa in der Theologie oder in der Ethik. Die Vertreter desRelativismus setzen die Möglichkeit von Erkenntnis jeweils nur innerhalb be-stimmter Rahmenbedingungen voraus, die sich auch durch den historischenNormenwandel verändern können. Unter diesen Prämissen negieren sie abso-lute Geltungsansprüche sowohl in der theoretischen als auch in der prakti-schen Philosophie. Kant setzt in seiner Transzendentalphilosophie die skepti-sche Methode ein, um die Vernunft von jedem Dogmatismus zu befreien und‚Kritik‘ im Sinne einer fundierten Unterscheidung zu ermöglichen.355, 29 – 356, 8„Vor Kurzem [...] wurde ich mit der Kantischen Philosophiebekannt [...]. – Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen,wahrhaft Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint. Ist’s das Letztere, so ist dieWahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles Bestreben,ein Eigenthum zu erwerben, das uns auch noch in das Grab folgt, ist vergeblich. –Wenn die Spitze dieses Gedankens dein Herz nicht trifft, so lächle nicht übereinen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt.Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken und ich habe keines mehr.“]N.zitiert hier (mit Kürzungen und nicht ganz korrekt) aus einem Brief, den Hein-rich von Kleist am 22. März 1801 an seine Braut Wilhelmine von Zenge richtete.
108Schopenhauer als ErzieherDieses bekannte Dokument hat die sogenannte ‚Kantkrise‘ Kleists zum Thema.Einleitend erklärt Kleist, er habe den „beiden Zwecken, Wahrheit zu sammeln,u Bildung mir zu erwerben, diekostbarstenOpfer“ gebracht, da ihm diese Ziele„so heilig“ waren. Vor diesem Hintergrund betont er dann seine existentielleErschütterung durch die Einsicht in die fundamentalen erkenntnistheoreti-schen Konsequenzen der Kantischen Transzendentalphilosophie: „Vor kurzemward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt – uDir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mittheilen, indem ich nicht fürchtendarf, daß er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich. Auchkennst Du das Ganze nicht hinlänglich, um sein Interesse vollständig zu be-greifen. [...] Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so wür-den sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken,sindgrün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dingezeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen,sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht ent-scheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob esuns nur so scheint. Ist das letzte, soistdie Wahrheit, die wir hier sammeln,nach dem Tode nicht mehr – u alles Bestreben, ein Eigenthum sich zu erwer-ben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich – Ach, Wilhelmine, wenndie Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einenAndern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Meineinziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr –Seit diese Überzeugung, nämlich, daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist,vor meine Seele trat, habe ich nicht wieder ein Buch angerührt“ (Kleist: Briefe,1997, 205).Einen Tag später, am 23. März 1801, schreibt Kleist in diesem Sinne auchan seine Schwester Ulrike von Kleist: „Der Gedanke, daß wir hienieden vonder Wahrheit nichts, gar nichts, wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nen-nen, nach dem Tode ganz anders heißt, u daß folglich das Bestreben, sich einEigenthum zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ganz vergeblich ufruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligthum meiner Seele erschüt-tert – MeineinzigesuhöchstesZiel ist gesunken, ich habe keines mehr. Seitdemeckelt mich vor den Büchern, ich lege die Hände in den Schoß, und suche einneues Ziel, dem mein Geist, froh-beschäfftigt [sic], von Neuem entgegenschrei-ten könnte. Aber ich finde es nicht“ (ebd., 207–208). Allerdings leitet Kleistdiese Schilderung durch eine Bemerkung ein, die zugleich bereits eine gewisseDistanz zu der von ihm als existentiell dargestellten Problematik signalisiert:„Es scheint, als ob ich eines von den Opfern der Thorheit werden würde, derendie Kantische Philosophie so viel auf das [sic] Gewissen hat“ (ebd., 207).In der Kleist-Forschung wurden unterschiedliche Positionen zur sogenann-ten ‚Kantkrise‘ Kleists im Frühjahr 1801 formuliert: Einerseits nahm man tat-
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 355109sächlich eine existentielle ‚Kantkrise‘ mit Bezug zum erkenntnistheoretischenPerspektivismus oder zur moralphilosophischen Skepsis an und entwickelteauf dieser Basis Hypothesen, welche Werke (u. a. von Kant, Fichte und Rein-hold) als akute Ursachen für Kleists intellektuelle Krisensituation fungiert ha-ben könnten (vgl. Greiner 2009, 206–208). Andererseits jedoch wurde die ver-meintliche ‚Kantkrise‘ Kleists durch eine Analyse seiner Briefe in Zweifelgezogen und als bloße Inszenierung des Autors selbst verstanden, der sich vonseinen wissenschaftlichen Studien bereits Monate vor der behaupteten ‚Kant-krise‘ abgewandt habe und dies keineswegs aufgrund von erkenntniskritischenReflexionen, sondern aus pragmatischen Vorbehalten gegen berufliche Festle-gungen und jedwede Einengung durch ein wissenschaftliches Spezialistentum.So habe Kleist für seine Neuorientierung durch die Entscheidung für dieSchriftsteller-Existenz dann lediglich eine Legitimation durch eine anerkannteAutorität gesucht und in diesem Zusammenhang anders motivierte innere Pro-zesse bloß suggeriert (vgl. dazu Jochen Schmidt 2003, 12–16). Zum Perspektivis-mus bei N. vgl. Claus Zittel, NH 2000a, 299–301.Dass N. im vorliegenden Kontext die Argumentation Kleists nicht hinter-fragt, hängt auch mit seiner eigenen Darstellungsstrategie zusammen: Über dieerkenntnistheoretischen Implikationen der Kant-Rezeption weist N.s Deutungder brieflichen Äußerungen Kleists hinaus. Denn sie dient ihm hier auch dazu,eine existentielle Bedeutung der Philosophie zu propagieren, deren „Sinn“ derMensch jeweils an seinem „heiligsten Innern“ prüfen soll (356, 9–11) – so N. inAnlehnung an Kleists Formulierung. Insofern erhebt N. die sogenannte ‚Kant-krise‘ Kleists zum Paradigma einer ‚natürlichen‘ Reaktion auf philosophischeGedanken (356, 9). Zugleich repräsentiert Kleist für N. die „Verzweiflung ander Wahrheit“, die „Gefahr“ für „jeden Denker, welcher von der KantischenPhilosophie aus seinen Weg nimmt“ (355, 8–10). In seiner SchriftUeber dieUniversitäts-Philosophiespricht bereits Schopenhauer dem „AlleszermalmerKant“ (PP I, Hü 182) eine singuläre Bedeutung zu und bezeichnet die KantischeTranszendentalphilosophie mit Nachdruck als „die wichtigste Lehre“ der letz-ten zwei Jahrtausende (PP I, Hü 180).InMenschliches, Allzumenschlicheskritisiert N. die Philosophen, weil sie inihren Reflexionen die historische Dimension vernachlässigen. Den „Mangel anhistorischem Sinn“ bezeichnet N. dort als den „Erbfehler aller Philosophen“(KSA 2, 24, 24–25), die sich seines Erachtens vorschnell auf „eine Analyse“ des„gegenwärtigen Menschen“ festlegen, dessen Charakteristika sie „als eine ae-terna veritas“ hypostasieren (KSA 2, 24, 17–20). Insofern attestiert N. den tradi-tionellen Philosophen eine prekäre Unbelehrbarkeit: „Sie wollen nicht lernen,dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen gewordenist; während Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnissver-
110Schopenhauer als Erziehermögen sich herausspinnen lassen“ (KSA 2, 24, 29–32). Diese Einschätzungkann auch als Kritik an der Kantischen Transzendentalphilosophie verstandenwerden. Entschieden beanstandet N. die Tendenz der Philosophen zu Projekti-onen, die von „ewigen Thatsachen“ und„absoluten Wahrheiten“ ausge-hen (KSA 2, 25, 12–13). Er selbst hingegen konstatiert: „Alles aber ist geworden“(KSA 2, 25, 11–12) und zieht daraus die methodische Konsequenz: „Demnach istdashistorische Philosophirenvonjetzt ab nöthig und mit ihm die Tu-gend der Bescheidung“ (KSA 2, 25, 13–15). Vgl. auch NK 374, 32 – 375, 1.356, 11–17was uns, nach Kant, gerade Schopenhauer sein kann – der Führernämlich, welcher aus der Höhle des skeptischen Unmuths oder der kritisirendenEntsagung hinauf zur Höhe der tragischen Betrachtung leitet, den nächtlichenHimmel mit seinen Sternen endlos über uns, und der sich selbst, als der erste,diesen Weg geführt hat.]In dieser Aussage über Schopenhauer kombiniert N.Anspielungen auf Platon und Kant. Die in UB III SE mehrfach (354, 2; 359, 30)vorkommende Reminiszenz an das berühmte ‚Höhlengleichnis‘ (vgl. auchNK 354, 2–3) im 7. Buch von PlatonsPoliteia(514 a – 519 d) tritt hier besondersmarkant hervor: erstens durch die Vorstellung des „skeptischen Unmuths“ aufSeiten der Höhlenbewohner, die von den Dingen der Außenwelt lediglich dievon einer Lichtquelle auf die Höhlenwände geworfenen Schatten wahrneh-men, und zweitens durch die Erwähnung des Führers, der sie aus der Höhlehinausgeleiten will, um ihnen eine adäquate Erkenntnis der Dinge zu vermit-teln, und dabei mühselige Überzeugungsarbeit leisten muss. (Zum Platoni-schen ‚Höhlengleichnis‘ und seiner symbolischen Bedeutung für Platons Ide-enlehre vgl. NK 376, 2.) Die Relation zwischen den wirklichen Dingen und ihrenbloßen Schatten analogisiert Platon gleichnishaft mit dem Verhältnis zwischenden Ideen als Urbildern einerseits und deren bloßen Abbildern in Gestalt derEinzelphänomene in der konkreten sinnlich erfahrbaren Welt andererseits. –Auf diesem Dualismus basiert auch Platons Korrespondenztheorie, in derWahrheit als Übereinstimmung von Abbild und Urbild verstanden wird. Daeine derartige Korrespondenz oder Adäquation eine Quantifizierbarkeit derWahrheit impliziert (im Sinne mehr oder weniger deutlicher Erkenntnis derIdeen in Gestalt realer Abbilder), ist die Platonische Korrespondenz- bzw. Ab-bildtheorie mit dem in der Kantischen Philosophie vorausgesetzten qualitati-ven Gegensatz von Wahrheit und Falschheit nicht kompatibel.Mit der Vorstellung der „kritisirenden Entsagung“ spielt N. auf die metho-dischen Konsequenzen von Kants Erkenntniskritik an. Und mit dem „nächtli-chen Himmel mit seinen Sternen endlos über uns“ paraphrasiert N. den „Be-schluß“ am Ende von KantsKritik der praktischen Vernunft: „Zwei Dingeerfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung undEhrfurcht [...]: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 356111mir“ (AA 5, 61). Später finden sich auch inAlso sprach ZarathustraReminis-zenzen an diese berühmte Formulierung Kants: In einer klaren und „hellge-stirnt[en]“ Nacht (KSA 4, 195, 5) richtet Zarathustra eine Adhortatio an sichselbst: „Du aber, oh Zarathustra, wolltest aller Dinge Grund schaun und Hin-tergrund: so musst du schon über dich selber steigen, – hinan, hinauf, bis duauch deine Sterne nochunterdirhast! / Ja! Hinab auf mich selber sehn undnoch auf meine Sterne: das erst hiesse mir meinGipfel“(KSA 4, 194, 27–31). –Auf Platons ‚Höhlengleichnis‘ als allegorisches Denkmodell nimmt N. späterimplizit auch in derFröhlichen WissenschaftBezug, indem er den erkenntnis-theoretischen Gehalt religionskritisch funktionalisiert: „Gott ist todt: aber sowie es die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höh-len geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auchnoch seinen Schatten besiegen!“ (KSA 3, 467, 5–9).Im vorliegenden Kontext von UB III SE vollzieht N. zugleich eine Umdeu-tung der philosophischen Tradition: indem er Schopenhauer als den Führer„aus der Höhle des skeptischen Unmuths oder der kritisirenden Entsagung“beschreibt, der seine Leser hinauf „zur Höhe der tragischen Betrachtung“ gelei-tet habe. Den historischen Horizont der Antike und der Aufklärung überschrei-tet N., wenn er philosophische Konzepte Platons und Kants in dieser Weisedurch Schopenhauers Werk überboten sieht. Schopenhauer selbst betrachtetePlaton und Kant als seine Lehrer. In der Vorrede zur ersten Auflage derWeltals Wille und Vorstellunghebt er die „Schule des göttlichenPlato“hervor undempfiehlt seinen Lesern „eine gründliche Bekanntschaft“ mit „KantsPhiloso-phie“ (WWV I, Hü XII) als der „wichtigsten Erscheinung, welche seit zwei Jahr-tausenden in der Philosophie hervorgetreten ist“ (WWV I, Hü XI). Zur span-nungsreichen Relation zwischen Platon-Rezeption und Kant-Rezeption inSchopenhauers Philosophie, die systematische Probleme zur Folge hat, vgl.Neymeyr 1996a, 252–263.Räumt N. im vorliegenden Kontext von UB III SE bezüglich „der tragischenBetrachtung“ noch Schopenhauer die Priorität ein, so reklamiert er diesenavantgardistischen Status später (mit veränderten Implikationen) ausschließ-lich für sich selbst: InEcce homospricht er sich „das Recht“ zu, sich „selberals den erstentragischen Philosophenzuverstehn“ (KSA 6, 312, 24–25).N. definiert sich selbst als „den äussersten Gegensatz und Antipoden einespessimistischen Philosophen. Vor mir giebt es diese Umsetzung des Dionysi-schen in ein philosophisches Pathos nicht: es fehlt dietragische Weis-heit“(KSA 6, 312, 26–29). Dass sich N. durch die Abgrenzung vom „pessimisti-schen Philosophen“ nachdrücklich von Schopenhauer distanziert, zeigt seineBehauptung, dass „Schopenhauer [...] nicht begreifenwollte“,„daß die Tra-gödie eintonicumist“, „wenn er die Gesammt-Depression als tragischen
112Schopenhauer als ErzieherZustand ansetzt“ (NL 1888, 15 [10], KSA 13, 410). Mit dieser These wirft N. sei-nem früheren Lehrer über einen bloßen Irrtum hinaus sogar eine Haltung ab-sichtlicher Erkenntnisverweigerung vor.356, 17–25Das ist seine Grösse, dass er dem Bilde des Lebens als einem Ganzensich gegenüberstellte, um es als Ganzes zu deuten; während die scharfsinnigstenKöpfe nicht von dem Irrthum zu befreien sind, dass man dieser Deutung näherkomme, wenn man die Farben [...] peinlich untersuche; vielleicht mit dem Ergeb-niss, es sei eine ganz intrikat gesponnene Leinewand und Farben darauf, diechemisch unergründlich seien. Man muss den Maler errathen, um das Bild zuverstehen, – das wusste Schopenhauer.]Mit seiner Forderung, der Philosophhabe die Lebenstotalität zu deuten, schließt N. an dieGeburt der Tragödiean.Hier ist vom „Gesammtbilde der Welt“ die Rede, dessen Erkenntnis den ‚ech-ten‘ Philosophen auszeichne, der „Weisheit“ statt bloß partikularistischer „Wis-senschaft“ biete (KSA 1, 118, 29–32). Die „einzelnen Wissenschaften“ benötigenals Basisorientierung ein „regulatives Gesammtbild“ (356, 29–31). Analoge The-sen formuliert Schopenhauer in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philoso-phie(PP I, Hü 170–171). Vgl. dazu NK 357, 7–11. – Die ästhetische Metapher vom‚Gemälde‘ oder ‚Bild‘ des Lebens verwendet N. in UB III SE mehrfach (356, 28–29; 357, 9; 361, 13; 367, 7). Sie findet sich bereits bei Schopenhauer, der in derWelt als Wille und Vorstellung IIerklärt: „Das Leben ist nie schön, sondern nurdie Bilder des Lebens sind es, nämlich im verklärenden Spiegel der Kunst oderder Poesie“ (WWV II, Kap. 30, Hü 428).Von der Metapher vom ‚Bild‘ des Lebens ausgehend, kontrastiert N. einintuitives Kunstverständnis, das er hier ausdrücklich Schopenhauer zuordnet,mit dem akribischen Positivismus derer, die Farbe und Leinwand chemischanalysieren wollen, durch ihre empirische Detailfixierung aber den Bezug zurTotalität des Kunstwerks verlieren. Allerdings übersieht N. dabei zweierlei:1. Obwohl auch Schopenhauer betont „Ein ächtes Kunstwerk darf eigentlichnicht, um genießbar zu seyn, den Präambel einer Kunstgeschichte nöthig ha-ben“ (PP II, Kap. 19, § 234, Hü 479), hält er die Kenntnis des zeitgenössischenkünstlerischen Kontextes durchaus für wesentlich, um malerische Innovatio-nen angemessen würdigen zu können (ebd.). 2. Die metaphysische Fundierungder Ästhetik bei Schopenhauer schließt empirische Interessen und positivisti-sche Prinzipien keineswegs aus. Anders als N. meint, empfiehlt Schopenhauerselbst in seinenParerga und Paralipomena IIsogar ausdrücklich chemischeFarbanalysen. Im Hinblick auf eine „Sammlung von Gemälden aus der altenNiederrheinischen Schule“, vor allem auf „Johann van Eyck“ als „ächtesGenie“ (PP II, Kap. 19, § 234, Hü 479), schreibt Schopenhauer: „Ihr Hauptver-dienst, jedoch nur beivan Eyckund seinen besten Schülern, besteht in dertäuschendesten Nachahmung der Wirklichkeit [...]; sodann in der Lebhaftigkeit
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 356–357113der Farben [...]: sie sind brennend und bringen die höchste Energie der Farbezu Tage [...]. Hätten doch Raphael und Correggio diese Farben gekannt! Abersie blieben ein Geheimniß der Schule und sind daher verloren gegangen. Mansollte sie chemisch untersuchen“ (PP II, Kap. 19, § 234, Hü 480–481). – Aller-dings findet sich in denParerga und Paralipomena IIan späterer Stelle aucheine Aussage Schopenhauers, die durchaus mit N.s Auffassung korrespondiert.Hier kritisiert Schopenhauer Präferenzen des großen Publikums „für denStoff“, indem er schreibt: „Diese Vorliebe für den Stoff im Gegensatz der Formist wie wenn Einer die Form und Malerei einer schönen hetrurischen Vase un-beachtet ließe, um den Thon und die Farben derselben chemisch zu untersu-chen“ (PP II, Kap. 23, § 274, Hü 538).357, 2begriffliche Scholastik]Die philosophisch-theologische Lehre der Scho-lastik wurde im Mittelalter an Universitäten und Schulen entwickelt, um diearistotelische Denktradition zu vermitteln. Von Christen- und Judentum beein-flusst, schuf die Scholastik ontologische Begriffe und theologische Systeme, indenen alles Seiende auf die Absichten eines Schöpfergottes zurückgeführtwird. – Schopenhauer geht in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophieauf die Scholastik ein, wenn er die Kontamination der Philosophie durch „spe-kulative Theologie“ kritisiert: „Gewiß aber ist, daß alle und jede Glaubensarti-kel, sie mögen nun offen und unverhohlen in die Philosophie hineingetragenseyn, wie Dies in der Scholastik geschah, oder durch petitiones principii, fal-sche Axiome [...], der Philosophie zum entschiedenen Verderb gereichen; weilall Dergleichen die klare, unbefangene, rein objektive Auffassung der Welt undunsers Daseyns, diese erste Bedingung alles Forschens nach Wahrheit, unmög-lich macht“ (PP I, Hü 204).357, 2–3das Loos der ungebändigten Dialektiker]Schon in derGeburt der Tra-gödiezieht N. gegen die Dialektik zu Felde (KSA 1, 94, 21–22; 95, 24–25; 101, 5–7); vgl. die Kommentare hierzu in NK 1/1. Die spezifischen Erkenntnisdefiziteder „ungebändigten Dialektiker“ betont N. selbst wenige Zeilen später, wenner gegen „das gelehrtenhafte Für und Wider“ in den Werken „aller Viertelsphi-losophen“ polemisiert, die „sofort auf die Stellen im Bau grosser Philosophiengerathen, wo das gelehrtenhafte Für und Wider, wo Grübeln, Zweifeln, Wider-sprechen erlaubt ist“ (357, 3–7). An ihnen beanstandet er, dass sie dabei denTotalitätsanspruch „jeder grossen Philosophie“ ignorieren, die auf die Vermitt-lung zwischen dem „Bild alles Lebens“ und dem Sinn individuellen Lebenszielt (357, 8–10). Vgl. auchMenschliches, Allzumenschliches II: Hier kritisiert N.in MA II 137 die „schlechtesten Leser“, die „wie plündernde Soldaten verfah-ren: sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzenund verwirren das Uebrige und lästern auf das Ganze“ (KSA 2, 436, 2–6). Die-
114Schopenhauer als Erziehersem problematischen Verhalten im Umgang mit der philosophischen Traditionstellt N. einen ganzheitlichen Ansatz gegenüber: eine existentielle Aneignungder Philosophie, die dem Menschen dazu verhelfen soll, die eigene Lebensrea-lität besser zu verstehen.357, 7–11Forderung jeder grossen Philosophie [...]: dies ist das Bild alles Le-bens, und daraus lerne den Sinn deines Lebens. Und umgekehrt: lies nur deinLeben und verstehe daraus die Hieroglyphen des allgemeinen Lebens.]N.s Per-spektive auf die vom Philosophen zu deutende Lebenstotalität folgt dem Prin-zip des hermeneutischen Zirkels, indem sie dialektische Vermittlungen zwi-schen individueller Existenz und Naturganzheit nahelegt, die das Verständnissowohl für den Gesamtzusammenhang des Lebens als auch für die Besonder-heit des Einzelwesens vertiefen. Mit dieser Korrelation schließt N. an Thesenan, die bereits Schopenhauer in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philoso-phieformuliert: „Die wirklichen Denker haben aufEinsicht, undzwar ihrerselbst wegen, hingearbeitet [...]. Daher erwächst in ihnen [...] eine feste, zusam-menhängende Grundansicht, die zu ihrer Basis allemal dieanschaulicheAuffassung der Welt hat, und von der Wege ausgehn zu allen speciellen Wahr-heiten, welche selbst wieder Licht zurückwerfen auf jene Grundansicht“ (PP I,Hü 170–171).Die bereits von Schopenhauer gebrauchte ästhetische Metapher vom ‚Bild‘des Lebens (WWV II, Kap. 30, Hü 428), das der Philosoph durch sein intuitivesVerständnis des Wesens der Welt zu erfassen vermag, verwendet N. in UB III SEmehrfach (356, 28–29; 361, 13; 367, 7). Vgl. auch die dortigen Stellenkommenta-re. – Auch der Begriff der ‚Hieroglyphe‘ findet sich bereits bei Schopenhauerin einem analogen metaphorischen Zusammenhang. In denParerga und Parali-pomena IIschreibt er im Kontext erkenntnistheoretischer Reflexionen, die of-fensichtlich von der Kantischen Transzendentalphilosophie angeregt sind:Wenn der Mensch erkannt hat, dass „die Gesetze des Erkennens, Denkens undder Erfahrung“ nicht „rein objektiv, an und für sich und absolut vorhanden“sind, sondern umgekehrt „sein Intellekt [...] die Bedingung aller jener Gesetze“ist, dann „sieht er auch ein, daß die ihm jetzt klar gewordene Idealität desRaumes, der Zeit und der Kausalität Platz läßt für eine ganz andere Ordnungder Dinge, als die der Natur ist, welche letztere er jedoch als das Resultat,oder die Hieroglyphe, jener andern anzusehn genöthigt ist“ (PP II, Kap. 3, § 27,Hü 39).357, 18–19Er lehrt uns zwischen den wirklichen und scheinbaren Beförderungendes Menschenglücks unterscheiden]Differenzierungen dieser Art bilden einenSchwerpunkt von SchopenhauersAphorismen zur Lebensweisheit. Im Kapitel 1exponiert Schopenhauer die „Grundeintheilung“ seiner Schrift. Die Basis für
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 357115„den Unterschied im Loose der Sterblichen“ führt er auf „drei Grundbestim-mungen“ zurück (PP I, Hü 335): „1. Was Einer ist: also die Persönlichkeit, imweitesten Sinne. Sonach ist hierunter Gesundheit, Kraft, Schönheit, Tempera-ment, moralischer Charakter, Intelligenz und Ausbildung derselben begriffen.2. Was Einer hat: also Eigenthum und Besitz in jeglichem Sinne. 3. Was Einervorstellt:unter diesem Ausdruck wird bekanntlich verstanden, was er in derVorstellung Anderer ist, also eigentlich, wie er von ihnenvorgestellt wird.Es besteht demnach in ihrer Meinung von ihm, und zerfällt in Ehre, Rang undRuhm.“Schopenhauer versteht seineAphorismen zur Lebensweisheitals „Kunst,das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen“, und dispen-siert sich hier „von dem höheren, metaphysisch-ethischen Standpunkte“ seinerPhilosophie (PP I, Hü 333), die schon die Möglichkeit eines glücklichen Lebensnegiert, also mit einem eudaimonologischen Projekt nicht kompatibel ist (vgl.dazu auch NK 373, 4–15). Von den obigen „drei Grundbestimmungen“ (PP I,Hü 335) hält Schopenhauer die erste für die wichtigste. Über den „Menschen“schreibt er: „durch seine Individualität ist das Maaß seines möglichen Glückeszum Voraus bestimmt. Besonders haben die Schranken seiner Geisteskräfte sei-ne Fähigkeit für erhöhten Genuß ein für alle Mal festgestellt. [...] Sind sie eng,so werden alle Bemühungen von außen, Alles was Menschen, Alles was dasGlück für ihn thut, nicht vermögen, ihn über das Maaß des gewöhnlichen, halbthierischen Menschenglücks und Behagens hinaus zu führen [...]. Hieraus alsoist klar, wie sehr unser Glück abhängt von Dem, was wirsind, vonunsererIndividualität; während man meistens nur unser Schicksal, nur Das, was wirhaben,oder was wirvorstellen, inAnschlag bringt“ (PP I, Hü 338). ZuSchopenhauers divergenten Glückskonzepten vgl. Neymeyr 1996b.357, 27–28Es ist freilich ein Streben, welches [...] zur Resignation hinleitet]Hierzitiert N. affirmativ aus der Tragödientheorie, die Schopenhauer im DrittenBuch derWelt als Wille und Vorstellung IIentwirft: „Was allem Tragischen [...]den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt, ist das Aufgehn der Er-kenntniß, daß die Welt, das Leben, kein wahres Genügen gewähren könne,mithin unserer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tragischeGeist: er leitet demnach zur Resignation hin“ (WWV II, Kap. 37, Hü 495). Nachder Konzeption, die Schopenhauer unter Rekurs auf die indische Philosophieim Vierten Buch seines Hauptwerks entfaltet, kann der Mensch, wenn er sichvom Willen zum Leben abwendet, den Zustand „der freiwilligen Entsagung,der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenslosigkeit“erreichen (WWV I, § 68, Hü 448). Diese Konsequenzen aus Schopenhauers pes-simistischer Willensmetaphysik, die N. in UB III SE noch übernimmt, verwirfter später als lebensverneinenden „Resignationismus“. So entwickelt er im „Ver-
116Schopenhauer als Erziehersuch einer Selbstkritik“, den er 1886 der Neuausgabe derGeburt der Tragödievoranstellte, sein Konzept des Tragischen sogar in expliziter Abgrenzung vonSchopenhauer: „Wie dachte doch Schopenhauer über die Tragödie? ‚Was allemTragischen den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt – sagt er [...] –ist das Aufgehen der Erkenntniss, dass die Welt, das Leben kein rechtes Genü-gen geben könne, mithin unsrer Anhänglichkeitnicht werthsei: darin be-steht der tragische Geist –, er leitet demnach zurResignationhin‘. Oh wieanders redete Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir damals gerade dieserganze Resignationismus!“ (KSA 1, 19, 28 – 20, 4). Zum Konzept des Tragischenbei Schopenhauer und N. vgl. Neymeyr 2011.358, 1–4wie er aus dem Gefühl seiner Sündhaftigkeit sich hin nach dem Heiligensehnt, so trägt er, als intellectuelles Wesen, ein tiefes Verlangen nach dem Geniusin sich.]Hier schließt N. an Konzepte an, die Schopenhauer im Dritten undVierten Buch derWelt als Wille und Vorstellung Ientfaltet: „Bei weiter gebilde-tem Christenthum sehn wir nun jenen asketischen Keim sich zur vollen Blütheentfalten, in den Schriften der Christlichen Heiligen und Mystiker. Diese predi-gen neben der reinsten Liebe auch völlige Resignation, freiwillige gänzlicheArmuth, wahre Gelassenheit, vollkommene Gleichgültigkeit gegen alle weltli-chen Dinge, Absterben dem eigenen Willen und Wiedergeburt in Gott, gänzli-ches Vergessen der eigenen Person und Versenken in die Anschauung Gottes“(WWV I, § 68, Hü 457). – Den „Vorzug des Genius vor den Andern“ erblicktSchopenhauer darin, dass ihn der „Genuß alles Schönen, der Trost, den dieKunst gewährt, der Enthusiasmus des Künstlers [...] die Mühen des Lebens ver-gessen läßt“ und so „das mit der Klarheit des Bewußtseyns in gleichem Maßegesteigerte Leiden“ zu kompensieren vermag (WWV I, § 52, Hü 315). Dem Geni-us sei die „reine, wahre und tiefe Erkenntniß des Wesens der Welt [...] Zweckan sich [...].“ Daher fungiere sie für ihn – anders als „bei dem zur Resignationgelangten Heiligen“ – nicht als „Quietiv des Willens, erlöst ihn nicht auf im-mer, sondern nur auf Augenblicke vom Leben, und ist ihm so noch nicht derWeg aus demselben, sondern nur einstweilen ein Trost in demselben; bis seinedadurch gesteigerte Kraft, endlich des Spieles müde, den Ernst ergreift“(WWV I, § 52, Hü 316). Jean Améry sieht in N.s Vorstellung des ‚Genius‘ inUB III SE bereits „denÜbermenschen[...] präsent“ (Jean Améry [1975] 2004,397) und setzt voraus, dass N. sich selbst meint, „wenn er vom Genius redet“(ebd., 398), mithin letztlich „vom Übermenschen Nietzsche“ spricht (ebd., 399).Im vorliegenden Textzusammenhang erklärt N.: „Jeder Mensch pflegt insich eine Begrenztheit vorzufinden, seiner Begabung sowohl als seines sittli-chen Wollens“ (357, 33–34), die „ihn mit Sehnsucht und Melancholie erfüllt“und „ein tiefes Verlangen nach dem Genius in sich“ auslöst (358, 1–4). DieseAussagen instrumentalisiert Holm, um sie autobiographisch als implizites
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 358117Selbstbekenntnis N.s zu lesen und seine verengende Lektüre dann polemischgegen N. selbst zu wenden: „Nietzsche sieht sich nicht im Stande produktivzu sein, wie sein Ideal es von ihm fordert. Er hat nicht komponiert wie diegroßen Komponisten und nicht gedichtet wie Goethe, Schiller, Beethovenoder Wagner“ (Holm 2016, 157). Holm beruft sich hier auf Overbeck (2011,65 f.). Darüber hinaus reproduziert er sogar zustimmend die despektierlicheMeinung des Dirigenten Wilhelm Furtwängler, der über N. folgendermaßenspekuliert: „Nietzsches Erfolg liegt darin, daß er, selbst im tiefsten unproduk-tiv, damit Schicksalsgenosse aller Unproduktiven wurde. Er hatte auf der ei-nen Seite die Forderungen des Produktiven, auf der anderen aber nichts, umsie zu rechtfertigen, nichts, womit er sich selbst und der Zeit entfliehen konn-te. So blieb er der Zeit ausgeliefert wie kein anderer und mußte leiden wiekein anderer. Das ist seine Größe, seine Art von Größe“ (Furtwängler 1996,217).358, 4–8Hier ist die Wurzel aller wahren Cultur; und wenn ich unter dieser dieSehnsucht der Menschen verstehe, als Heiliger und als Geniuswiedergeborenzu werden, so weiss ich, dass man nicht erst Buddhaist sein muss, um diesenMythus zu verstehen.]Nach Christentum, Islam und Hinduismus ist der vorallem in Asien sehr verbreitete Buddhismus die viertgrößte Weltreligion. DerUrsprung der buddhistischen Lehrtradition und Religion liegt in Indien, undetwa ein Viertel aller Buddhisten leben in China. Die Buddhisten berufen sichauf die Lehren des Siddhartha Gautama, der im 5. und möglicherweise nochim frühen 4. Jahrhundert v. Chr. in Nordindien lebte. Zur Abgrenzung vonmythischen Buddha-Gestalten, die nicht durch geschichtliche Dokumente be-zeugt sind, wird er als ‚historischer Buddha‘ bezeichnet. – Der Ehrentitel ‚Bud-dha‘ bedeutet im Sanskrit ‚Erwachter‘ und bezieht sich auf ein Erlebnis, dasals Bodhi (‚Erwachen‘) beschrieben wird. Nach der Lehre des Buddhismus istdamit eine fundamentale Einsicht in die Grundbedingungen allen Lebens ge-meint, aus der sich die Möglichkeit ergibt, das leidvolle Dasein zu überwinden.Eine Erlösung von dem existentiellen Leiden, das aus dem Lebenswillen desIndividuums resultiert, wird nach Auffassung der Buddhisten durch ethischwertvolles Verhalten möglich, das auf der intuitiven Erkenntnis eigener frühe-rer Wiedergeburten durch meditative Verinnerlichung basiere. Erforderlich seidazu ein mittlerer Weg zwischen den beiden Extremen Askese und Hedonis-mus. Charakteristisch für die Existenzform des Heiligen sei die Auslöschungdes ‚Willens‘ im Nirwana, im Nichts, so dass dann nur noch die äußere irdischeExistenz bis zum physischen Tod andauere. (Zu den Affinitäten zwischenSchopenhauer und N. hinsichtlich des Nihilismus vgl. Lütkehaus 2012, 301–316. Zum Spannungsfeld zwischen Askese und Hedonismus in der Schopen-hauer- und N.-Rezeption Thomas Manns vgl. Neymeyr 2020.) – Schopenhauer
118Schopenhauer als Erzieherbezeichnet „die Buddhaisten“ in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philoso-phie, auf die sich N. in UB III SE vielfach implizit und zweimal sogar explizitberuft (413, 418), als „die Anhänger der [...] vornehmsten Religion auf Erden“(PP I, Hü 201). Das Konzept einer Verneinung des Willens zum Leben, dasSchopenhauer im Vierten Buch seinerWelt als Wille und Vorstellungentfaltet,ist maßgeblich durch buddhistische Lehren geprägt. – N. interessierte sichauch über die Schopenhauer-Lektüre hinaus für den Buddhismus. So entlieher aus der Basler Universitätsbibliothek am 25. Oktober 1870 das zweibändigeWerkDie Religion des Buddha und ihre Entstehung(1857–1859).358, 12–13die Erzeugung des Genius – das heisst das Ziel aller Cultur]DieserGrundgedanke von UB III SE geht zwar von der Philosophie Schopenhauersaus, weist aber zugleich deutlich über sie hinaus. Während Schopenhauer inseiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophiefast durchgehend gegen dieakademische Philosophie polemisiert, erweitert N. den gedanklichen Horizontin UB III SE beträchtlich. Denn seine Zeitkritik soll letztlich dem „Ziel der Kul-tur“ überhaupt dienen (400, 17): der „Erzeugung des Genius“ (358, 386, 393,403) in Gestalt des Philosophen, Künstlers und Heiligen (380). N. sieht dasTelos der Menschheit in ihren „werthvollsten Exemplare[n]“ (384, 34), in denendie Natur zur Vollendung gelange (382, 384–386, 404). Später wendet sich derNaturalist Alberti entschieden gegen derartige Konzepte N.s (vgl. dazu TheoMeyer 1993, 169).358, 26–29ungestüme Sehnsucht; wir verstehen sie, wenn wir hören dass ersich mit schmerzlichem Blicke von dem Bilde des grossen Stifters der la Trappe,Rancé, abwandte, unter den Worten: „das ist Sache der Gnade“.]Armand JeanLe Bouthillier de Rancé (1626–1700) wurde im Jahre 1664 Zisterzienser undwirkte auch als Abt von La Trappe. An den ursprünglichen zisterziensischenZielen orientiert, führte er eine vom Ideal der Kontemplation, der Buße undder strengen Askese bestimmte Reform durch, die der Papst 1678 und 1705bestätigte. – N. zitiert im vorliegenden Textzusammenhang aus den Gesprä-chen mit Schopenhauer, die Wilhelm Gwinner nach dessen Tod in seinemBuchArthur Schopenhauer aus persönlichem Umgange dargestellt. Ein Blick aufsein Leben, seinen Charakter und seine Lehremitteilte: „Nie vergesse ich mei-nen Freund, als er einst bei mir das Bild Rancé’s, des Abts von La Trappe sahund mit einer schmerzlichen Geberde sich wegwendend sagte: das ist Sacheder Gnade! Er wollte nicht mehr sein als ein Gelehrter, kein Asket, geschweigedenn ein Heiliger. Wer aber Lehre und Leben, Erkennen und Thun in keinerWeise zu trennen versteht, mag ein guter Mensch, ein echter Christ sein; einPhilosoph ist er nicht und lasse unsern Philosophen in Frieden“ (Gwinner,1862, 108). Sechzehn Jahre später publizierte Gwinner seine erheblich erweiter-te BiographieSchopenhauer’s Leben(1878).
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 358119In derWelt als Wille und Vorstellung Ibetont Schopenhauer, dass „der beiWeitem strengste aller Mönchsorden, also der Trappistische, [...] nach seinemVerfall wieder hergestellt wurde, durch Rancé, und, trotz Revolutionen, Kir-chenveränderungen und eingerissenem Unglauben, sich bis auf den heutigenTag, in seiner Reinheit und furchtbaren Strenge erhält“ (WWV I, § 68, Hü 467).In derWelt als Wille und Vorstellung IIempfiehlt Schopenhauer „La vie deRancé par Chateaubriand“ als „sehr lesenswerth“ (WWV II, Kap. 48, Hü 706)und referiert die Bekehrungsgeschichte „des Abbé Rancé“, dessen Jugend„dem Vergnügen und der Lust“ gewidmet war, der aber im Jahre 1663 nacheinem traumatischen Erlebnis zum „Reformator des damals von der Strengeseiner Regeln gänzlich abgewichenen Ordens der Trappisten“ wurde; diesenOrden führte er laut Schopenhauer „zu jener furchtbaren Größe der Entsa-gung“ zurück, die durch „eine unglaublich harte und peinliche Lebensweise“die „Verneinung des Willens“ fördert (WWV II, Kap. 48, Hü 725).358, 29–33Denn der Genius sehnt sich tiefer nach Heiligkeit, weil er von seinerWarte aus weiter und heller geschaut hat als ein andrer Mensch, [...] hinein indas Reich des Friedens und des verneinten Willens, hinüber nach der andernKüste, von der die Inder sagen.]Hier bezieht sich N. implizit auf Konzepte, dieSchopenhauer im Vierten Buch derWelt als Wille und Vorstellungentfaltet:Durch ‚Resignation‘ und ‚Verneinung des Willens zum Leben‘ wird nachSchopenhauers Auffassung eine Haltung der Gelassenheit und des innerenFriedens möglich, in der das Leiden des stets getriebenen ‚Willens‘ überwun-den ist. – Auch im Hinblick auf die Affinität von Genialität und Heiligkeitknüpft N. an Schopenhauer an: „Es ist immer eine Ausnahme, wenn so einLebenslauf eine Störung erleidet dadurch, daß aus einem vom Dienste des Wil-lens unabhängigen und auf das Wesen der Welt überhaupt gerichteten Erken-nen, entweder die ästhetische Aufforderung zur Beschaulichkeit, oder die ethi-sche zur Entsagung hervorgeht“ (WWV I, § 60, Hü 386). Und „in ethischerHinsicht genial wird“ laut Schopenhauer derjenige, der vom individuellen Fallabstrahiert, indem er „sein eigenes Leiden nur als Beispiel des Ganzen betrach-tet“, dieses „als wesentliches Leiden“ begreift und so „zur Resignation“ gelangt(WWV I, § 68, Hü 468). In der „reine[n] Objektivität der Anschauung“, die seinesErachtens nur durch die besondere Erkenntnisweise des vom Willen und seinenInteressen befreiten Intellekts möglich ist, sieht Schopenhauer „die Analogieund sogar Verwandtschaft“ zwischen ästhetischer Kontemplation und ethischer„Verneinung des Willens“ (WWV II, Kap. 30, Hü 422). Zur Thematik der Geniali-tät bei Schopenhauer und N. vgl. ausführlicher NK 386, 21–22.Im vorliegenden Kontext von UB III SE orientiert sich N. noch deutlich anästhetischen und ethischen Konzepten Schopenhauers sowie an seinem geis-tesaristokratischen Individualismus. InMenschliches, Allzumenschliches IIje-
120Schopenhauer als Erzieherdoch erweitert er sein Konzept der ‚Genialität‘ in kulturanthropologischeDimensionen, die er mit universalhistorischen Perspektiven verknüpft: „Ge-nialität der Menschheit. –Wenn Genialität, nach Schopenhauer’s Be-obachtung, in der zusammenhängenden und lebendigen Erinnerung an dasSelbst-Erlebte besteht, so möchte im Streben nach Erkenntniss des gesammtenhistorischen Gewordenseins – welches immer mächtiger die neuere Zeit gegenalle früheren abhebt und zum ersten Male zwischen Natur und Geist, Menschund Thier, Moral und Physik die alten Mauern zerbrochen hat – ein Strebennach Genialität der Menschheit im Ganzen zu erkennen sein. Die vollendet ge-dachte Historie wäre kosmisches Selbstbewusstsein“ (KSA 2, 460, 29 – 461, 8).359, 3–4Was das heissen will, wird jeder nach dem Maasse dessen verstehen,was und wie viel er ist]Anspielung auf das Kapitel II in SchopenhauersAphoris-men zur Lebensweisheit: „Von Dem, was Einer ist“ (PP I, Hü 343).359, 20–21Ein Jeder trägt eine productive Einzigkeit in sich, als den Kern seinesWesens]An dieser Stelle nimmt N. das emphatische Postulat der Individualitätwieder auf, das er bereits am Anfang von UB III SE eingeführt hat (340–341),und lädt es mit der Aura exzeptioneller Größe auf: durch den „Glanz [...] desUngewöhnlichen“ (359, 23).359, 29–30Vereinsamung [...] Wüste [...] Höhle]Die Motive der Wüste und derHöhle sind, mit dem Einsamkeitstopos symbolisch verbunden, auch in N.sDio-nysos-Dithyrambenund inAlso sprach Zarathustravon zentraler Bedeutung.Vgl. NK 353, 32. – Zu N.s Anspielung auf Platons Höhlengleichnis vgl. vor allemNK 356, 11–17, ergänzend auch NK 354, 1–3.360, 10–11„es möchte kein Hund so länger leben!“]Wörtliches Zitat aus demEingangsmonolog des Protagonisten in GoethesFaust I. In der kritischen Le-bensretrospektive, die seinem Ringen um Neuorientierung zugrunde liegt, ruftFaust aus: „Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren, / Die Menschen zubessern und zu bekehren. / Auch hab’ ich weder Gut noch Geld, / Noch Ehr’und Herrlichkeit der Welt; / Es möchte kein Hund so länger leben! / Drum hab’ich mich der Magie ergeben, / Ob mir durch Geistes Kraft und Mund / Nichtmanch Geheimnis würde kund“ (V. 372–379). Faust wünscht, „Daß ich erkenne,was die Welt / Im Innersten zusammenhält“ (V. 382–383). In seinem Eingangs-monolog zieht er die Quintessenz aus dem Verlust genuiner Lebendigkeitaufgrund der Einseitigkeiten seiner Gelehrtenexistenz. Fausts radikale Wissen-schaftskritik und Wahrheitsskepsis, die in der Studierzimmer-Szene weiterge-führt wird, gehört zu den zentralen Themen dieses Dramas und korrespondiertzugleich mit der Gelehrtenkritik N.s in UB III SE.360, 15–17Die Einzigkeit seines Wesens ist zum untheilbaren, unmittheilbarenAtom geworden, zum erkalteten Gestein.]Das ursprünglich aus der Naturphilo-
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 359–360121sophie (Leukipp, Demokrit) stammende Konzept des Atomismus geht davonaus, dass die Materie aus kleinsten Teilchen aufgebaut ist, die sich nicht mehrweiter teilen lassen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde diese Auffassungauch zu einer Hypothese für naturwissenschaftliche Experimente und fand indie moderne Chemie Eingang. – Wenn N. hier vom „untheilbaren [...] Atom“spricht, unterläuft ihm genaugenommen ein Pleonasmus, da das altgriechi-sche Wort ‚atomos‘ (ἄτoμος) die Bedeutung ‚unteilbar‘ hat. Allerdings be-schränkt sich seine Aussage im vorliegenden Kontext keineswegs auf eine blo-ße Tautologie. Denn N. verbindet mit dem Begriff des Atoms in UB III SE densozialen Aspekt der Kommunikation und kodiert ihn dadurch anthropologischum. Die Gefahr der Individualität sieht er in einer Isolation, die alle kommuni-kativen Bezüge aufhebt. Einige Seiten später konstatiert N. eine „atomistische“Revolution, um anschließend nach den „kleinsten untheilbaren Grundstoffe[n]der menschlichen Gesellschaft“ zu fragen (368, 17–19).360, 28–29Denken wir uns das Auge des Philosophen auf dem Dasein ruhend:er will dessen Werth neu festsetzen.]Hier deutet sich bereits N.s spätere philoso-phische Programmatik an: Da er die Aufgabe des Philosophen grundsätzlichin der Wertsetzung sieht, visiert er selbst eine revolutionäre „Umwertung allerWerte“ an. Diese Tendenz setzt seit dem Beginn der 1880er Jahre ein, prägtsich schon in N.s WerkenMorgenrötheundDie fröhliche Wissenschaftaus, ent-faltet sich später inAlso sprach Zarathustra,Jenseits von Gut und BöseundZur Genealogie der Moralweiter, um schließlich inGötzen-DämmerungundDerAntichristeinen besonders radikalen Ausdruck zu finden. Mit der Verwirkli-chung seines Anspruchs auf Umwertung beginnt N. tendenziell allerdings be-reits in derGeburt der Tragödie, auch wenn er den Begriff „Umwertung allerWerte“ erst in den 1880er Jahren auch selbst verwendet. Zum Spannungsfeldvon Perspektivismus und Dezisionismus im Zusammenhang mit der program-matischen Intention N.s auf „Umwertung aller Werte“ vgl. Jochen Schmidt2012b, 11–29.360, 29–31Denn das ist die eigenthümliche Arbeit aller grossen Denker gewe-sen, Gesetzgeber für Maass, Münze und Gewicht der Dinge zu sein.]Mit dieserFormulierung spielt N. auf das „Buch der Weisheit“ im Alten Testament an (11,20): „Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.“ – N.s Bibel-Allusion säkularisiert den Bezug zur göttlichen Instanz und damit zum traditio-nellen Maß aller Dinge. An die Stelle der Gottheit rückt der Philosoph als sinn-stiftende Ordnungsinstanz. Zum Anspielungshorizont der vorliegenden Text-stelle gehört auch der von Platon überlieferte sogenannte Homo-mensura-Satzdes Sophisten Protagoras, der den Menschen als Maß aller Dinge betrachtet,mithin die Abhängigkeit allen Wissens von ihm betont und damit spätere phi-losophische Konzepte im Ansatz antizipiert.
122Schopenhauer als Erzieher361, 2–5Wenn die Beschäftigung mit Geschichte vergangener oder fremder Völ-ker werthvoll ist, so ist sie es am meisten für den Philosophen, der ein gerechtesUrtheil über das gesammte Menschenloos abgeben will]Der hier skizzierte histo-rische Ansatz weist auf N.s spätere, genealogisch ausgerichtete Philosophievoraus und lässt zugleich eine gewisse Affinität zu einem Diktum erkennen,das sich in Ciceros SchriftDe oratore(II, 36) findet: „Die Geschichte (ist) Lehr-meisterin des Lebens“ („historia magistra vitae“). Dieser Auffassung folgt auchGrillparzer in seiner StudieZur Literargeschichte(vgl. Grillparzer: SämmtlicheWerke, Bd. 9, 1872, 156–261), aus der N. in UB II HL wörtlich zitiert (vgl. NK 277,5–9). Hier beschreibt Grillparzer den „Nutzen“ der Geschichte folgenderma-ßen: „so lange es keine Philosophie gibt, ist die Geschichte die Lehrerin desMenschengeschlechtes. Freilich ist ihr Nutzen großentheils ein negativer. Siezeigt uns den Hochmuth, den Eigennutz, die Leidenschaften, die Irrthümer,die von jeher an den Geschicken der Welt gerüttelt haben, und lehrt, sich davorzu hüten; aber eben dadurch wird ihr Nutzen auch positiv, denn wenn manerst alle falschen Wege bezeichnet hat, fände man wohl auch den rechten“(Grillparzer: Sämmtliche Werke, Bd. 9, 1872, 156).Die Grundtendenz von N.s Aussage steht allerdings der Auffassung Scho-penhauers diametral gegenüber, der ein pejoratives Urteil über die Geschichteformuliert und darüber hinaus auch einen möglichen Wissenschaftsstatus derGeschichte negiert. Im Unterschied zu N., der historische Einsichten durchausals eine potentiell ergiebige Grundlage für Menschenkenntnis und philosophi-sche Reflexion betrachtet, kontrastiert Schopenhauer wiederholt mit Nach-druck Geschichte und Philosophie. In derWelt als Wille und Vorstellung IIentfaltet er in Kapitel 38 „Ueber Geschichte“ eine radikale Geschichtskritik.Nach Schopenhauers Auffassung wird „für die Erkenntniß des Wesens derMenschheit mehr von der Dichtung, als von der Geschichte geleistet“(WWV II, Kap. 38, Hü 501). Diese Einschätzung erinnert an diePoetikdes Aris-toteles, der die Dichtkunst für ‚philosophischer‘ hält als die Geschichte. Dadie Geschichte laut Schopenhauer anstelle einer systematischen „Subordina-tion“ dauerhafter Einzelphänomene nur eine „Koordination“ von Fakten bie-tet, betrachtet er sie als bloße Ansammlung von Wissenselementen. (Vgl.WWV I, § 14, Hü 75; WWV II, Kap. 38, Hü 502, 505; PP II, Hü 476.)Den Gegensatz zwischen der über allen Wissenschaften stehenden Philoso-phie, die „das allgemeinste und deshalb wichtigste Wissen“ biete, und der Ge-schichte, der sogar der „Grundcharakter der Wissenschaft“ fehle, weil es „keinSystem der Geschichte“ gebe (WWV II, Kap. 38, Hü 502), begründet Schopen-hauer damit, dass sich die Geschichte den individuellen, vielgestaltigen, abervergänglichen und niemals vollständig zu erfassenden Erscheinungen desmenschlichen Lebens widme. Während sie dabei (aus geschichtsphilosophi-
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 361123scher Perspektive) kaleidoskopartig stets dasselbe, wenn auch in unterschiedli-chen Konfigurationen zeige und sich zudem auf bloße Empirie beschränke,konzentriere sich die Philosophie auf die Ideen als das Wesentliche und Blei-bende (WWV I, § 35, Hü 215, WWV II, Kap. 38, Hü 504–508, Kap. 17, Hü 202).Insofern ist Schopenhauers Geschichtskritik letztlich durch seinen Platonismusmotiviert. – Auf die Hegelsche Geschichtsphilosophie anspielend, schreibtSchopenhauer: „Bloß daß Manche die Geschichte zu einem Theil der Philoso-phie, ja zu dieser selbst machen wollen, indem sie wähnen, sie könne die Stellederselben einnehmen, ist lächerlich und abgeschmackt“ (PP II, Kap. 19, § 233,Hü 474).Über die kaleidoskopartige Heterogenität einer bloßen Ansammlung ge-schichtlicher Fakten hinaus betont Schopenhauer noch ein weiteres gravieren-des Defizit einer lediglich historischen Betrachtung: Er bringt es mit dem pole-mischen Vergleich zum Ausdruck, „daß die Geschichtsmuse Klio mit der Lügeso durch und durch inficirt ist, wie eine Gassenhure mit der Syphilis. Die neue-re kritische Geschichtsforschung müht sich zwar ab, sie zu kuriren, bewältigtaber mit ihren lokalen Mitteln bloß einzelne, hie und da ausbrechende Sympto-me; wobei noch dazu manche Quacksalberei mit unter läuft, die das Uebelverschlimmert“ (PP II, Kap. 19, § 233, Hü 476).361, 10–14Deshalb muss der Philosoph seine Zeit in ihrem Unterschiede gegenandre wohl abschätzen und, indem er für sich die Gegenwart überwindet, auchin seinem Bilde, das er vom Leben giebt, die Gegenwart überwinden]Nach N.sÜberzeugung ist die ‚unzeitgemäße‘ Betrachtung, die alle historischen Bedingt-heiten relativiert, zwar eine „schwere, ja kaum lösbare Aufgabe“, aber zugleichdie unabdingbare Voraussetzung für den objektivierenden Blick des Philoso-phen. Das Postulat der Unzeitgemäßheit erhält im vorliegenden Kontext beson-dere Bedeutung, weil N. es zur conditio sine qua non adäquater Erkenntniserklärt, der sich der Philosoph möglichst weitgehend annähern soll. In diesemSinne äußert sich N. auch noch in der Anfangspassage seiner SpätschriftDerFall Wagner: „Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich? SeineZeit in sich zu überwinden, ‚zeitlos‘ zu werden. Womit also hat er seinen här-testen Strauss zu bestehn? Mit dem, worin gerade er das Kind seiner Zeit ist.Wohlan! Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen eindéca-dent: nurdass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte. Der Philo-soph in mir wehrte sich dagegen“ (KSA 6, 11, 14–20).Schopenhauer schIießt seinePreisschrift über die Grundlage der Moralmiteiner Überlegung ab, die ebenfalls der Unzeitgemäßheit philosophischer Er-kenntnis gilt: „Indem man sucht, menschliche Erkenntniß und Einsicht zu för-dern, wird man stets den Widerstand des Zeitalters empfinden, gleich dem ei-ner Last, die man zu ziehn hätte, und die schwer auf den Boden drückt, aller
124Schopenhauer als ErzieherAnstrengung trotzend. Dann muß man sich trösten mit der Gewißheit, zwardie Vorurtheile gegen sich, aber die Wahrheit für sich zu haben, welche, sobaldnur ihr Bundesgenosse, die Zeit, zu ihr gestoßen seyn wird, des Sieges voll-kommen gewiß ist, mithin, wenn auch nicht heute, doch morgen“ (Schriftenzur Naturphilosophie und zur Ethik, Hü 275). Wie die ästhetische Kontemplati-on des Künstlers setzt auch die philosophische Reflexion laut Schopenhauereine willensfreie und objektive Erkenntnis voraus, die erst durch die Befreiungdes Intellekts vom Willensdienst möglich wird. In seiner SchriftUeber die Uni-versitäts-Philosophieerklärt Schopenhauer: „Die Philosophie ist, ihrer Naturnach, exklusiv: sie begründet ja die Denkungsart des Zeitalters: daher duldetdas herrschende System, wie die Söhne der Sultane, kein anderes neben sich.Dazu kommt, daß hier das Urtheil höchst schwierig, ja, schon die Erlangungder Data zu demselben mühevoll ist. Wird hier, durch Kunstgriffe, das Falschein Cours gebracht und überall, als das Wahre und Aechte, von belohnten Sten-torstimmen ausgeschrien; so wird der Geist der Zeit vergiftet“ (PP I, Hü 166).Vgl. auch NK 361, 19–21.361, 15–21Das Urtheil der alten griechischen Philosophen über den Werth desDaseins besagt so viel mehr als ein modernes Urtheil, [...] weil bei ihnen nichtwie bei uns das Gefühl des Denkers sich verwirrt in dem Zwiespalte des Wunschesnach Freiheit, Schönheit, Grösse des Lebens und des Triebes nach Wahrheit]Mitdieser spezifisch modernen Ambivalenz, die z. B. GoethesFaust-Drama auf pa-radigmatische Weise reflektiert, kontrastiert N. hier das homogenere Lebensge-fühl der Antike. In seiner nachgelassenen FrühschriftUeber Wahrheit und Lügeim aussermoralischen Sinnevon 1873 stellt er ein Jahr vor der Publikation vonUB III SE die Genese des „Trieb[es] zur Wahrheit“ (KSA 1, 876, 27–28) ins Zen-trum. – Über die Relation von Schönheit und Wahrheit reflektiert auch Scho-penhauer in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophie. Im Unterschiedzu N. schließt er hier allerdings selbst an die Tradition der Platonischen Philo-sophie an: „die Philosophie ist ein Ganzes, also eine Einheit, und ist auf Wahr-heit, nicht auf Schönheit gerichtet: es giebt vielerlei Schönheit, aber nureineWahrheit“ (PP I, Hü 166). Schopenhauer korreliert in dieser Schrift auch Frei-heit und Wahrheit, allerdings in einem spezifischeren Sinne, indem er die Un-abhängigkeit des Philosophen (PP I, Hü 161, 206) als notwendige Vorausset-zung für ein redliches, nicht durch egoistische Interessen eingeschränktesEngagement für die Wahrheit betrachtet (PP I, Hü 152, 158, 163, 164, 166, 190,196, 206).361, 22–25Es bleibt für alle Zeiten wichtig zu wissen, was Empedocles, inmittender kräftigsten und überschwänglichsten Lebenslust der griechischen Cultur, überdas Dasein ausgesagt hat; sein Urtheil wiegt sehr schwer]Von dem griechischen
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 361125Philosophen Empedokles (ca. 500–430 v. Chr.), der in seiner Heimatstadt Agri-gent auch eine wichtige politische Rolle spielte, die ihm angebotene Königs-würde aber ablehnte und später ins Exil gehen musste, sind naturphilosophi-sche und religiöse Dichtungen fragmentarisch überliefert. Möglicherweiseverfügte Empedokles auch über Kenntnisse in der Heilkunde; man schrieb ihmsogar magische Kräfte zu. Stark ausgeprägt war das von Empedokles formulier-te Selbstbewusstsein: So beanspruchte er apodiktisch die Rolle eines unfehlba-ren Weisheitslehrers für sich und glaubte übernatürliche Fähigkeiten zu besit-zen. Der Legende zufolge endete sein Leben damit, dass er sich in den Ätnastürzte. Der von N. in UB III SE (349, 19–21) zitierte Hölderlin schrieb ein Dramaüber das Schicksal des Empedokles.Von N. selbst sind Entwürfe zu einem geplanten Empedokles-Drama über-liefert (NL 1871, 8 [30–37], KSA 7, 233–237). In seiner nachgelassenen SchriftDie Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechennennt N. „das wunderbareGedicht des Empedokles“ (KSA 1, 811, 3). Welches „Urtheil“ des Empedokles„über das Dasein“ N. in 361, 22–29 und in 363, 21 meint, bleibt unklar, aberder Kontext lässt darauf schließen, dass es sich um ein pessimistisches Urteilhandelt, in dem N. Analogien zu Schopenhauers Bewertung des Lebens sieht.Als Quelle kommt von den beiden Werken des EmpedoklesPeri physeos(Überdie Natur) undKatharmoi(Reinigungen) eher das letztere in Betracht, das eineAffinität zur pythagoreischen Lehre erkennen lässt. DieKatharmoisind eineMahnrede an die Seele, die aus der göttlichen Sphäre in die Welt verschlagenund infolgedessen zu einem gefallenen, unreinen ‚Daimon‘ geworden sei. Nacheiner langen Phase der Seelenwanderung kann die Seele nach Empedokles ge-läutert (‚gereinigt‘) ihr ursprünglich göttliches Dasein wiedergewinnen. EinMittel solcher Reinigung ist die Askese, insbesondere durch die Enthaltungvon Fleischgenuss. ‚Reinheit‘ und ‚Reinigung‘ werden im Folgenden für N. zuLeitmotiven (362, 20–21, 362, 27–28, 363, 10). Vgl. auch UB IV WB (KSA 1, 434,12): „Schweigen und Reinsein!“361, 30–33Ein moderner Denker wird [...] immer an einem unerfüllten Wunscheleiden: er wird verlangen, dass man ihm erst wieder Leben, wahres, rothes, ge-sundes Leben zeige, damit er dann darüber seinen Richterspruch fälle.]‚Leben‘ist ein zentrales Thema in GoethesFaust-Drama, auf das N. in UB III SE wieder-holt Bezug nimmt. Der Protagonist Faust leidet unter seiner sterilen Gelehrten-existenz und sehnt sich nach authentischer Lebendigkeit: „Wo fass’ ich dich,unendliche Natur? / Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens“ (V. 455–456).N. selbst propagiert im Rahmen seines Vitalismus ‚Leben‘ als Alternative zuunfruchtbarer Décadence in einer vom Historismus geprägten Epoche. Vgl.dazu UB II HL und den Kommentar zu dieser Schrift in NK 1/2.
126Schopenhauer als Erzieher362, 1–5Hier ist der Grund, weshalb gerade die neueren Philosophen zu denmächtigsten Förderern des Lebens, des Willens zum Leben gehören, und weshalbsie sich aus ihrer ermatteten eignen Zeit nach einer Cultur, nach einer verklärtenPhysis sehnen.]Der Begriff ‚Wille zum Leben‘ signalisiert, dass N. hier implizitauf Schopenhauer Bezug nimmt. Zeitkritisch konnotiert ist N.s Vitalismus inso-fern, als er ihn als Antidot gegen die Krisensymptome der Décadence-Epochebetrachtet. Vgl. dazu N.s UB II HL. – Bereits in Schopenhauers SchriftUeberdie Universitäts-Philosophieist tendenziell eine zeitkritische Décadence-Diag-nose zu erkennen: Wird in der Philosophie „das Falsche in Cours gebracht undüberall, als das Wahre und Aechte [...] ausgeschrien; so wird der Geist der Zeitvergiftet“ (PP I, Hü 166). Schopenhauer hält die Philosophie Hegels für „dieUrsache der ganzen Degradation der Philosophie und, in Folge davon, des Ver-falls der höhern Litteratur überhaupt“ (PP I, Hü 184).362, 11–18Wenn jeder grosse Mensch auch am liebsten gerade als das ächteKind seiner Zeit angesehn wird [...], so ist der Kampf eines solchen Grossen g e -g e n seine Zeit scheinbar nur ein unsinniger und zerstörender Kampf gegen sichselbst. Aber eben nur scheinbar; denn in ihr bekämpft er das, was ihn hindert,gross zu sein, das bedeutet bei ihm nur: frei und ganz er selbst zu sein.]Die vonN. hervorgehobene Problematik der Unzeitgemäßheit findet sich bereits in derWelt als Wille und Vorstellung II: Hier behauptet Schopenhauer, dass die beson-dere Begabung des Genies „keineswegs geeignet ist, ihm einen glücklichenLebenslauf zu bereiten, vielmehr das Gegentheil. [...] Dazu kommt noch einMißverhältniß nach außen, indem das Genie, in seinem Treiben und Leistenselbst, meistens mit seiner Zeit im Widerspruch und Kampfe steht“ (WWV II,Kap. 31, Hü 447). Zuvor schreibt Schopenhauer bereits in derWelt als Wille undVorstellung I: „Man lese die Klagen großer Geister, aus jedem Jahrhundert, überihre Zeitgenossen: stets lauten sie wie von heute; weil das Geschlecht immerdas selbe ist“ (WWV I, § 49, Hü 279).Um den Zusammenhang von Freiheit und Authentizität zu zeigen, zitiertN. hier implizit eine Partie aus Schopenhauers populärstem Werk: aus denAphorismen zur Lebensweisheit(vgl. 5.B.9): „Ganz erselbst seyndarf Jedernur so lange er allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auchnicht die Freiheit: denn nur wann man allein ist, ist man frei“ (PP I, Hü 447).In analogem Sinne verbindet N. „Selbstigkeit“, Freiheit und Reinheit in derSchlusspartie von UB IV WB, hier konkret im Hinblick auf Wagners Siegfried-Gestalt, die N. zu einem idealen Typus stilisiert. Vgl. z.B. KSA 1, 509, 29–31:„Und die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger Selbstigkeit aus sich Wachsen-den und Blühenden, die Siegfriede unter euch?“362, 22–23gegen die falsche Anlöthung des Zeitgemässen an sein Unzeitge-mässes]N. gebraucht hier eine Metapher aus dem Bereich der Metallverarbei-
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 362–363127tung. Sie spielt aufdie Verbindung von Metallen durch eine zum Schmelzen füh-rende Erhitzung an. N. überträgt die Vorstellung der „Anlöthung“ generalisierendauf die Verbindung heterogener und inkompatibler Elemente im „grosse[n]Mensch[en]“ (362, 11) seiner Epoche: auf die spannungsreiche Amalgamierungdes Zeitgemäßen mit dem Unzeitgemäßen. Als paradigmatische Vorbildfigur fürN. fungiert Schopenhauer durch seinen eigenen inneren Kampf gegen „alles Zeit-gemässe“ (362, 31).362, 29die Schriften Schopenhauers als Spiegel der Zeit]In seiner SchriftUeberdie Universitäts-Philosophiereflektiert auch Schopenhauer das Verhältnis derPhilosophie zu ihrer Epoche: Einen Sonderstatus der Philosophie begründet ermit der Auffassung, dass auf ihr „die Denkungsart des Zeitalters“ basiere (PP I,Hü 166). Da „die herrschende Philosophie einer Zeit ihren Geist“ bestimme,habe die Dominanz der „Philosophie des absoluten Unsinns“ entsprechend fa-tale Folgen (PP I, Hü 184). Schopenhauer exemplifiziert diese Problematikdurch den Hegelianismus, den er für „die Ursache der ganzen Degradation derPhilosophie und, in Folge davon, des Verfalls der höhern Litteratur überhaupt“hält (PP I, Hü 184). – Allerdings unterscheidet sich N.s Einschätzung von derAuffassung Schopenhauers insofern, als er in UB I–IV das Zeitgemäße eigent-lich als das Unauthentische begreift. In diesem Sinne beschreibt er den KampfSchopenhauers gegen die vermeintlich depravierenden Wirkungen bestimmterhistorischer Bedingtheiten als eine Katharsis: N. betont, Schopenhauer habesich „jener falschen [...] Zeit“ widersetzt, „und indem er sie gleichsam aus sichauswies, reinigte und heilte er sein Wesen“ (362, 25–27). Als „Spiegel der Zeit“kommen Schopenhauers Werke nach N. (entgegen dem obigen Wortlaut) alsolediglich dann in Betracht, wenn man diese dialektischen Brechungen mitbe-rücksichtigt. Daher weist N. in 362, 22–23 auch selbst ausdrücklich auf die kom-plexen Vermittlungen des Zeitgemäßen mit dem Unzeitgemäßen hin.362, 31–34alles Zeitgemässe nur wie eine entstellende Krankheit [...] Sehnsuchtnach starker Natur]Hier formuliert N. eine radikale Décadence-Kritik. Letztlichintendiert er die Überwindung zeitgemäßer Depravation durch eine unzeitge-mäße Vitalität, die ihren Zenit im „Genius“ erreichen soll. Auch Schopenhauerentwirft am Ende seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophieein elitäresNaturkonzept, indem er die Natur als „aristokratisch“ beschreibt und betont,„daß Alles darauf ankommt, wie Einer aus den Händen der Natur hervorgegan-gen sei“ (PP I, Hü 209). Vgl. auch NK 338, 5–7.363, 7–8„was ist das Leben überhaupt werth?“]Auch hier nimmt N. Fragestel-lungen Schopenhauers auf, der sich in der Anfangspartie des Vierten Buchesin derWelt als Wille und Vorstellung Ifolgendermaßen über die Philosophieäußert: „hier, wo es den Werth oder Unwerth eines Daseyns, wo es Heil oder
128Schopenhauer als ErzieherVerdammniß gilt, geben nicht ihre todten Begriffe den Ausschlag, sondern dasinnerste Wesen des Menschen selbst“ (WWV I, § 53, Hü 319). Dass an dieserStelle auch der von N. zuvor bereits genannte Empedokles (361, 22–29) relevantist, zeigt das Ende des 3. Kapitels (363, 21).363, 9–11Er wusste es wohl, dass noch Höheres und Reineres auf dieser Erdezu finden und zu erreichen sei als solch ein zeitgemässes Leben]Im Rahmen vonN.s Kulturkritik impliziert diese Aussage einen positiven Begriff des Unzeitge-mäßen. Mit dem Motiv der Reinheit nimmt N. die Grundvorstellung aus denKatharmoi(Reinigungen) des Empedokles wieder auf, dessen Namen er amEnde des 3. Kapitels emphatisch nennt (363, 21).363, 15vielleicht das Leben überhaupt rechtfertigen]In N.s ErstlingsschriftDieGeburt der Tragödiehat dieser Gedanke zentrale Bedeutung. In dem 1886 vo-rangestellten „Versuch einer Selbstkritik“ nimmt N. auf die in derGeburt derTragödie„mehrfach“ wiederkehrende These Bezug, „dass nur als ästhetischesPhänomen das Dasein der Weltgerechtfertigtist“ (KSA 1, 17, 11–12). Undspäter erklärt er hier prononciert: „nur alsaesthetisches Phänomen istdas Dasein und die Welt ewiggerechtfertigt“(KSA 1, 47, 26–27). In derFröhlichen Wissenschaftschließt N. später tendenziell an Aspekte seiner frühenKunstmetaphysik an, indem er die Kunst als „Cultus des Unwahren [...], alsden gutenWillen zum Scheine“ beschreibt (KSA 3, 464, 11–19) und erklärt:„Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer nocherträglich,unddurch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazugegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zukönnen“(KSA 3,464, 25–27). Denn „wir brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende,spottende, kindische und selige Kunst, um jenerFreiheit über den Din-gen nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert“ (KSA 3, 465,5–8). Zur Entwicklung N.s von der ästhetischen Metaphysik seinerGeburt derTragödiezur späteren Physiologie der Kunst vgl. Volker Gerhardt 1984, 374–393.363, 21Die Antwort des Empedokles.]Mit dieser kryptischen Andeutung greiftN. auf die frühere Erwähnung des griechischen Philosophen zurück (361, 22–29). Aufgrund der bereits in NK 361, 23 charakterisierten Reinigungsthematik,die N. wohl aus denKatharmoi(Reinigungen) des Empedokles übernimmt, umsie dann selbst als notwendige Reinigung von allem ‚Zeitgemäßen‘ zu aktuali-sieren, würde die „Antwort des Empedokles“ nach N. vermutlich lauten: Nurdas Leben, das von allem Zeitgemäßen gereinigt und befreit ist, kann bejahtwerden. Indem N. hier bewusst kryptisch verfährt, folgt er dem esoterischenVerfahren der Pythagoreer, in deren Tradition auch Empedokles stand. InUB IV WB zitiert N. in einem auf Wagner und Bayreuth bezogenen Kontext das
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 363–364129pythagoreische Gebot (KSA 1, 434, 8) „Schweigen und Reinsein!“ (KSA 1, 434,12). Im Handexemplar ist der Name Empedokles mit einem Fragezeichen verse-hen, das möglicherweise von N. selbst stammt (KSA 14, 77).4.364, 7–11Es wäre also möglich, dass einem späteren Jahrhundert vielleicht ge-rade unser Zeitalter als saeculum obscurum gälte; weil man mit seinen Productenam eifrigsten und längsten die Öfen geheizt hätte.]Hier nimmt N. hypothetischeine kulturkritische Metaperspektive ein: durch die Abwertung seiner eigenenEpoche, die er hier im Conjunctivus potentialis als ein ‚dunkles Zeitalter‘ er-scheinen lässt – ähnlich wie (nach gängiger Auffassung) das ‚finstere‘ Mittelal-ter. In den Kontext seiner ‚unzeitgemäßen‘ Kulturkritik integriert N. auch dieVorstellung eines Autodafés (364, 1–7), die dem „saeculum obscurum“ nocheinen zusätzlichen Bedeutungsakzent gibt. Denn dieses dunkle Zeitalter könn-te zugleich als das unbekannte erscheinen, nachdem spätere Epochen dessenKulturprodukte verworfen und verbrannt hätten. Mit einer solchen zeitkritischakzentuierten Dunkelheitsmetaphorik korrespondiert auch ein nachgelassenesNotat aus dem Entstehungskontext von UB I DS, das den Titel trägt „Gegen denSchriftsteller David Strauss“. Dort erklärt N. 1873 unter Rekurs auf Lichtenberg:„Wenn die ‚Wir‘ von Strauß wirklich so zahlreich“ sind, dann „trifft ein, wasLichtenberg prophezeit, daß unsre Zeiten noch einmal diedunklenheißen“(NL 1873, 27 [5], KSA 7, 589).Im vorliegenden Kontext greift N. einerseits auf diese Prognose Lichten-bergs zurück, andererseits auf Thesen Schopenhauers zum Verhältnis zwi-schen Mitwelt und Nachwelt. In seiner SchriftUeber die Universitäts-Philoso-phie, auf die N. in UB III SE sowohl explizit als auch implizit Bezug nimmt(vgl. dazu den Vergleich in Kapitel III.4 des Überblickskommentars), entfaltetSchopenhauer eine analoge hypothetische Retrospektive von der Zukunft aufdie Gegenwart: Hier reflektiert er über das „Tribunal der Nachwelt, welches [...]auch eine Schandglocke führt, die sogar über ganze Zeitalter geläutet werdenkann“ (PP I, Hü 155). Und die zukünftigen Konsequenzen eines „Verrates ander Philosophie“ sieht er in der „Verachtung der Nation bei den Nachbarn, unddes Zeitalters bei der Nachwelt“ (PP I, Hü 188). – Wie weitgehend sich N. inUB III SE an Schopenhauer orientiert, erhellt auch daraus, dass er von ihmsogar die Vorstellung eines ‚Tribunals‘ übernimmt, das er einer (außerhalb derUniversität tätigen) Philosophie als singuläre Metafunktion aus der Überschau„einer gewissen würdevollen Weite“ zuspricht (425, 19–20): In einer Zeit, in der„der Universitätsgeist anfängt, sich mit dem Zeitgeiste zu verwechseln“,
130Schopenhauer als Erzieherscheint es N. „vom höchsten Werthe, wenn ausserhalb der Universitäten einhöheres Tribunal entsteht, welches auch diese Anstalten in Hinsicht auf dieBildung, die sie fördern, überwache und richte; und sobald die Philosophieaus den Universitäten ausscheidet und sich damit von allen unwürdigen Rück-sichten und Verdunkelungen reinigt, wird sie gar nichts anderes sein können,als ein solches Tribunal: [...] kurz gesagt, so wie Schopenhauer lebte, als derRichter der ihn umgebenden sogenannten Kultur“ (425, 6–17).Vgl. dazuNK 425, 7–17.N. führt seine Zeitkritik aus der Perspektive der „Nachwelt“ in UB III SE anspäteren Stellen weiter (vgl. z. B. 407, 29–31). Auch in anderen Textpassagenvon UB III SE thematisiert er die Nachwelt (vgl. 338–339, 401). Dass sich N. mitseiner unzeitgemäßen Perspektive auf die ‚Jetztzeit‘ und mit der Relativierungihrer Bedeutung an der kritischen Sicht Schopenhauers orientiert, erhellt auchaus seiner Behauptung, dass „wir Alle durch Schopenhauer unsgegenunsreZeit erziehen können – weil wir den Vortheil haben, durch ihn diese Zeit wirk-lich zukennen“(363, 25–27). Vgl. dazu ergänzend aufschlussreiche Belegeaus Schopenhauers SchriftUeber die Universitäts-Philosophie(PP I, Hü 155, 159,166, 169, 177, 184, 185, 188). Wiederholt enthalten die Reflexionen über dasVerhältnis zwischen „Mitwelt“ und „Nachwelt“, die Schopenhauer in verschie-denen Werkpartien anstellt, unzeitgemäße Perspektiven auf die Gegenwart, diebereits Einschätzungen N.s antizipieren. In einen größeren kulturgeschichtli-chen Zusammenhang stellt Schopenhauer seine Zeitkritik, wenn er in derWeltals Wille und Vorstellung Izu bedenken gibt: „Man lese die Klagen großer Geis-ter, aus jedem Jahrhundert, über ihre Zeitgenossen: stets lauten sie wie vonheute; weil das Geschlecht immer das selbe ist“ (WWV I, § 49, Hü 279).Ähnlich wie Schopenhauer bezieht auch N. in UB III SE ‚unzeitgemäße‘ Po-sitionen außerhalb seines eigenen historischen Horizonts, insbesondere dort,wo er hypothetisch einen Standpunkt aus der Sicht künftiger Generationen ein-nimmt, um seiner Gegenwartskritik größere Emphase zu verleihen. So antizi-piert N. ein Negativurteil aus der Perspektive der Nachwelt, indem er behaup-tet, dass „eine hellere Nachwelt unserer Zeit im höchsten Maasse den Vorwurfdes Verdrehten und Verwachsenen machen wird“ (407, 29–31). Diese ‚unzeitge-mäße‘ Metaperspektive aus der Zukunft ist ebenfalls schon bei Schopenhauerpräfiguriert, der in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophieein pejorati-ves Urteil über die „Jetztzeit“ fällt, der er am liebsten „in einem Zauberspiegelzeigen“ möchte, „wie sie in den Augen der Nachwelt sich ausnehmen wird“(PP I, Hü 185). Vgl. auch NK 346, 12–14.364, 25–27die Gründung des neuen deutschen Reiches sei der entscheidendeund vernichtende Schlag gegen alles „pessimistische“ Philosophiren]Die (nachN.s Ansicht) fatalen Fehleinschätzungen der Zeitgenossen, die aus militäri-
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 364–365131schen Siegen der Deutschen in unrealistischer Weise einen Kulturoptimismusableiten, werden schon am Anfang von UB I über David Friedrich Strauß kri-tisch reflektiert (KSA 1, 159–164): Dort bezeichnet N. als „die schlimmste“ Folgedes „mit Frankreich geführte[n] Krieg[es]“ den „Irrthum der öffentlichen Mei-nung [...], dass auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe“(KSA 1, 159, 14–18). Die Deutschen seiner Zeit sieht N. vom „Gegensatze derKultur, der Barbarei“ geprägt: von „der Stillosigkeit oder dem chaotischenDurcheinander aller Stile“ und einer „phlegmatische[n] Gefühllosigkeit für dieKultur“ (KSA 1, 163, 7–27). N. dekretiert: „bis jetzt giebt es keine deutsche origi-nale Kultur“ (KSA 1, 164, 4–5). Zu dieser kritischen Kulturdiagnose befindetsich das öffentliche Bewusstsein laut N. in schroffem Kontrast: „An dieser Ge-sellschaft ist jetzt, seit dem Kriege, Alles Glück, Würde und Selbstbewusstsein:sie fühlt sich, nach solchen ‚Erfolgen der deutschen Kultur‘, nicht nur bestätigtund sanctionirt, sondern beinahe sakrosankt, spricht deshalb feierlicher, liebtdie Anrede an das deutsche Volk, giebt nach Klassiker-Art gesammelte Werkeheraus und proclamirt [...] Einzelne aus ihrer Mitte als die neuen deutschenKlassiker und Musterschriftsteller“ (KSA 1, 161, 23–30) – eine Attitüde, die nichteinmal von den „gelehrten Ständen“ (KSA 1, 162, 4) in Frage gestellt werde.Vgl. dazu auch Schopenhauers Verdikt über die optimistische Geschichts-philosophie: Mit polemischem Nachdruck wendet er sich gegen die teleologi-schen Konzepte in der Geschichtsphilosophie Hegels (vgl. WWV II, Kap. 38,Hü 505), indem er erklärt: „Endlich laufen die Konstruktionsgeschichten, vonplattem Optimismus geleitet, zuletzt immer auf einen behaglichen, nahrhaften,fetten Staat, mit wohlgeregelter Konstitution [...] und höchstens auf intellektu-elle Vervollkommnung hinaus“ (WWV II, Kap. 38, Hü 506). Und Schopenhauerfährt fort: „Besagte Geschichts-Philosophen und -Verherrlicher sind demnacheinfältige Realisten, dazu Optimisten und Eudämonisten, mithin platte Gesel-len und eingefleischte Philister“ (WWV II, Kap. 38, Hü 507). N. attackiert inUB I DS die Bildungsphilister sowie die naiven Geschichts- und Kulturopti-misten.365, 6–7Journalismus [...] Geist und Ungeist des Tages und der Tageblätter]Schon seit 1830 und in verstärktem Maße dann seit 1848 hatte die Publizistikbesondere Bedeutung erlangt. Zum enormen Aufschwung des Pressewesenstrug das politische Engagement von Journalisten und Schriftstellern seit derZeit des Vormärz sowie nach der Revolution von 1848 maßgeblich bei. Die An-zahl von Zeitungen und Meinungsblättern von unterschiedlicher politischerCouleur, zu denen bürgerlich-liberale Zeitungen ebenso gehörten wie frühsoziali-stischeBlätter, wuchs kontinuierlich an, obwohl die Aktivitäten progressiverPresseorgane durch Beschlagnahmungen und Zensur von staatlich-konservati-ver Seite erheblich behindert wurden. Bekannt waren in damaliger Zeit vor
132Schopenhauer als Erzieherallem die Publizisten Ludwig Börne, Karl Gutzkow und Heinrich Laube. Zumhistorischen Hintergrund des Pressewesens und seiner Entwicklung im 19. Jahr-hundert vgl. auch NK 1/1, 368–371 (mit Bezug auf GT 20: KSA 1, 130, 19–25).In UB III SE kritisiert N. mit Nachdruck kulturelle Depravationen durch dieWirkungen eines philosophisch maskierten Journalismus, der die „öffentlichenMeinungen“ zu dominieren beginnt und sogar in die akademischen Institutio-nen einzieht, so „dass der Universitätsgeist anfängt, sich mit dem Zeitgeistezu verwechseln“ (425, 5–7). Je mehr sich „der Geist der Journalisten auf derUniversität“ eindrängt, und dies mitunter sogar „unter dem Namen der Philo-sophie“ (424, 33–34), desto weniger ist den Zeitgenossen laut N. bewusst, „wieweit der Ernst der Philosophie von dem Ernst einer Zeitung entfernt ist. SolcheMenschen haben den letzten Rest nicht nur einer philosophischen, sondernauch einer religiösen Gesinnung eingebüsst“ und sich mit dem Journalismusden „Ungeist des Tages“ eingehandelt (365, 1–6). Gegen diesen von den „Jour-nalisten“ repräsentierten „Zeitgeist“ (403, 14), der in den „öffentlichen Mei-nungen“ allgegenwärtig ist, zieht N. mit seinenUnzeitgemässen Betrachtungenzu Felde. Zuvor polemisiert er bereits in derGeburt der Tragödiegegen denJournalisten als einen bloßen Repräsentanten des Zeitgemäßen, nämlich als„papierne[n] Sclave[n] des Tages“ (KSA 1, 130, 20), der aber maßgeblichen Ein-fluss auf die Bildung und die ‚öffentliche Meinung‘ habe (vgl. KSA 1, 130, 18–24). Kritische Äußerungen über die ‚Journalisten‘, die ‚Zeitungsschreiberei‘, die‚Presse‘ und die Zeitungssprache verbinden sich in N.s Frühwerk wiederholtmit allgemeineren Attacken auf „die Knechtschaft unter öffentlichen Meinun-gen“ (425, 27) und deren „Tyrannei“ (353, 34). Zur Thematik der „öffentlichenMeinung“ vgl. ausführlich NK 159, 2, außerdem NK 425, 27.Mit seiner Polemik folgt N. Auffassungen von Arthur Schopenhauer undRichard Wagner, die sich ebenfalls kritisch über journalistische Diktion äußer-ten (vgl. dazu auch Pestalozzi 1988, 104). Indem N. in UB I DS mit seiner Kritikan der „öffentlichen Meinung“ eine energische Polemik gegen die „Monstra derJetztzeit-Schreiberei“ verbindet (KSA 1, 223, 3), greift er auf eine FormulierungSchopenhauers zurück (vgl. NK 223, 2–4), der den Begriff „Journalisten“ in denParerga und Paralipomena IIsarkastisch durch „Tagelöhner“ übersetzt (PP II,Kap. 23, § 272, Hü 533) und die „Zeitungen“ als den „Sekundenzeiger der Ge-schichte“ betrachtet: „Derselbe aber ist meistens nicht nur von unedlerem Me-talle, als die beiden andern, sondern geht auch selten richtig. [...] Uebertrei-bung in jeder Art ist der Zeitungsschreiberei eben so wesentlich, wie derdramatischen Kunst: denn es gilt, aus jedem Vorfall möglichst viel zu machen.Daher auch sind alle Zeitungsschreiber, von Handwerks wegen, Allarmisten“(PP II, Kap. 19, § 233, Hü 476). Ähnlich wie später auch N. wettert bereits Scho-penhauer gegen die „sogenanntenGelehrten“, die den„Journal- und Zei-
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 365133tungslitteraten“ nacheifern und mit ihnen in einen „Wettstreit der Dummheit“treten (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 563). Die fatalen Konsequenzen, die solche Zeit-tendenzen für die Kultur haben, betont N., wenn er sich in UB I DS entschiedenabgrenzt vom „unvergleichlich zuversichtlichen Benehmen der deutschen Zei-tungsschreiber und Roman- Tragödien- Lied- und Historienfabrikanten“ seinerZeit, die sich der „Kulturmomente“ der modernen Menschen zu bemächtigenund sie „durch gedrucktes Papier zu betäuben“ versuchen (KSA 1, 161, 16–22).Von genuiner ‚Bildung‘ grenzt N. die bloße ‚Gebildetheit‘ ab (vgl. dazu ausführ-lich NK 161, 2–3), die seines Erachtens außer den Bildungsphilistern mitunterauch die Journalisten charakterisiert.365, 7–9Jede Philosophie, welche durch ein politisches Ereigniss das Problemdes Daseins verrückt oder gar gelöst glaubt, ist eine Spaass- und Afterphiloso-phie.]Mit seiner Kritik an einer Philosophie, die von der naiven Vorstellungausgeht, durch bestimmte historische Ereignisse oder politische Veränderun-gen sei es möglich, existentielle Probleme zu bewältigen, orientiert sich N. amSprachgebrauch in Schopenhauers SchriftUeber die Universitäts-Philosophie.Bereits Schopenhauer kontrastiert seriöse Philosophie, die einen entschiede-nen Wahrheitsanspruch erhebt, mit bloßer „Spaaßphilosophie“ (PP I, Hü 167,169, 183). Er stellt den Ernst genuiner Philosophen der Oberflächlichkeit der„Spaaßphilosophen“ gegenüber, die „dürftige, gemeine, platte und rohe An-sichten hinter dem hochtrabenden Bombast“ verstecken (PP I, Hü 169). DasEtikett „Spaaßphilosophen“ heftet Schopenhauer auch ganz konkret den nach-kantischen Idealisten an, vor allem den „Hegelianer[n]“ (PP I, Hü 183). Explizitspricht er in diesem Zusammenhang von der Hegelschen „Afterweisheit“ (PP I,Hü 154, 177, 179). Und in derWelt als Wille und Vorstellung IIcharakterisiertSchopenhauer die „Kathederphilosophie“ aufgrund der von ihr verfolgtenpragmatischen Zwecke als eine bloße „Spaaßphilosophie“ (WWV II, Kap. 17,Hü 180).Der von N. gebrauchte Ausdruck „Problem des Daseins“ ist bei Schopen-hauer eine feste Wendung, die er in verschiedenen Werken gebraucht. So istin seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophieexplizit vom „Problem desDaseyns“ oder vom „Problem des Lebens“ die Rede (vgl. PP I, Hü 153, 169, 171,203). Den von N. formulierten Kontrast zwischen der bloßen ‚Spaassphiloso-phie‘ und der ‚echten‘ Philosophie derer, die ernsthaft mit dem „Problem desDaseins“ ringen, bringt bereits Schopenhauer in seiner SchriftUeber die Uni-versitäts-Philosophiezum Ausdruck. Emphatisch erklärt er hier: „O! daß mansolchen Spaaßphilosophen einen Begriff beibringen könnte von dem wahrenund furchtbaren Ernst, mit welchem das Problem des Daseyns den Denker er-greift und sein Innerstes erschüttert!“ (PP I, Hü 169). Auch im Kapitel „Selbst-denken“ derParerga und Paralipomena IIbetont Schopenhauer, „wie groß und
134Schopenhauer als Erzieherwie nahe liegend dasProblem des Daseynsist, dieses zweideutigen, ge-quälten, flüchtigen, traumartigen Daseyns“ – größer als „alle andern Problemeund Zwecke“ (PP II, Kap. 22, § 271, Hü 530). Eine problematische Diskrepanzsieht er jedoch darin, dass nur sehr wenige Menschen ein Bewusstsein „diesesProblems“ erlangen, die meisten hingegen ein gedankenloses, borniertes, un-reflektiertes Leben von Tag zu Tag führen. Aus dieser Konstellation ziehtSchopenhauer insofern anthropologische Konsequenzen, als er das sogenann-te animal rationale nur in eingeschränktem Sinne für „eindenkendes We-sen“ hält und voraussetzt, „daß der intellektuelle Gesichtskreis des Normal-menschen zwar über den des Thieres, – dessen ganzes Daseyn, der Zukunftund Vergangenheit sich nicht bewußt, gleichsam eine einzige Gegenwart ist, –hinausgeht, aber doch nicht so unberechenbar weit, wie man wohl anzuneh-men pflegt“ (PP II, Kap. 22, § 271, Hü 530).365, 11–17Wie sollte eine politische Neuerung ausreichen, um die Menschen einfür alle Mal zu vergnügten Erdbewohnern zu machen? Glaubt aber jemand rechtvon Herzen, dass dies möglich sei, so soll er sich nur melden: denn er verdientwahrhaftig, Professor der Philosophie an einer deutschen Universität, gleichHarms in Berlin, Jürgen Meyer in Bonn und Carrière in München zu werden.]EineVorstufe zur Reinschrift lautete folgendermaßen: „Ich wüsste nicht zu sagen,weshalb seit 1871 ein neuer Welttag beginnen sollte! Oder, wie soll sich dasProblem dadurch lösen, dass in irgend einem Winkel der Erde ein Volk sichwieder zusammenfindet? Wer da meint, daß eine politische Neuerung ausrei-che, um die Menschen ein für alle male zu vergnügten Erdbewohnern zu ma-chen, der verdient wahrhaftig Professor der Philosophie an einer deutschenUniversität zu sein. Ich schäme mich nämlich einzugestehen, dass Professorenwie Harms in Berlin, wie Jürgen Meyer in Bonn gerade so dumm sich geäusserthaben, ohne dass ihre Universitäten gegen eine solche Verirrung protestirt ha-ben“ (KSA 14, 77). – Friedrich Harms (1819–1880) war seit 1867 Professor derPhilosophie in Berlin und seit 1873 Mitglied der königlichen Akademie der Wis-senschaften. Jürgen Meyer (1829–1897) wirkte von 1868 an als Philosophiepro-fessor in Bonn. Der Hegelianer Moritz Carrière (1817–1895) war von 1853 an inMünchen tätig, zunächst als außerordentlicher Professor an der Universität,dann als ordentlicher Professor für Kunstgeschichte an der Akademie der bil-denden Künste.365, 18–22die Folgen jener neuerdings von allen Dächern gepredigten Lehre,dass der Staat das höchste Ziel der Menschheit sei [...]: worin ich [...] einen Rück-fall [...] in die Dummheit erkenne.]Implizit polemisiert N. hier gegen HegelsStaatsphilosophie und deren Anhänger, zu denen er (zumindest teilweise)auch die oben genannten Philosophieprofessoren zu zählen scheint. Inhaltlich
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 365135schließt N. mit seiner Attacke abermals an die SchriftUeber die Universitäts-Philosophiean. Hier wendet sich Schopenhauer dezidiert gegen „die HegelscheApotheose des Staats“ (PP I, Hü 156, 205, 164) und gegen die „Hegelei“, die„den ganzen Zweck des menschlichen Daseyns imStaataufgehn“ lässt (PP I,Hü 157), so dass ein Individuum in ähnlicher Weise auf Staatszwecke reduzierterscheint wie die „Biene im Bienenstock“ (PP I, Hü 164, 157). Vgl. dazu die kriti-sche Reflexion in Thomas Manns EssaySchopenhauer(Bd. IX, 563–567). – N.stimmt mit Schopenhauer auch in der Ansicht überein, dass „die Philosophieallem Einflusse des Staates entzogen“ sein (PP I, Hü 192) und von jeglicherInstrumentalisierung frei bleiben sollte.365, 28–30Deshalb beschäftige ich mich hier mit einer Art von Männern, derenTeleologie etwas über das Wohl des Staates hinausweist, mit den Philosophen]Im Rahmen teleologischer Konzepte (abgeleitet vom altgriechischen Begriff ‚Te-los‘: Ziel, Zweck) wird nicht nur das Handeln der Menschen, sondern auch dasNaturgeschehen auf leitende Zwecke zurückgeführt. Indem sich N. hier dezi-diert von bloßer Staatsteleologie abgrenzt, spielt er erneut auf SchopenhauersPolemik gegen die teleologisch ausgerichtete Geschichtsphilosophie Hegelsund den mit ihr verbundenen Optimismus an. Vgl. dazu z. B. die Ausführungenin SchopenhauersWelt als Wille und Vorstellung II: Die durch die „verdummen-de Hegelsche Afterphilosophie“ eingeführte Tendenz, „die Weltgeschichte alsein planmäßiges Ganzes zu fassen, oder [...] ‚sie organisch zu konstruiren‘“,basiert laut Schopenhauer auf einem vorphilosophischen naiven „Realis-mus“ und auf „plattem Optimismus“; zugleich sieht er „die Konstruktions-geschichten“ der Hegelianer „immer auf einen behaglichen [...] Staat“ hinaus-laufen (WWV II, Kap. 38, Hü 505, 506). Schopenhauer hält „das Bestreben“,die Geschichte „als ein Ganzes [...], nebst sinnvollem Zusammenhang, zu kon-struiren“, für ein „auf Mißverstand beruhendes“ Unterfangen (WWV II,Kap. 38, Hü 508). Vgl. auch NK 374, 21–25.Das Kapitel 26 in SchopenhauersWelt als Wille und Vorstellung IIträgt denTitel „Zur Teleologie“ und beginnt mit der programmatischen Erklärung: „Diedurchgängige, auf den Bestand jedes Wesens sich beziehende Zweckmäßigkeitder organischen Natur, nebst der Angemessenheit dieser zur unorganischen,kann bei keinem philosophischen System ungezwungener in den Zusammen-hang dessen treten, als bei dem, welches dem Daseyn jedes Naturwesens einenWillen zumGrunde legt, der demnach sein Wesen und Streben nicht bloßerst in den Aktionen, sondern auch schon in derGestalt deserscheinendenOrganismus ausspricht“ (WWV II, Kap. 26, Hü 372). Eine solche – merklichüber „das Wohl des Staates“ hinausreichende – Naturteleologie gehört konsti-tutiv zu Schopenhauers Willensphilosophie (vgl. auch NK 364, 25–27, NK 374,21–25 und NK 405, 14–16).
136Schopenhauer als Erzieher365, 34einige von Gold und andere von Tombak]Tombak ist eine Legierungaus den Metallen Kupfer und Zink, die für Schmuck und für Goldimitationenverwendet wird. Durch diese Metallmetaphorik betont N. den Gegensatz zwi-schen dem Edlen und Wertvollen einerseits und dem Unechten, Substanzlosenandererseits, das auf bloßer Nachahmung basiert.366, 1–3Wie sieht nun der Philosoph die Cultur in unserer Zeit an? Sehr andersfreilich als jene in ihrem Staat vergnügten Philosophieprofessoren.]Indem N. dieseriösen Philosophen, die den unbedingten Wahrheitsanspruch über alle ande-ren Interessen stellen und daher auch radikal Kritik an den Depravationen ih-rer eigenen Epoche üben, von den in naivem Optimismus schwelgenden Philo-sophieprofessoren abgrenzt, schließt er an die Kritik an, die Schopenhauer inseiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophieformuliert (vgl. dazu den aus-führlichen Vergleich beider Schriften in Kapitel III.4 des Überblickskommen-tars).366, 3–6Symptome einer völligen Ausrottung und Entwurzelung der Cultur [...]allgemeine Hast und zunehmende Fallgeschwindigkeit]In einem ‚Rundum-schlag‘ skizziert N. die Décadence-Phänomene seiner Zeit in allen Bereichen:Zum „Bilde des modernen Lebens“ (367, 7) gehören laut N. vielfältige Konse-quenzen der Säkularisierung, der Verlust sinnstiftender Orientierungen durchtraditionelle Normen und Werte, Depravationen durch den Primat ökonomi-scher Gesichtspunkte, internationale Konflikte infolge nationalistischer Strö-mungen, ein bildungsfeindliches Banausentum und eine Tendenz zu inhuma-ner Beschleunigung, die kontemplative Ruhe ebenso verhindert wie eineneinfachen und natürlichen Lebensrhythmus. Nach N.s Überzeugung schließtdiese kulturelle Décadence „die jetzige Kunst und Wissenschaft“ mit ein (366,17–18), also auch die Gelehrten.Bereits Schopenhauer formuliert in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophieeine ähnliche Diagnose. Anders als N. sieht er diese negative Ent-wicklung allerdings nahezu ausschließlich durch die nachkantischen Idealis-ten verursacht, insbesondere durch Hegel und den Hegelianismus. Schopen-hauers monokausaler Polemik zufolge haben die „Windbeuteleien bloßer, vonpersönlichen Zwecken geleiteter Sophisten, den nachtheiligsten Einfluß auf dieBildung des Zeitalters gehabt“ (PP I, Hü 184): Die prekäre Verabsolutierung „ei-nes so völlig werthlosen, ja, durchaus verderblichen Kopfes, wie Hegel, als desersten Philosophen dieser und jeder Zeit“ war laut Schopenhauer „zuverlässigdie Ursache der ganzen Degradation der Philosophie und, in Folge davon, desVerfalls der höhern Litteratur überhaupt, während der letzten 30 Jahre“ (PP I,Hü 184).366, 10laisser faire]Vgl. NK 344,8.
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 365–366137366, 13–16Niemals war die Welt mehr Welt [...]. Die gelehrten Stände sind nichtmehr Leuchtthürme oder Asyle inmitten aller dieser Unruhe der Verweltlichung]Das expressive Motiv „Leuchtthürme“ findet sich zuvor bereits mit ähnlichmarkanter Funktion in SchopenhauersParerga und Paralipomena II: „Dahersind die großen Geister, von denen auf hundert Millionen Menschen kaumEiner kommt, die Leuchtthürme der Menschheit, ohne welche diese sich in dasgränzenlose Meer der entsetzlichsten Irrthümer und der Verwilderung verlierenwürde“ (PP II, Kap. 3, § 56, Hü 81–82). Schopenhauers gedankliche Brücke zudieser ungewöhnlichen Metapher „Leuchtthürme“ lässt der Beginn des Ab-schnitts erkennen: „DasGenie[...]strahlt eigenes Licht aus, während die an-dern nur das empfangene reflektiren“ (PP II, Kap. 3, § 56, Hü 81). In seinerSchriftUeber die Universitäts-Philosophiecharakterisiert Schopenhauer die„Selbstdenker“, deren geistige „Früchte [...] der ganzen Menschheit zu Gutekommen“, ebenfalls mit der Lichtmetaphorik, die an Topoi der Aufklärung an-schließt: „sie allein sind es, von denen die Welt Belehrung empfängt. Dennnur das Licht, welches Einer sich selber angezündet hat, leuchtet nachmalsauch Andern“ (PP I, Hü 163). Conditio sine qua non dafür sei „das Vergessenseiner selbst und aller Zwecke“ (PP I, Hü 163).Auch die weltlichen Angelegenheiten bringt bereits Schopenhauer in sei-ner SchriftUeber die Universitäts-Philosophie– ähnlich wie später N. inUB III SE – in ein charakteristisches Verhältnis zum Wahrheitsanspruch: Dasunbedingte Wahrheitsethos des ‚echten‘ Philosophen kontrastiert er mit demPragmatismus der besoldeten „Kathederphilosophen“ (PP I, Hü 149), die sichvor allem an ihren egoistischen Interessen orientieren. Dezidiert erklärt er:„Zwei so verschiedenen Herren, wie der Welt und der Wahrheit, die nichts, alsden Anfangsbuchstaben, gemein haben, läßt sich zugleich nicht dienen“ (PP I,Hü 163–164). – Laut N. hat die von ihm diagnostizierte kulturelle Depravationproblematische Auswirkungen sogar auf die Intellektuellen, die in der allge-meinen Orientierungslosigkeit dann nicht mehr als „Leuchtthürme“ für die ver-unsicherten Zeitgenossen fungieren können.Das markante Motiv „Leuchtthürme“ findet sich auch in der StudieZurLiterargeschichtevon Franz Grillparzer, aus der N. in UB II HL zitiert (vgl. dazuNK 277, 5–9): Hier betont Grillparzer, „daß einzelne ausgezeichnete Männer derThat, des Wissens und der Kunst allerdings wie Leuchtthürme ihr Licht aufganze Generationen und Epochen geworfen haben“ (Grillparzer: SämmtlicheWerke, Bd. 9, 1872, 156). Aus Grillparzers StudieUeber den Nutzen des Studiumsder Geschichte(ebd, Bd. 9, 1872, 35–41) zitiert N. in UB II HL zweimal implizit(vgl. dazu NK 270, 9–15 und NK 311, 10–14).366, 18–20Der Gebildete ist zum grössten Feinde der Bildung abgeartet, denner will die allgemeine Krankheit weglügen und ist den Ärzten hinderlich.]Eine
138Schopenhauer als Erzieherderartige Pervertierung der Gebildeten beschreibt N. hier als Symptom der um-fassenden kulturellen Décadence, die er in seiner Epoche diagnostiziert. IndemN. seine Kulturkritik mithilfe medizinischer Metaphorik formuliert, pathologi-siert er seine Gegenwart. Bereits in derGeburt der Tragödieverwendet er analo-ge Vorstellungen von Entartung und Degeneration; dabei greift er auf Diagno-sen zurück, die in der damaligen Zeit Konjunktur hatten. In N.s Spätwerkerhalten Décadence-Konzepte dann sogar leitmotivische Bedeutung, auch imKontext der Polemik gegen Richard Wagner in der SchriftDer Fall Wagner.–N.s Gegenüberstellung von bloßer ‚Gebildetheit‘ und genuiner ‚Bildung‘ istdurch Wagners SchriftUeber das Dirigirenangeregt (vgl. GSD VIII, 313–315; vgl.auch NK 1/1, 368). In dieser Schrift kontrastiert Wagner bereits 1869 die „nichti-ge Gebildetheit“ mit der „wahren Bildung“, und zwar im Rahmen seiner Pole-mik gegen den Komponisten und Dirigenten Felix Mendelssohn Bartholdy. An-schließend attackiert Wagner auch den Musikkritiker Eduard Hanslick, derVorbehalte gegenüber der Wagnerschen Musik hatte: Wagner betont den „Un-muth“, der den „deutschen Musiker“ befalle, „wenn er heut’ zu Tage gewahrenmuß, daß diese nichtige Gebildetheit sich auch ein Urtheil über den Geist unddie Bedeutung unserer herrlichen Musik anmaaßen will“ (vgl. GSD VIII, 313–315). Vgl. auch NK 450, 8–13.Im vorliegenden Kontext von UB III SE übt N. Kritik an den Gebildeten,indem er ihnen einen verhängnisvollen Eskapismus zuschreibt: Wer die not-wendige Diagnose „weglügen“ will, verhindert demzufolge schon im Ansatzjedes seriöse Bemühen um eine Therapie für die „allgemeine Krankheit“ undschadet der Kultur dadurch sogar mehr als diejenigen, die auf die Krisensitua-tion der Zeit bloß mit Lethargie reagieren. Wenn der „Gebildete“ sogar zumBildungsfeind degeneriert, beeinträchtigt er nach N.s Ansicht die erforderli-chen kritisch-konstruktiven Zeitdiagnosen und blockiert dadurch die kulturelleEntwicklung. – N.s Tendenz, durch Pathologisierung von Epochenphänome-nen Kulturkritik zu betreiben, ist bereits in Schopenhauers SchriftUeber dieUniversitäts-Philosophiepräfiguriert, wenngleich im spezifischeren Kontext ei-ner Polemik gegen die Folgeschäden der „Hegelei“ (PP I, Hü 156, 157, 177, 178,205), die Schopenhauer hier mit einer Syphilis-Infektion vergleicht (vgl. PP I,Hü 178): Wie bei einer syphilitischen Paralyse sei durch „leere[n] Wortkram“die „Denkkraft aufgelöst“ worden (ebd.) N. adaptiert in UB III SE bezeichnen-derweise nicht nur Schopenhauers Tendenz zur Pathologisierung, sondernauch seine pejorative Vokabel „Hegelei“ (423, 26).Nach derGeburt der Tragödieintegriert N. die Gegenüberstellung von ge-nuiner ‚Bildung‘ und bloßer ‚Gebildetheit‘ in seineUnzeitgemässen Betrachtun-gen, um durch begriffliche Oppositionen innerhalb seiner Kulturkritik eineschärfere gedankliche Profilierung zu erzielen. Von konstitutiver Bedeutung ist
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 366139diese Differenz insbesondere für N.s Argumentation in UB I DS. Dort kontras-tiert er das Defizitäre bloßer „Gebildetheit“ mit seiner „Hoffnung auf eine wirk-liche ächte [sic] deutsche Bildung“ (KSA 1, 161, 2–3). Mit dem vom PartizipPerfekt Passiv abgeleiteten Substantiv ‚Gebildetheit‘ betont N. das statische Re-sultat eines abgeschlossenen Vorgangs und schafft dadurch einen Gegensatzzum Begriff ‚Bildung‘, den er in UB I DS tendenziell prozessual im Sinne einerlebendigen, zukunftsoffenen Dynamik versteht. Ein solches Konzept der ‚Bil-dung‘ unterscheidet sich grundlegend von der Mentalität ‚Gebildeter‘, die ihrBildungsgut als stabilen, stets verfügbaren Besitz begreifen. So diagnostiziertN. an den ‚Gebildeten‘ einen Habitus selbstzufriedener Philistrosität, wie er ihnin UB I DS konkret David Friedrich Strauß vorwirft. Für die geistige Stagnationder Bildungsphilister ist es laut N. charakteristisch, dass sie „nichts Wesentli-ches an dem gegenwärtigen Stande der deutschen Gebildetheit geändert ha-ben“ wollen (KSA 1, 205, 11–17) und von der „Singularität der deutschen Bil-dungsinstitutionen, namentlich der Gymnasien und Universitäten, überzeugt“sind (KSA 1, 205, 18–20). Zudem glauben sie in illusionärer Selbstüberschät-zung, durch diese Institutionen zum „gebildetste[n] und urtheilsfähigste[n]Volk der Welt“ geworden zu sein (KSA 1, 205, 22).Zur Borniertheit der „gelehrten Stände“ (KSA 1, 162, 4) gehört es nach N.sÜberzeugung, dass sie die „Sorge um die allgemeine deutsche Bildung“ nichtverstehen, weil sie „mit dem höchsten Grade von Sicherheit überzeugt [sind],dass ihre eigene Bildung die reifste und schönste Frucht der Zeit, ja aller Zeitensei“ (KSA 1, 162, 7–10). Zum Begriff ‚Bildungsphilister‘, den N. sowohl inUB I DS (KSA 1, 165, 6, 10) als auch in UB III SE (352, 27; 401, 24–25) gebraucht,vgl. NK 165, 6 sowie NK 352, 27 und NK 401, 24–25. – Im Unterschied zur rück-wärts gewandten bloßen ‚Gebildetheit‘ philiströser Geister, vor allem der ‚Bil-dungsphilister‘, schließt echte ‚Bildung‘ nach N.s Auffassung eine zukunftsori-entierte geistige Flexibilität ein. In UB II HL kontrastiert N. in diesem Sinne dienostalgische Retrospektive der ‚Gebildeten‘ auf die Kulturgeschichte mit demintellektuellen Zukunftspotential einer „reichen und lebensvollen Bil-dung“(KSA 1, 307, 12–13). Den Geistesheroen früherer Kulturepochen, die N.als kreativ ‚Suchende‘ charakterisiert (vgl. KSA 1, 167, 15), stehen die ‚Philister‘seiner Gegenwart aufgrund ihrer leeren Bildungsprätention diametral gegen-über. Die schon in UB I DS entfaltete Kritik am Habitus der Gelehrten, die denWert ihrer ‚Gebildetheit‘ erheblich überschätzen, steigert N. in UB III SE bis zurGelehrtensatire (vgl. 394, 20 – 399, 28). Hier betont er zugleich den Antagonis-mus zwischen dem sterilen ‚Gelehrten‘ und dem kreativen ‚Genius‘ (vgl. 399,31 – 400, 8), den er durch seinen eigenen ‚Erzieher‘ Schopenhauer idealtypischrepräsentiert sieht. Analog zu Richard Wagner kritisiert N. in UB IV WB denTypus des sogenannten „Gebildeten“ als Vertreter einer degenerierten Kulturund als den großen „Feind“ Bayreuths (KSA 1, 450, 8–9).
140Schopenhauer als ErzieherDen defizitären Zustand bloßer ‚Gebildetheit‘ erläutert N. in UB I DS so:„Vieles Wissen und Gelernthaben ist aber weder ein nothwendiges Mittel derKultur, noch ein Zeichen derselben und verträgt sich nöthigenfalls auf dasbeste mit dem Gegensatze der Kultur, der Barbarei, das heisst: der Stillosig-keit oder dem chaotischen Durcheinander aller Stile“ (KSA 1, 163, 4–8). N.sieht ‚Bildung‘ wie ‚Kultur‘ in positivem Sinne durch Homogenität ausge-zeichnet, durch die „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusse-rungen eines Volkes“ (KSA 1, 163, 3–4). Dadurch betont er den Kontrast zur„chaotischen“ Melange von Stilen, die für die „moderne Jahrmarkts-Buntheit“seiner eigenen Epoche charakteristisch sei (KSA 1, 163, 22–23). – Im fünftenseiner nachgelassenen VorträgeUeber die Zukunft unserer Bildungsanstaltenkritisiert N. die Strategie der „Jünger der ‚Jetztzeit‘“, den „naturgemäßen phi-losophischen Trieb durch die sogenannte ‚historische Bildung‘ zu paralysi-ren“ (KSA 1, 742, 11–14). Diese Argumentationslinie führt N. in UB II HL fort,wo er die problematischen Folgen einer historisierenden Bildungskultur zumZentralthema avancieren lässt. Ähnlich wie in UB I DS polemisiert N. auch indenFünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Bücherngegendie„Gebildeten“unddie„Philister“(KSA 1, 779, 34 – 780, 2). – Zum begrifflichen Spannungs-feld zwischen Gebildetheit, Bildung, Kultur und Barbarei bei N. vgl. ausführli-cher NK 161, 2–3.366, 20–23Sie werden erbittert, diese abkräftigen armen Schelme, wenn manvon ihrer Schwäche spricht und ihrem schädlichen Lügengeiste widerstrebt.]Schopenhauer sieht in den „Schriften unserer Universitäts-Philosophen“ einePräokkupation durch Interessen der Theologie wirksam, die den Wahrheitsan-spruch konterkariert: Ohne Engagement „für die Wahrheit [...] werden Sophis-men, Erschleichungen, Verdrehungen, falsche Assertionen mit unerhörter Dreis-tigkeit, angewandt“ und „der Vernunft [...] angeborene Ideen, – angedichtet,oder richtiger angelogen“ (PP I, Hü 202). Den Antagonismus von Wahrheitsan-spruch und Eigennutz betont N. in UB III SE mit ähnlichem Nachdruck wieSchopenhauer in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophie. Beide kritisie-ren den als Strategie zur Verschleierung der eigenen geistigen Substanzlosigkeitfungierenden Obskurantismus (PP I, Hü 172, 173, 186; SE 419, 425) philosophi-scher Philister (PP I, Hü 158, 177; SE 352, 371, 401), die mit ihren pretiösen undabstrakten Phrasen imponieren wollen (PP I, Hü 170, 173–177) und mit „Flausen“(PP I, Hü 170; SE 371), „Jargon“ und „Bombast“ (PP I, Hü 169, 177) bloß ihre Ge-dankenarmut zu kaschieren versuchen (PP I, Hü 169, 172, 179). Und beide haltendiesem Obskurantismus die Klarheit, Redlichkeit (PP I, Hü 202, 204; SE 348),Originalität, Objektivität (PP I, Hü 182, 204) und „Besonnenheit“ (PP I, Hü 181;SE 377) der seriösen Philosophen entgegen.
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 366141366, 23–27Sie möchten gar zu gerne glauben machen, dass sie allen Jahrhun-derten den Preis abgelaufen hätten und sie bewegen sich mit künstlicher Lustig-keit. Ihre Art, Glück zu heucheln, hat mitunter etwas Ergreifendes, weil ihr Glückso ganz unbegreiflich ist.]N. bedient sich hier einer Strategie psychologischerEntlarvung, indem er gerade die Erfolgs- und Glücksprätention der Gebildetenals vordergründigen Versuch versteht, ihre Schwäche durch eine Überkompen-sation zu kaschieren. Mit der Kritik an einem künstlich forcierten und unrealis-tischen Fortschrittsoptimismus spielt N. auf einen Gedanken an, den Goethein seinemFaust-Drama der bornierten, von naivem Bildungsstolz erfülltenWagner-Figur in den Mund legt, einem Philister par excellence. Ein Indiz dafürist die Formulierung, mit der N. dieses Thema an späterer Stelle von UB III SEwieder aufnimmt und folgendermaßen weiterführt: „Sollen sie angelehrt wer-den, in den Jubel einzustimmen, wie wir’s doch so herrlich weit gebracht?“(417, 19–21). Diese rhetorische Frage enthält ein implizites Zitat aus GoethesFaust I: „Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen, / Sich in den Geist der Zeiten zuversetzen; / Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht, / Und wie wir’sdann zuletzt so herrlich weit gebracht“ (V. 570–573).Analog zu dieser Kritik an einem naiven Geschichtsoptimismus, den Goe-the inFaust Iam Famulus Wagner vorführt, entfaltet Schopenhauer in denParerga und Paralipomena IIeine Polemik gegen die Selbstüberschätzung „dergegenwärtigen, geistig impotenten und sich durch die Verehrung des Schlech-ten in jeder Gattung auszeichnenden Periode“, die sich „mit dem selbstfabricir-ten, so prätentiösen, wie kakophonischen Worte ‚Jetztzeit‘ bezeichnet, als wäreihr Jetzt [...] das Jetzt, welches heranzubringen alle anderen Jetzt allein dage-wesen“ (PP II, Kap. 11, § 146, Hü 304).366, 27–28Man möchte sie nicht einmal fragen, wie Tannhäuser den Biterolffragt: „was hast du Ärmster denn genossen?“]Vgl. Richard Wagners OperTann-häuser und der Sängerkrieg auf Wartburg(Uraufführung 1845), 2. Aufzug,4. Szene: „Tannhäusermit immer steigender Hitze auffahrend./ Ha, tör’gerPrahler Biterolf! / Singst du von Liebe, grimmer Wolf? / Gewißlich hast dunicht gemeint, / was mir genießenswert erscheint! / Was hast du, Ärmster,wohl genossen? / Dein Leben war nicht liebereich – / und was von Freudendir entsprossen, / das galt wohl wahrlich keinen Streich!“ – Wagners OperTannhäusererwähnt N. auch in UB IV WB (KSA 1, 507, 26).366, 30–31am hohen Gebirge wohnen wir, gefährlich und in Dürftigkeit]Anspäterer Stelle von UB III SE führt N. dieses Motiv weiter aus: „So hoch zu stei-gen, wie je ein Denker stieg, in die reine Alpen- und Eisluft hinein, dorthin woes kein Vernebeln und Verschleiern mehr giebt und wo die Grundbeschaffen-heit der Dinge sich [...] ausdrückt“ (381, 5–9). Das Motiv des einsamen Wande-
142Schopenhauer als Erzieherrers im Gebirge ist später auch in N.sAlso sprach Zarathustravon Bedeutung.Exemplarisch erhellt dies bereits aus dem Beginn von „Zarathustra’s Vorrede“:„Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimat und den Seeseiner Heimat und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes undseiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde“ (KSA 4, 11, 3–6).Kurz darauf heißt es: „Zarathustra stieg allein das Gebirge abwärts und Nie-mand begegnete ihm“ (KSA 4, 12, 12–13). Sogar sein Selbstverständnis verbin-det er mit der Gebirgslandschaft: „Zu lange wohl lebte ich im Gebirge, zu vielhorchte ich auf Bäche und Bäume: nun rede ich ihnen gleich den Ziegenhir-ten. / Unbewegt ist meine Seele und hell wie das Gebirge am Vormittag. Abersie meinen, ich sei kalt und ein Spötter in furchtbaren Spässen“ (KSA 4, 20,31 – 21, 3). N.s geistesaristokratische Grundtendenz, die in seiner Gebirgsmeta-phorik einen konsequenten Ausdruck findet, hat auch in der Rezeption einebesondere Rolle gespielt: vgl. dazu einschlägige Äußerungen von Georg Brandessowie von Georg Simmel und Max Scheler (zitiert in Kapitel III.6 des Überblicks-kommentars). Vgl. dazu auch NK 383, 32 – 384, 2.Jahrzehnte zuvor verwendet Schopenhauer die Gebirgsmetapher in Verbin-dung mit der Symbolik des Scheideweges bereits in seiner SchriftUeber dieUniversitäts-Philosophie. Schon hier fungieren diese bildhaften Vorstellungenals markante Distinktionsmerkmale im Rahmen einer geistesaristokratischenStandortbestimmung. Schopenhauer meint, die Philosophie gedeihe „wie dieAlpenrose [...] nur in freier Bergluft“, nicht hingegen in der künstlichen Atmo-sphäre des universitären Gewerbes (PP I, Hü 167), und er behauptet, der „Gip-fel dieses Parnassus“ sei durch philosophische Ignoranten „immer breiter ge-treten“ worden (PP I, Hü 190). Mit dem ausgetretenen, bequemen Weg dergroßen Masse kontrastieren Schopenhauer und N. den steilen, schmalen undriskanten Pfad zur Wahrheit, auf dem sich die kleine Gruppe der geistigen Eliteabmüht (PP I, Hü 207–208; SE 402–403, 340). In der Schlusspartie seinerSchriftUeber die Universitäts-Philosophiebetont Schopenhauer: „aristokratischist die Natur, aristokratischer, als irgend ein Feudal- und Kastenwesen. Demge-mäß läuft ihre Pyramide von einer sehr breiten Basis in einen gar spitzen Gipfelaus“ (PP I, Hü 209–210). Und in einem antirevolutionären Affekt fährt Scho-penhauer fort: „Und wenn es dem Pöbel und Gesindel, welches nichts übersich dulden will, auch gelänge, alle andern Aristokratien umzustoßen; so müß-te es diese doch bestehn lassen, – und soll keinen Dank dafür haben: denn dieist so ganz eigentlich ‚von Gottes Gnaden‘“ (PP I, Hü 210).366, 34Wanderer]Wie bedeutsam das Motiv des Wanderers für N. ist, zeigtschon der Titel, den er für die „Zweite Abtheilung“ vonMenschliches, Allzu-menschliches IIgewählt hat: „Der Wanderer und sein Schatten“ (KSA 2, 535). –Vgl. auch NK 366, 30–31.
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 366–367143367, 5das öde und grausame Antlitz der Natur]Ähnliche Aussagen finden sichbereits bei Schopenhauer: Er sieht „das individuelle Leben in unaufhörlichemKampfe um die Existenz selbst“; denn „zum Bestande des Ganzen“ und „jedesEinzelwesens sind die Bedingungen knapp und kärglich gegeben“ (WWV II,Kap. 46, Hü 670). Und seine Quintessenz lautet: „Was für eine entsetzliche Na-tur ist diese, der wir angehören!“ (WWV II, Kap. 28, Hü 406, Anm.). Auch dieTendenz, mithilfe anthropomorpher Natur-Metaphorik eine bildhafte Anschau-lichkeit zu erzielen, ist bereits bei Schopenhauer ausgeprägt. Er äußert sichnicht nur über den Busen, den Schoß, die Zeugungskraft, die Hände, die Sorg-falt, die Stimme und die Sprache der Natur, sondern behauptet auch, sie wisse,was sie wolle (vgl. WWV I, Hü 332; PP I, Hü 209; PP II, Hü 109, 161, 166, 167). –Über anthropomorphe Naturvorstellungen hinaus, die für Schopenhauers Wer-ke ebenso charakteristisch sind wie für N.s UB III SE, lassen die pessimisti-schen Prämissen hier gleichfalls den Einfluss Schopenhauers erkennen. Mitdem fundamentalen Negativismus seiner Natur- und Willensphilosophie wen-det sich Schopenhauer gegen die „Absurdität“ optimistischer Konzepte, die inUB III SE auch N. kritisiert (vgl. 364–365). So schreibt Schopenhauer in seinerWelt als Wille und Vorstellung II: „Inzwischen heißt ein Optimist mich die Au-gen öffnen und hineinsehn in die Welt, wie sie so schön sei, im Sonnenschein,mit ihren Bergen, Thälern, Ströhmen, Pflanzen, Thieren u.s.f. – Aber ist denndie Welt ein Guckkasten? Zusehnsind diese Dinge freilich schön; aber sie zuseynistganz etwas Anderes“ (WWV II, Kap. 46, Hü 667).367, 6–8Wenn es aber einseitig sein sollte, nur die Schwäche der Linien unddie Stumpfheit der Farben am Bilde des modernen Lebens hervorzuheben]DieMetapher vom ‚Gemälde‘ oder ‚Bild‘ des Lebens verwendet N. in UB III SEmehrfach (vgl. 356, 17, 28–29; 357, 9; 361, 13). Ähnlich wie bereits an frühererStelle (356, 17–31) expliziert er diese Metapher auch im vorliegenden Kontextso, dass ihr ästhetischer Ursprung evident wird. Dass N.s Vorstellung vom‚Bild‘ des Lebens an Schopenhauer anschließt, zeigt das folgende Zitat: „DasLeben ist nie schön, sondern nur die Bilder des Lebens sind es, nämlich imverklärenden Spiegel der Kunst oder der Poesie“ (WWV II, Kap. 30, Hü 428).Anders als in den früheren Partien von UB III SE verwendet N. die Vorstellungvom ‚Bild‘ des Lebens hier allerdings mit einer kulturhistorischen Spezifikati-on, die sich vom ‚Bild‘ des Lebens in Schopenhauers Sinne unterscheidet.367, 12Braukessel einer Hexenküche]In der Regieanweisung, die Goethe derSzene „Hexenküche“ imFaust I(V. 2337–2604) vorangestellt hat, wird „ein gro-ßer Kessel über dem Feuer“ erwähnt.367, 14–15Seit einem Jahrhundert sind wir auf lauter fundamentale Erschütte-rungen vorbereitet]Hier spielt N. auf die Französische Revolution und auf die
144Schopenhauer als Erzieherspäteren revolutionären Erschütterungen von 1830 und 1848 an, auf die bereitsSchopenhauer am Ende seiner SchriftUeber die Universitäts-PhilosophieBezugnimmt. Hier grenzt er sich von revolutionären Zielen ab und zeigt dadurchseine restaurative Gesinnung. Schopenhauer hält „die Natur“ für „aristokrati-scher, als irgend ein Feudal- und Kastenwesen“ (PP I, Hü 209–210) und offen-bart damit seine geistesaristokratischen Grundüberzeugungen. Dazu nutzt erMetaphern, die auf Gesellschaftsmodelle zurückgreifen, überträgt sie aber aufnaturale Bedingungen von Individualität, um dadurch sein Konzept einer intel-lektuellen Elite zu veranschaulichen.367, 17–18die constitutive Kraft des sogenannten nationalen Staates]Gemeintsind hier die Mächte, die einen Staat und seine Verfassung bestimmen. In derkonstitutionellen Volksvertretung teilt sich der Regent die Macht mit dem Volk;beide unterstehen der Gesetzgebung. Das moderne Prinzip der politischen Ge-waltenteilung gehört zu den Errungenschaften der Französischen Revolution,in der die Bürger als dritter Stand gegen die sozioökonomische Dominanz desKlerus und der Aristokratie als des ersten und zweiten Standes aufbegehrten,und zwar unter dem Druck der sozialen Misere, die durch etablierte Privilegienund die Misswirtschaft des absoluten Monarchen verschuldet war. Für moder-ne Demokratien seit der Französischen Revolution ist das Prinzip der Gewal-tenteilung konstitutiv: Zur Vermeidung von Interessenpolitik und zur Sicher-stellung sozialer Gerechtigkeit werden Exekutive, Legislative und Judikativestrikt voneinander getrennt.367, 28Periode der Atome, des atomistischen Chaos]Wiederaufnahme desThemas von 360, 16. Während N. diese Vorstellung dort auf die Situation desIndividuums bezieht, erweitert er sie hier mit kulturkritischer Absicht. Der Zer-fall gesellschaftlicher Formationen in Einzelelemente hat laut N. Chaos zurFolge. In seiner SpätschriftDer Fall Wagnerbeschreibt er die Décadence-Symp-tomatik auf analoge Weise: „Stil derdécadence: jedes Mal Anarchie der Ato-me, Disgregation des Willens, [...] Chaos“ (KSA 6, 27, 22–29). Für diesen Stilerscheint ihm Wagners Musik als repräsentativ. In UB III SE greift N. die The-matik des Atoms nochmals auf, wenn er eine „atomistische“ Revolution kon-statiert und anschließend nach den „kleinsten untheilbaren Grundstoffe[n]der menschlichen Gesellschaft“ fragt (368, 17–19).367, 33Adiaphora]Dieser Begriff stammt aus dem Altgriechischen (ἀδιάφορα)und lässt sich wörtlich übersetzen mit ‚Nichtunterschiedenes‘, spezifischer mit‚Gleichgültiges‘. Als philosophischer Terminus bezeichnet er – vor allem in denLehren der Stoiker – moralisch wertneutrale Dinge oder Verhaltensweisen, diefür die Qualifikation als gut oder böse irrelevant sind. In der Theologie wirdder Begriff für Handlungen verwendet, die im Hinblick auf Rechtgläubigkeitoder Seelenheil als bedeutungslos gelten.
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 367–368145368, 1Kaufpreis]Im Handexemplar des Erstdrucks steht: Kampfpreis (KSA 14,77).368, 6Egoismus der Erwerbenden]DiesesThema,das N.auch in368,8 mitwört-licher Wiederholung exponiert, erörtert er eingehend im 6. Kapitel von UB III SE:Hier differenziert er zwischen verschiedenen Arten „vonmissbrauchterund in Dienste genommener Kultur“(387, 15–16). Die erste Art des Kul-turmissbrauchs bezeichnet er als „dieSelbstsucht der Erwerbenden“(387, 20) und reflektiert sie dann eingehend (387, 20 – 388, 25). Es folgen „zwei-tens dieSelbstsucht des Staates“(388, 26), „drittens die Kultur“ der„schöne[n] Form“,diedemZweck dient, einen hässlichen oder langweiligenInhalt dekorativ zu kaschieren und ihn dadurch als „interessant“ zu inszenieren(389, 21–31), und „viertens dieSelbstsucht der Wissenschaftunddasei-genthümliche Wesen ihrer Diener, derGelehrten“(393, 26–28): Ihnen wendetsich N. mit einer amüsanten Satire zu, in der er verschiedene Gelehrten-Typenbeleuchtet (393, 26 – 404, 3). Dabei kritisiert er auch den ökonomischen Pragma-tismus der Gelehrten (398, 3–7). – Bereits Schopenhauer attackiert in seinerSchriftUeber die Universitäts-Philosophie, die N. in UB III SE zweimal explizit er-wähnt (413, 418), den Typus des egoistischen Gelehrten, der sich durch den Er-werb von Geld, Titeln, Ämtern und Reputation korrumpieren lässt (PP I, Hü 164,166, 167, 190, 196; SE 387, 388, 398, 400).368, 7–12Der Staat [...] wünscht dass die Menschen mit ihm denselben Götzen-dienst treiben möchten, den sie mit der Kirche getrieben haben.]Den Hintergrundbildet Schopenhauers Polemik gegen jegliche Apotheose des Staates durch diePhilosophie. Schopenhauer wendet sich damit vor allem gegen den zeitgenössi-schen Hegelianismus. In seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophiebe-schreibt er mehrere Möglichkeiten, wie die freie und kompromisslose „Wahr-heitsforschung“ (PP I, Hü 149) des Philosophen korrumpiert werden kann:Zum einen geschieht dies durch die Vereinnahmung der Philosophie durch dieInteressen spekulativer Theologie (PP I, Hü 153, 190, 196, 200, 202, 203), die siezur „Apologie der Landesreligion“ degradiert (PP I, Hü 151, 150, 154, 159, 194,203, 204) oder sie sogar auf die längst obsolet gewordene Funktion einer bloßen„ancilla theologiae“ festlegt (PP I, Hü 200). Zum anderen polemisiert Schopen-hauer gegen eine staatliche Instrumentalisierung der Philosophie: „Da kann esgeschehn, daß aus einem Priester der Wahrheit ein Verfechter des Truges wird,der eifrig lehrt was er selbst nicht glaubt [...]; oder auch, daß er, weil vom Staatund zu Staatszwecken besoldet, nun den Staat zu apotheosiren, ihn zum Gipfel-punkt alles menschlichen Strebens und aller Dinge zu machen, sich angelegenseyn läßt, und dadurch nicht nur den philosophischen Hörsaal in eine Schuleder plattesten Philisterei umschafft, sondern am Ende, wie z. B. Hegel, zu der
146Schopenhauer als ErzieherempörendenLehregelangt,daßdieBestimmungdesMenschenimStaatauf-gehe, – etwan wie die der Biene im Bienenstock; wodurch das hohe Ziel unsersDaseyns den Augen ganz entrückt wird“ (PP I, Hü 164; analog: PP I, Hü 157).Nach Schopenhauer soll „die Philosophie allem Einflusse des Staates entzogen“sein (PP I, Hü 192) und von jeglicher Instrumentalisierung frei bleiben. An ande-rer Stelle derselben Schrift erklärt Schopenhauer: „die Hegelsche Apotheose desStaats wird bis zum Kommunismus weiter geführt“ (PP I, Hü 156). N.s kritischeVorstellungvom„Götzendienst“mitdemStaatentsprichtsinngemäßderFormu-lierung „Apotheose des Staats“ (PP I, Hü 156), die Schopenhauer im Schlussteilder genannten Schrift wörtlich wiederholt (PP I, Hü 205).Im Plädoyer für eine Philosophie, die sich autonom ganz auf die Wahr-heitssuche konzentriert, und in der radikalen Kritik an jeder Instrumentalisie-rung durch fremde Zwecke stimmen Schopenhauer und N. überein. Beide atta-ckieren unter dieser Prämisse die zeitgenössische Universitätsphilosophie.Dabei setzen sie unterschiedliche Akzente: N. kritisiert in UB III SE primär dieDepravation der Philosophie durch Staatsinteressen (365, 368, 415, 422) unddie Hegelsche „Lehre, dass der Staat das höchste Ziel der Menschheit sei“ (365,19–20). Im 7. Kapitel von UB III SE stellt er sogar explizit den „furor philosophi-cus“ dem „furor politicus“ gegenüber (409, 16–17). In Schopenhauers SchriftUeber die Universitäts-Philosophiehingegen dominiert die Polemik gegen religi-öse Funktionalisierungen der Philosophie, die in N.s UB III SE zwar auch be-rücksichtigt wird, hier aber eher als marginaler Aspekt erscheint (415, 420).368, 17–18Die Revolution ist gar nicht zu vermeiden und zwar die atomistische]Den Begriff der ‚Atome‘ erläutert N. selbst im unmittelbaren Kontext, indem ersie mit impliziter Bezugnahme auf das altgriechische Wort ‚atomos‘ (ἄτoμος:unteilbar) als die „kleinsten untheilbaren Grundstoffe“ definiert. Anschließendüberträgt er den naturphilosophischen Terminus auf soziohistorische Konstel-lationen, indem er metaphorisch nach den „kleinsten untheilbaren Grundstof-fe[n] der menschlichen Gesellschaft“ fragt (368, 18–19). Zur Metapher desAtoms vgl. auch NK 360, 15–17.368, 26die Menschen zu bessern und zu erwärmen]Hier greift N. auf eine For-mulierung aus GoethesFaust Izurück: In der selbstkritischen Retrospektivedes berühmten Eingangsmonologs sinniert Faust über die Problematik seinerGelehrtenexistenz; dabei reflektiert er kritisch über seine vergeblichen Ambiti-onen: „Bilde mir nicht ein ich könnte was lehren / Die Menschen zu bessernund zu bekehren“ (V. 372–373). Die impliziteFaust-Reminiszenz wird wenigspäter explizit: Schon auf der folgenden Textseite sieht N. den „Mensch[en]Goethe’s“ (369, 5) paradigmatisch durch „Faust“ repräsentiert, den er im Rah-men seiner Differenzierung zwischen drei verschiedenen anthropologischen
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 368–369147Konzepten zugleich als „das höchste und kühnste Abbild vom Menschen Rous-seau’s“ beschreibt (370, 4–5).369, 4der Mensch Rousseau’s]N. greift hier auf anthropologische KonzepteRousseaus zurück, nach dessen Überzeugung der Mensch von Natur aus gutist (vgl. dazu NK 369, 28–30). Diese Prämisse bestimmt auch Rousseaus Plädo-yer für eine natürliche Erziehung, das er in seinem pädagogischen WerkÉmileou De l’éducationformuliert. In seinem zweitenDiscours sur l’origine et les fon-dements de l’inégalité parmi les hommes(Über den Ursprung und die Grundla-gen der Ungleichheit unter den Menschen) zieht Rousseau radikale Konsequen-zen aus seiner Zivilisations- und Gesellschaftskritik. Zur ausführlichenCharakterisierung vgl. NK 369, 18–25. Zu N.s kritischer Einstellung zu Rousseauvgl. NK 369, 12–15.369, 8–10beschauliche Naturen im grossen Stile [...] die thätigsten Menschen]Hier greift N. auf den tradierten Antagonismus von vita activa und vita con-templativa zurück, um die anthropologischen Konzepte Goethes und Schopen-hauers zu kontrastieren.369, 12–15Von dem ersten ist eine Kraft ausgegangen, welche zu ungestümenRevolutionen drängte und noch drängt; denn bei allen socialistischen Erzitterun-gen und Erdbeben ist es immer noch der Mensch Rousseau’s]Hier spielt N. aufhistorische Ereignisse von europäischer Reichweite an: auf die fundamentalenpolitischen Umwälzungen durch die Französische Revolution von 1789, die vonden Idealen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit getragen war. Für derentheoretische Programmatik hatte die Philosophie Rousseaus bekanntlich zen-trale Bedeutung. Vgl. hierzu ausführlich NK 369, 18–25. Das „Erdbeben“ ist einein N.s Epoche längst etablierte Revolutionsmetapher. So spricht er in UB IV WBexplizit von den „Zeiten der Erdbeben und Umstürze“ (KSA 1, 504, 20). Vgl.dazu NK 504, 18–21. – Auf originelle Weise variiert N. die Metapher ‚Erdbeben‘in UB II HL: Hier problematisiert er „dasBegriffsbeben, das dieWissen-schaft erregt“, wenn sie „dem Menschen das Fundament aller seiner Sicherheitund Ruhe, den Glauben an das Beharrliche und Ewige, nimmt“ (KSA 1, 330,27–29). Solche geistigen Erschütterungen analogisiert N. zugleich mit den städ-tischen Verwüstungen „bei einem Erdbeben“ (KSA 1, 330, 23–24), um anschlie-ßend energisch den Primat des Lebens gegenüber der Wissenschaft zu behaup-ten (vgl. KSA 1, 330, 30 – 331, 6) und Therapeutika „gegen die historischeKrankheit“ zu empfehlen (KSA 1, 331, 8–9). Als Tertium comparationis für diemetaphorische Transformation von ‚Erdbeben‘ in ‚Begriffsbeben‘ in UB II HLfungiert der eruptive Effekt und seine schädlichen Folgen. Auf dieser Basis
148Schopenhauer als Erziehergeht bei N. auch der negative Bedeutungsgehalt von „Erdbeben“ auf den meta-phorischen Neologismus „Begriffsbeben“ über. Ausführlicher dazu und zurUmkodierung von N.s „Begriffsbeben“ durch den französischen Epistemo-logen Gaston Bachelard vgl. NK 330, 23–29 in NK 1/2, 573–575.N. selbst stand den ‚modernen Ideen‘ revolutionärer Gruppierungen grund-sätzlich sehr kritisch gegenüber. Mit besonderer Entschiedenheit bekämpfte erdie ‚Ideen von 1789‘, also die Revolutionsideale liberté, égalité und fraternité.Im vorliegenden Textzusammenhang von UB III SE spielt N. zugleich auch aufdie revolutionären Bewegungen in Deutschland an, die von den Revolutionender Jahre 1830 und 1848 in Frankreich mit ausgelöst wurden. Bereits Schopen-hauer hatte eine kritische Einstellung zu den revolutionären Bewegungen sei-ner Zeit, vertrat restaurative politische Standpunkte und bekannte sich wieder-holt zum Individualismus und zu geistesaristokratischen Positionen (vgl. z. B.PP I, Hü 210).InMenschliches, Allzumenschlicheswendet sich N. später energisch gegen„Rousseau’sleidenschaftliche Thorheiten und Halblügen“, weil diese seinesErachtens „den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen“ und da-durch evolutionäre Fortschritte gemäß aufklärerischen Prinzipien behindert, jasogar den „Geist der Aufklärung und der fortschreitenden Ent-wickelungauflange verscheucht“ haben (KSA 2, 299, 27–32). In der VorredezurMorgenrötheerklärt N. dann, Rousseau habe Kant zum „moralischen Fana-tismus“ getrieben, „als dessen Vollstrecker sich ein andrer Jünger Rousseau’sfühlte und bekannte, nämlich Robespierre“ (KSA 3, 14, 15–17). Und in derGöt-zen-Dämmerungbekennt N. emphatisch: „Ich hasse Rousseau noch in der Re-volution [...]“, nämlich „ihre Rousseau’scheMoralität“(KSA 6, 150, 17–21).Der Kontext zeigt, dass sich N.s Vorbehalte dort vor allem gegen das Revolu-tionsideal der égalité richten: „Die Lehre von der Gleichheit! ... Aber es giebtgar kein giftigeres Gift: denn siescheint von derGerechtigkeit selbst gepre-digt, während sie dasEndederGerechtigkeit ist ...“ (KSA 6, 150, 23–26).Die „socialistischen Bewegungen der Gegenwart“ kritisiert N. bereits in derGeburt der Tragödie(KSA 1, 123, 2), und zwar ebenfalls im Kontext einer Pole-mik gegen Rousseau. Für N. gab es damals insofern auch einen aktuellen An-lass, als kurz nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges im Mai 1871der Pariser Commune-Aufstand stattfand, bei dem – irrtümlichen Zeitungsbe-richten zufolge – sogar die Kunstschätze des Louvre in Flammen aufgingen.N.s Verzweiflung darüber dokumentiert ein Brief vom 21. Juni 1871 (vgl. KSB 3,Nr. 140, S. 203–204). Vgl. detailliertere Angaben dazu in NK 1/1, 348. – Für dierevolutionären Bestrebungen in der damaligen Epoche waren darüber hinausdie Aktivitäten relevant, die von der zeitgenössischen Arbeiterschaft und ihrenpolitischen Organisationen in Deutschland ausgingen: von dem 1861 durch
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 369149Ferdinand Lassalle gegründeten „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ebenso wie von der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“, die 1869 durchAugust Bebel und Wilhelm Liebknecht initiiert wurde. Zur sozialhistorischenSituation infolge der Industrialisierung, zur Problematik des sogenannten‚Pauperismus‘ und zur Entstehung einer organisierten Arbeiterbewegung vgl.NK 1/1, 6–8. – N.s antidemokratische Einstellung, seine Skepsis gegenüberjedem politischen Engagement für Gleichheitskonzepte, sein Geistesaristo-kratismus und sein individualistisch ausgerichtetes Kulturkonzept stehen inengem Zusammenhang mit seinen antimodernen Positionen und seiner Ab-wehrhaltung gegenüber revolutionären Tendenzen. Zu den AuffassungenRousseaus vgl. NK 369, 18–25. Zu N.s kritischer Auseinandersetzung mitRousseau vgl. auch NK 369, 28–30.369, 15–16wie der alte Typhon unter dem Aetna]Die griechische Mythologiestellte Typhon, einen Sohn des Tartaros und der Gaia, als riesiges Ungeheuermit hundert Drachenköpfen und mit Schlangenfüßen dar. Nach der Niederlageder Giganten im Kampf gegen die olympischen Götter wird Typhon in dieSchlacht gegen die Olympier geschickt. Zeus wirft den Ätna auf ihn; die erupti-ven Ausbrüche des Vulkans finden ihre Mythologisierung in der Vorstellungdes unter dem Ätna liegenden Monstrums. In einer Variante des Mythos erringtZeus nach blutigem Kampf und langer Verfolgung den Sieg über Typhon, denGaia nach dem Titanensturz als Weltherrscher dem Göttervater Zeus entgegen-gestellt hat (Hesiod: Theogonie), und begräbt ihn unter dem Ätna (Pindar: 4.Olympische Ode, 1. Pythische Ode; Ovid: Metamorphosen 5). – Indem N. dasMenschenbild Rousseaus hier mit der mythologischen Figur vergleicht, betonter zugleich die elementare Subversionskraft des Rousseauismus. Nur kurze Zeitvor der erstmaligen Publikation von N.s UB III SE im Jahre 1874 hatten sichrevolutionäre Energien im Pariser Commune-Aufstand von 1871 Bahn gebro-chen.369, 18–25durch [...] schlechte Erziehung verderbt und vor sich selbst durchlächerliche Sitten beschämt, ruft der Mensch in seiner Noth die „heilige Natur“an [...]. Er wirft höhnisch all den bunten Schmuck von sich, welcher ihm kurzvorher gerade sein Menschlichstes schien, seine Künste und Wissenschaften]Hierspielt N. auf den Naturkult an, der in den Schriften von Jean-Jacques Rousseauzentrale Bedeutung hat. Auf die Preisfrage der Académie von Dijon, „ob dieWiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sittenbeigetragen habe“ („Si le rétablissement des sciences et des arts a contribué àépurer les moeurs“), gab Rousseau mit seinem preisgekröntenDiscours sur lessciences et les arts(Abhandlung über die Wissenschaften und Künste) von 1750,der ihn berühmt machte, eine negative Antwort, indem er die Künste und die
150Schopenhauer als ErzieherWissenschaften als Phänomene einer naturfremden, mithin entarteten Zivilisa-tion abwertete. Rousseau betrachtete den Menschen als gut von Natur aus undvertrat die Auffassung, durch die Einführung der sozialen Differenzierungen indie menschliche Gesellschaft seien Konkurrenz, Neid, Feindschaft und weitereEntfremdungsphänomene entstanden, so dass der natürliche Ursprungszu-stand durch depravierte Lebensverhältnisse abgelöst worden sei. Für den sittli-chen Niedergang der Gesellschaft machte Rousseau letztlich den Aufschwungder Künste und Wissenschaften verantwortlich. Deshalb plädierte er dafür,Freiheit, Unschuld und Tugend als Werte des natürlichen Urzustands allge-mein präsent zu halten, um weitere Verschlechterungen der gesellschaftlichenSituation zu verhindern.In seinem zweiten philosophischen Werk, demDiscours sur l’origine et lesfondements de l’inégalité parmi les hommes(Über den Ursprung und die Grund-lagen der Ungleichheit unter den Menschen), formulierte Rousseau 1755 eineradikale Zivilisations-, Geschichts- und Gesellschaftskritik, indem er in einerfiktiven historischen Darstellung die Entwicklung vom ursprünglichen glückli-chen Gesellschaftszustand zur späteren Rechtsungleichheit zu rekonstruierenversuchte und die Entstehung des Privateigentums als historische Zäsur vongroßer Tragweite beschrieb. Aus dieser Konstellation zog Rousseau radikaleKonsequenzen, indem er aus der negativen sozialen Entwicklung die revolutio-näre Forderung ableitete, dass die ‚natürliche‘ Rechtsgleichheit aller Menschenwiederhergestellt werden müsse, um einen harmonischen Gesellschaftszu-stand zu erreichen.In seinem BuchÉmile ou De l’éducation(Emile oder über die Erziehung) von1762 plädierte Rousseau für die Überwindung traditioneller Erziehungsmetho-den, und zwar durch das Konzept einer natürlichen Erziehung, die auf einefreie Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit zielt. Nach Rousseaus Überzeu-gung soll sich der Lehrer darum bemühen, die ‚guten‘ Fähigkeiten des Kindeszu fördern, indem er sie behutsam lenkt und auf natürliche Weise wachsenlässt. In den Theorien Rousseaus ist der Individualitätsgedanke von maßgebli-cher Bedeutung, der in der Folgezeit fundamentalen Einfluss hatte und auchin modernen pädagogischen Konzepten bis heute weiterwirkt.Mit ausgeprägtem Kulturpessimismus wendete sich Rousseau entschiedengegen den Fortschrittsoptimismus seiner Zeitgenossen und kritisierte derengrundsätzlich positive Einstellung zur modernen Zivilisation und ihrer Ent-wicklungsdynamik. Rousseau selbst hielt dieser optimistischen Sicht seineeigene Überzeugung entgegen, der Zivilisationsprozess habe keinen funda-mentalen Fortschritt herbeigeführt, sondern sei stattdessen sogar die wesentli-che Ursache für einen allgemeinen Niedergang mit vielfältigen Dekadenzsymp-tomen gewesen. Zwar gehört der ‚Naturzustand‘ als phylogenetisch längst
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 369151überwundener Urzustand unwiderruflich der Vergangenheit an. Aber da das‚Glück‘ des Menschen nach Rousseaus Auffassung nur in einer Art von ‚Natur-zustand‘ gewährleistet werden kann, soll die Gesellschaft seiner Ansicht nachdurch Erziehung und Politik Veränderungen herbeizuführen versuchen, die ei-ner Reaktualisierung der positiven Aspekte des idealen ‚Naturzustands‘ Vor-schub leisten.Im Hinblick auf die radikale Wissenschaftskritik des Protagonisten in Goe-thesFaust Iund sein durch Rousseau inspiriertes utopisches Ideal beziehtMephisto in aufschlussreicher Weise eine kritische Position. Unmittelbar vorBeginn der Schüler-Szene bereits in Fausts Gewand gekleidet, verurteilt Me-phisto diese Mentalität energisch und nimmt dabei auf die Vorstellung desMenschen als ‚animal rationale‘ Bezug: „Verachte nur Vernunft und Wissen-schaft, / Des Menschen allerhöchste Kraft, / Laß nur in Blend- und Zauberwer-ken / Dich von dem Lügengeist bestärken, / So hab’ ich dich schon unbedingt“(V. 1851–1855). – Dieser skeptische Blick auf Irrationalismus und Wissenschafts-kritik ist für den vorliegenden Textzusammenhang von UB III SE relevant, weilsich N. hier auf die anthropologischen Konzepte von Rousseau, Goethe undSchopenhauer konzentriert, um sie einander vergleichend gegenüberzustellen.Zu N.s kritischer Auseinandersetzung mit Rousseau vgl. NK 369, 28–30.369, 21so fern [...] wie irgend ein epikurischer Gott]Nach der Lehre Epikurs(341–270 v. Chr.) existieren die Götter in einem Zustand uneingeschränktenSelbstgenusses in den sogenannten ‚Intermundien‘, d. h. in Zwischenwelten,weit entfernt von der Lebenssphäre der Menschen und ohne jeden Einfluss aufsie. Daher erübrigt sich nach der Auffassung Epikurs auch jedwede Angst voreiner göttlichen Macht. Indem N. die Distanz des Menschen zur „heilige[n] Na-tur“ als Folge des modernen Zivilisationsprozesses mit dem Abstand zu denGöttern nach der Lehre Epikurs vergleicht, steigert er die Vorstellung von Na-turferne bis zum Extrem.369, 27entartet]In der Entartung des Menschen aufgrund seiner zunehmen-den Naturferne, die N. hier im näheren Kontext mit bildhafter Anschaulichkeitdarstellt, verbinden sich Aspekte von N.s Décadence-Diagnose mit zentralenKomponenten von Rousseaus Kulturkritik. Vgl. auch NK 366, 18–20.369, 28–30Und wenn er ruft: „nur die Natur ist gut, nur der natürliche Menschist menschlich“, so verachtet er sich und sehnt sich über sich selbst hinaus]Hierreferiert N. eine kulturkritische Hauptthese Rousseaus, die dieser vor allem inseinen beidenDiscours(d. h. imDiscours sur les sciences et les artsund imDiscours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes) sowiein seinem WerkÉmile ou De l’éducationformuliert. Im vorliegenden Kontextvon UB III SE spielt N. auf den Naturkult Rousseaus an, der in der Rezeption
152Schopenhauer als Erzieherseiner Schriften umfassend weiterwirkte. Nach Rousseaus Überzeugung ist derMensch von Natur aus gut. Durch die Entfernung vom ursprünglichen Naturzu-stand und die gesellschaftlichen Institutionen sei der Mensch dann verdorbenworden. Auf diese Weise erklärt Rousseau die vielfältigen Entfremdungsphäno-mene der modernen Zivilisation. Zu den Konzepten Rousseaus vgl. die detail-lierteren Darlegungen in NK 369, 18–25. – Obwohl N. im näheren Kontext vonUB III SE die Anthropologie Rousseaus generell thematisiert, um dann primärSchopenhauer als philosophisches Paradigma in den Mittelpunkt zu rücken,sind hier zugleich auch deutliche Affinitäten zwischen den Konzepten Rous-seaus und N.s eigenen Prämissen zu erkennen. Vgl. dazu 340–341, wo N. dasWesen des Menschen auf ein ideales, von ihm anzustrebendes Telos bezieht.Insgesamt steht N. Rousseau sehr kritisch gegenüber, weil er ihn für dengeistigen Initiator der revolutionären Bewegungen hält. Schon in UB III SEweist N. ausdrücklich auf die Gefahr einer Entartung des Rousseauschen Men-schen „zum Catilinarier“ hin (371, 11). InMenschliches, Allzumenschlicheswen-det er sich gegen den „Aberglaube[n] Rousseau’s“, der an „eine wunderglei-che, ursprüngliche, aber gleichsamverschütteteGüte der menschlichenNatur glaubt und den Institutionen der Cultur, in Gesellschaft, Staat, Erzie-hung, alle Schuld jener Verschüttung beimisst“ (KSA 2, 299, 15–19). DurchRousseaus „leidenschaftliche Thorheiten und Halblügen“, die „den optimisti-schen Geist der Revolution wachgerufen“ haben, sieht N. den „Geist derAufklärung und der fortschreitenden Entwickelung auflangeverscheucht“, den er selbst „wieder zurückzurufen“ versucht (KSA 2, 299, 28–33), weil es darauf ankomme, „abergläubische und religiöse Begriffe undAengste“ zu überwinden (KSA 2, 41, 23). In der Vorrede zurMorgenröthesiehtN. Kant von der „Moral-Tarantel Rousseau gebissen“ und zum „moralischen Fa-natismus“ getrieben, „als dessen Vollstrecker sich ein andrer Jünger Rousseau’sfühlte und bekannte, nämlich Robespierre“ (KSA 3, 14, 14–17). Mit dieser ThesezieltN.aufdieEndphasederFranzösischen Revolution, die zurPervertierung derRevolutionsideale führte und im Terrorregime Robespierres ihren fatalen Höhe-punkt erreichte.In derGötzen-Dämmerunggesteht N. sogar seinen Hass auf Rousseau, vondessen Naturideologie er seine eigenen Vorstellungen einer „‚Rückkehr zur Na-tur‘“ entschieden abgrenzt; N. selbst spricht sich für ein „Hinaufkommen“aus: „hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit“, wiesie „Napoleon“ repräsentiere (KSA 6, 150, 2–7). Und N. fährt polemisch fort:„Aber Rousseau – wohin wollte der eigentlich zurück? Rousseau, dieser erstemoderne Mensch, Idealist und canaille in Einer Person; [...] krank vor zügello-ser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung. Auch diese Missgeburt, welchesich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat, wollte ‚Rückkehr zur Natur‘ –
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 369–370153[...] Ich hasse Rousseau noch in der Revolution“, nämlich „ihre Rousseau’scheMoralität“(KSA 6, 150, 9–21). Aus dem Kontext geht hervor, dass N. vorallem am Revolutionsideal der égalité Anstoß nimmt, das seinem eigenen Geis-tesaristokratismus diametral gegenübersteht: „Die Lehre von der Gleichheit! ...Aber es giebt gar kein giftigeres Gift: denn siescheintvonderGerechtigkeitselbst gepredigt, während sie dasEnde derGerechtigkeit ist ...“ (KSA 6, 150,23–26).In einem Nachlass-Notat von 1887, das durch die Überschrift „Halkyo-nia. / Nachmittage eines Glücklichen. / Von / Friedrich Nietzsche“ (NL 1887,10 [1], KSA 12, 453) wie der Entwurf zu einem neuen Werk erscheint, werdendie Implikationen seiner Abgrenzung von Rousseau evident: Unter dem Titel„Meine fünf ‚Neins‘“distanziert sich N. dort sogar in doppelter Hinsichtvon Rousseau: „3. Mein Kampf gegen das 18. JahrhundertRousseaus,gegenseine ‚Natur‘, seinen ‚guten Menschen‘, seinen Glauben an die Herrschaft desGefühls – gegen die Verweichlichung, Schwächung, Vermoralisirung des Men-schen: ein Ideal, das aus dem Haßgegen die aristokratische Culturgeboren ist und in praxi die Herrschaft der zügellosen Ressentiments-Gefühleist, erfunden als Standarte für den Kampf. [...] 4. Mein Kampf gegen die Ro-mantik, in derchristliche Ideale und Ideale Rousseaus zusammenkommen“(NL 1887, 10 [2], KSA 12, 453–454). Kurz darauf behauptet N.: „Statt des ‚Natur-menschen‘ Rousseau’s hat das 19. Jahrhundert einwahreres Bildvom‚Men-schen‘ entdeckt“ (NL 1887, 10 [5], KSA 12, 456).369, 33 – 370, 2Der Mensch Goethe’s ist keine so bedrohliche Macht, ja [...]sogar das Correctiv und Quietiv gerade jener gefährlichen Aufregungen, denender Mensch Rousseau’s preisgegeben ist.]N. entwirft hier komplementäre Men-schenbilder: Der „Mensch Goethe’s“ kompensiert Fehlhaltungen, die durch dierevolutionären Exaltationen des „Mensch[en] Rousseau’s“ bedingt sind. Zwarermöglicht er so eine Beruhigung, aber mit ihr verbindet sich zugleich die Ge-fahr einer Erstarrung im Philiströsen. Indem N. hier potentielle Entartungendieser beiden anthropologischen Konzepte darstellt, schafft er zugleich die Ba-sis für eine positive Alternative: für den „Schopenhauerischen Menschen“ (371,20).370, 4–5sein Faust war das höchste und kühnste Abbild vom Menschen Rous-seau’s]Dies gilt vor allem für den großen Anfangsmonolog in GoethesFaust I,in dem sich Faust aus der Sphäre seiner lebensfernen Gelehrtenexistenz nachdem Zustand des Rousseauschen ‚homme naturel‘ sehnt. Wiederholt be-schwört er die lebendige und belebende Natur: „Statt der lebendigen Natur, /Da Gott die Menschen schuf hinein, / Umgibt in Rauch und Moder nur / DichTiergeripp’ und Totenbein“ (V. 414–417). Ein utopisches Gegenkonzept entwirft
154Schopenhauer als ErzieherFaust, indem er konstatiert: „Und wenn Natur dich unterweist, / Dann geht dieSeelenkraft dir auf“ (V. 423–424). Im Zeichen des Makrokosmos sieht er „DieKräfte der Natur“ rings umher sich „enthüllen“ (V. 438), ja er meint sogar: „Ichschau’ in diesen reinen Zügen / Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen“(V. 440–441). Nicht nur symbolisch möchte er die Natur begreifen, sondernunmittelbar: „Wo fass’ ich dich, unendliche Natur? / Euch Brüste, wo? IhrQuellen alles Lebens, / An denen Himmel und Erde hängt“ (V. 455–457). ZuRousseaus Anthropologie vgl. NK 369, 18–25; zu N.s Rousseau-Kritik vgl.NK 369, 28–30.370, 8–9Nun sehe man aber darauf hin, was aus alle diesem angesammeltenGewölk entsteht – gewiss kein Blitz!]Indem N. die Metaphorik vom „angesam-melten Gewölk“ auf die rousseauistischen Elemente in GoethesFaustbezieht,verbindet er sie insofern mit einer skeptischen Haltung, als er aus diesem „Ge-wölk“ nicht den „Blitz“ einer Tat entstehen sieht (vgl. 370, 21). – N. gebrauchtdie expressive Blitz-Metapher in allen Schaffensphasen und in unterschiedli-chen inhaltlichen Zusammenhängen. In späteren Werken findet sie sich häufi-ger als im Frühwerk. In UB II HL beispielsweise erscheint sie im Kontext einermit Topoi der Erhabenheitsästhetik überformten Naturbeschreibung (vgl.KSA 1, 290, 3). Besonders markant setzt N. die Blitz-Metapher inAlso sprachZarathustraein (vgl. KSA 4, 16, 15; 18, 19–22; 23, 6; 52, 25; 52, 29). Wenn dort„der Übermensch“ als „Blitz aus der dunklen Wolke Mensch“ apostrophiertwird (KSA 4, 23, 6), lässt der damit verbundene Anspruch gewisse Affinitätenzum vorliegenden Kontext von UB III SE erkennen. – Vor N. verwendet bereitsSchopenhauer die bildhafte Vorstellung des Blitzes in pointierten Vergleichen(vgl. dazu Belege in WWV II, Kap. 15, Hü 152; WWV II, Kap. 31, Hü 436, 437sowie in PP II, Kap. 4, § 67, Hü 101).370, 10–21Man sollte denken, dass Faust durch das überall bedrängte Lebenals unersättlicher Empörer und Befreier geführt werde, als die verneinende Kraftaus Güte, als der eigentliche [...] dämonische Genius des Umsturzes, zum Gegen-satze seines durchaus undämonischen Begleiters [...]. Aber man irrt sich, wennman etwas Derartiges erwartet; der Mensch Goethe’s weicht hier dem MenschenRousseau’s aus; denn er hasst [...] jede That]Schon in seiner berühmten Selbst-definition als „Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Guteschafft“ (V. 1335–1336), und als „Geist, der stets verneint“ (V. 1338), betontMephisto in Goethes DramaFaust Iden Antagonismus von Gut und Böse, aufden N. hier in modifizierter Weise anspielt, indem er „die verneinende Kraftaus Güte“ bei Faust vermisst. Zunächst überformt N. die Faust-Figur Goetheshypothetisch durch mephistophelische Charakteristika, die er anschließend je-doch selbst verwirft, indem er erklärt: „so wird aus dem Weltbefreier Faust
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 370155gleichsam nur ein Weltreisender“ (370, 21–22). Auf diese Weise schafft N. dieBasis für die Abgrenzung der Anthropologie Goethes von derjenigen Rous-seaus. Vgl. auch NK 370, 19–22. Zu den anthropologischen Konzepten Rous-seaus vgl. NK 369, 18–25; zu N.s Kritik an Rousseau vgl. NK 369, 28–30.In UB II HL zitiert N. sogar wörtlich aus dieser berühmten Selbstpräsenta-tion Mephistos in Goethes DramaFaust I: „Denn Alles was entsteht, istwerth,dass es zu Grunde geht. Drum besser wär’s, dass nichts entstünde“ (KSA 1,269, 25–27). Goethe gestaltet den Dialog in seinem Drama folgendermaßen: AufFausts Frage „Nun gut, wer bist du denn?“ (V. 1334) entfaltet Mephistophelesseine nihilistische Programmatik, indem er antwortet: „Ein Teil von jenerKraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ (V. 1335–1336). Dannerläutert er diese Selbstcharakterisierung mit den Worten: „Ich bin der Geist,der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, / Ist wert,daß es zugrunde geht; / Drum besser wär’s, daß nichts entstünde. / So ist dennalles, was ihr Sünde, / Zerstörung, kurz das Böse nennt, / Mein eigentlichesElement“ (V. 1338–1344). – Im Hinblick auf die ambivalenten Perspektiven N.sauf Goethe allgemein vgl. Claus Zittel, NH 2000b, 385–386.Zugleich sind in N.s Bezugnahmen auf GoethesFaust-Drama Reflexe einerzeitgenössischenFaust-Debatte wirksam, die vom Standpunkt des Realismusund eines nationalpatriotischen Engagements aus geführt wurde. Von langeanhaltender Wirkung war der von N. gelesene und von ihm schon in derGeburtder Tragödieattackierte Georg Gottfried Gervinus, der zur Gruppierung der pro-gressiven Liberalen gehörte und aus diesem Grund seine Professur für Ge-schichte an der Universität Göttingen verlor. Gervinus publizierte die fünfbän-digeGeschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen(1835–1842),die bis 1874 fünf Auflagen hatte. In diesem Werk erklärt Gervinus, das deutscheVolk müsse nach dem Ende seiner bedeutenden Literatur-Epoche zur Sphäredes Ästhetischen und Geistig-Spekulativen wieder Abstand gewinnen, um sichstattdessen einem politischen Engagement im Staat zu widmen. Für diesenZweck solle sich auch die Literatur einsetzen. In seiner 30-seitigen Darstellungvon GoethesFaustlehnte Gervinus dieses Werk als nationales Identifikations-muster mit der Begründung ab, der erste Teil desFaustvermöge nichts zurnützlichen Formierung der Nation nach dem Kriterium politischer Verantwort-lichkeit beizutragen und auch dem zweiten Teil desFaustfehle trotz einigerrichtiger Impulse letztlich ein angemessener „Sinn für das handelnde Leben“und für die Willensdimension des Menschen (vgl. dazu Jochen Schmidt 1999,311).Aus einer ähnlichen Haltung kritischer Distanz entwarf Friedrich TheodorVischer 1861 eine Art von ‚Gegen-Faust‘; dabei intendierte er ein durch Arbeitund aktives soziales Engagement geprägtes Leben, das sich der Beseitigung
156Schopenhauer als Erziehervon Elend und Unterdrückung widmen sollte. Vischer machte Faust als Gestaltdes 16. Jahrhunderts zum revolutionären Kämpfer im Bauernkrieg. Ganz in denSpuren von Gervinus bewegte sich der ebenfalls einflussreiche Literaturhistori-ker Julian Schmidt, dessen Literaturgeschichte N. in seiner Bibliothek hatte(NPB 531). Vgl. Julian SchmidtsGeschichte der deutschen Literatur seit LessingsTod (1781–1867), 3 Bände, 5. Aufl. 1866–1867. In seinerGeschichte der deutschenNationalliteratur im 19. Jahrhundert(1853) bringt Julian Schmidt den kritischenBewertungsmaßstab auf die prägnante Formel: „Mangel an Realismus“. Nachdiesem Kriterium schien Faust als nationale Identifikationsfigur für die Deut-schen gänzlich ungeeignet zu sein.Mit Friedrich Spielhagen, der zu den erfolgreichsten Romanciers des19. Jahrhunderts zählte, setzte sich „die jungdeutsch inspirierte, kritisch realis-tische Linie von Gervinus und Julian Schmidt bis zum Ende des Jahrhundertsfort“ (vgl. Jochen Schmidt 1999, 311–312). Der bekannteste von Spielhagens Ro-manen, der in zahlreichen Auflagen erschien, trägt den (auf einem Goethe-Zitat basierenden) TitelProblematische Naturen(1861) und inszeniert die Reali-tätsverfehlung einer Faust-Figur (vgl. ebd., 311). – N. erwähnt diesen RomanSpielhagens bereits im Mai 1865 in einem Brief an Carl von Gersdorff: „EinigeKapitel in den Probl. Nat. habe ich bewundert. Sie haben wirklich GoethescheKraft und Anschaulichkeit. So sind gleich die ersten Kapitel Meisterstücke“(KSB 2, Nr. 467, S. 57). Skeptisch äußert sich N. allerdings zu Spielhagens„adelsfeindliche[r] Richtung in den Probl. Nat.“ (ebd.). Zu den zahlreichenideologisierenden Vereinnahmungsversuchen, die sich seit dem 18. Jahrhun-dert auf Goethes Faust-Figur konzentrierten, vgl. NK 370, 29–31. Die vielfälti-gen Bemühungen um eine Adaption des Faust-Typus für nationale Interessenlassen auch eine problematische Tendenz erkennen, den Autor Goethe mit sei-ner Faust-Figur zu identifizieren.370, 16seine skeptische Bosheit und Verneinung]Hier spielt N. auf Verse inGoethes DramaFaust Ian. Mephisto, der nach der Metamorphose des Pudelsplötzlich als „fahrender Skolast“ (V. 1324) in Fausts Studierstube steht, stelltsich dem überraschten Gelehrten folgendermaßen vor: „Ich bin der Geist, derstets verneint! / Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, / Ist wert, daß eszugrunde geht“ (V. 1338–1340). Zu dieser Szene in GoethesFaust Ivgl. ergän-zend auch NK 372, 7–8 und vor allem NK 372, 1–2.370, 19–22der Mensch Goethe’s weicht hier dem Menschen Rousseau’s aus;denn er hasst jedes Gewaltsame, jeden Sprung – das heisst aber: jede That; undso wird aus dem Weltbefreier Faust gleichsam nur ein Weltreisender.]In GoethesDrama manifestiert sich Fausts Tatendrang zunächst in seiner Bibel-Überset-zung: Den griechischen Logos-Begriff am Anfang des Johannes-Evangeliums
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 370157übersetzt Faust zuerst durch ‚Wort‘, dann durch ‚Sinn‘ und schließlich durch‚Kraft‘. Auf die drei Übersetzungsversuche, die Faust nacheinander revidiert,folgen die markanten Schlussverse dieses Monologs: „Mir hilft der Geist! Aufeinmal seh’ ich Rat / Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“ (V. 1236–1237). In der Paktszene erklärt Faust: „Nur keine Furcht, daß ich dies Bündnisbreche! / Das Streben meiner ganzen Kraft / Ist grade das, was ich verspreche“(1741–1743). Und wenig später behauptet er: „Nur rastlos betätigt sich derMann“ (V. 1759). – Zu nationalen Ideologisierungen, die unter diesem AspektGoethes Faust als paradigmatisch ‚deutsche‘ Figur zu vereinnahmen suchtenund dadurch wirkungsmächtige stereotype Identifikationsmuster hervorbrach-ten, vgl. NK 370, 29–31. Zu den Vorbehalten gegen solche Positionen und zurAblehnung von Goethes Faust als Identifikationsfigur vgl. NK 370, 10–21. In-dem N. im vorliegenden Kontext von UB III SE die Depravation des Pseudo-Revolutionärs Faust zum Weltreisenden betont, spielt er vor allem auf GoethesFaust IIan.370, 22–25Alle Reiche des Lebens und der Natur, alle Vergangenheiten, Künste,Mythologien, alle Wissenschaften sehen den unersättlichen Beschauer an sichvorüberfliegen]Das Motiv der Weltfahrt, das Goethe in der Faust-Tradition vor-fand, ist schon in seinem DramaFaust Irelevant, wird imFaust IIdann aller-dings ins Universelle ausgeweitet. Der Begriff ‚Vergangenheiten‘ zielt sowohlauf epochenspezifische Motive imFaust I, die auf das 16. Jahrhundert zurück-verweisen, als auch auf die historischen Übergänge zwischen Spätmittelalter,Renaissance und Neuzeit imFaust II. Mit dem Begriff ‚Mythologien‘ nimmt N.auf die große Inszenierung des mythologischen Repertoires in der ‚KlassischenWalpurgisnacht‘ Bezug. Und mit dem Begriff ‚Wissenschaften‘ spielt er auf diesogenannte Gelehrtenhandlung am Anfang desFaust Iund auf die Erschei-nung des Homunculus imFaust IIan.370, 26Helena]In GoethesFaust IIerscheint Helena als Ideal klassischerSchönheit und weiblicher Würde. Goethe greift auf die griechische Mythologiezurück, in der Helena, Tochter des Zeus und der Leda, als die schönste undbegehrenswerteste Frau dargestellt wird. Paris entführt sie ihrem Mann Mene-laos und flieht mit ihr nach Troja. Die Griechen segeln unter Agamemnon, demBruder des Menelaos, nach Kleinasien, um Helena zurückzuerobern. Dies ge-lingt ihnen erst nach zehnjähriger Belagerung der Stadt Troja. Vgl. auchNK 370, 28–29.370, 26–27und nun muss der Augenblick kommen, auf den sein höhnischer Be-gleiter lauert]Anspielung auf die Pakt-Konstellation imFaust I: „Werd’ ich zumAugenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du michin Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zu Grunde gehn!“ (V. 1699–1702).
158Schopenhauer als Erzieher370, 28–29An einer beliebigen Stelle der Erde endet der Flug, die Schwingenfallen herab]Schon in der Tradition des Faust-Stoffes vor Goethe erscheintFausts Weltfahrt auch als Flug. In seinem DramaFaust Igreift Goethe diesesMotiv auf, indem er Faust die Wunschvorstellung formulieren lässt: „Ja, wärenur ein Zaubermantel mein! / Und trüg’ er mich in fremde Länder“ (V. 1122–1123). Am Anfang des 4. Aktes von GoethesFaust IIgibt sich Faust als Luftfah-rer zu erkennen. – Der Rest ist eine Phantasie N.s. Im vorliegenden Kontextüberträgt er das Schicksal der Euphorion-Figur ausFaust IItendenziell auf denProtagonisten Faust selbst und spielt zugleich auf den Ikarus-Mythos an. DasTertium comparationis besteht in einem obsessiven Subjektivismus, der einedestruktive Exzentrik mit einschließt. Wie bei der mythologischen Gestalt Ika-rus führt der Flugversuch auch bei der Euphorion-Figur, die in GoethesFaustIIals Allegorie romantischer Exzentrik erscheint, zum tödlichen Absturz. Damitgerät Euphorion in einen Gegensatz zum statuarisch-würdevollen antikischenGestus, der seine Mutter Helena wie ein Sinnbild klassischer Vollendung er-scheinen lässt. Mit seinem Vater Faust teilt Euphorion allerdings die Tendenzzu einer subjektivistischen Hybris, die zugleich zum Tragischen disponiert (vgl.Jochen Schmidt 1999, 253–259).370, 29–31Wenn der Deutsche aufhört, Faust zu sein, ist keine Gefahr grösserals die, dass er ein Philister werde und dem Teufel verfalle]Einerseits stellt N.hier das ungenügsame Streben Fausts der satten Selbstzufriedenheit eines blo-ßen Philisters gegenüber, andererseits reflektiert er zugleich auch das Philist-röse als eine latente Gefahr für den nicht mehr ‚strebenden‘ Faust. Darüberhinaus betont N. eine Affinität der Faust-Figur zum angeblichen Nationalcha-rakter ‚des Deutschen‘ und adaptiert dabei die gängigen Klischees von dessenangeblich ‚Faustischer Seele‘. (Zu diesen nationalen Stereotypen seit dem18. Jahrhundert vgl. Jochen Schmidt 1999, 305–319). Während sich der jungeGoethe für den Faust-Stoff zunächst tatsächlich im Zuge einer Rückbesinnungauf ‚Deutsches‘ entschieden hatte (vgl. ebd., 40, 305), vertiefte der klassischeGoethe seine Faust-Figur anthropologisch und wahrte dabei bewusst Distanzgegenüber nationalen Ideologisierungsversuchen. Allerdings animierte dieAusrichtung des klassischen Goethe auf menschheitlich-universale Dimensio-nen der Faust-Figur später mitunter erneut zu nationalen Vereinnahmungsver-suchen, die Faust zusehends als eine nationale Identifikationsfigur erscheinenließen. Zudem wurde der Autor Goethe selbst vorschnell mit wesentlichenCharakteristika seiner populärsten Figur identifiziert und dann ebenfalls fürnationale Zielsetzungen in Anspruch genommen. Da man die ironischenBrechungen, die Goethe seinem Protagonisten eingeschrieben hatte, weitge-hend ignorierte, entstanden fortan wirkungsmächtige Faust-Deutungen, in de-nen die Komplexität der Figur erheblich verkürzt wurde. Sie setzten beim ruhe-
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 370159losen ‚Streben‘ des Protagonisten Faust und bei seiner expansiven Dynamikan, um eine Apotheose der ‚Tat‘ zu inszenieren und auf dieser Basis ein hero-isch-aktivistisches Männlichkeitsideal zu entwickeln. Seit der zweiten Hälftedes 19. Jahrhunderts waren Instrumentalisierungsversuche dieser Art vorzugs-weise auf die einschlägigen Textpassagen aus GoethesFaust IIfokussiert (vgl.ebd., 306–307).Bereits Friedrich Wilhelm Joseph Schelling betrachtete Faust 1802/03 inseinerVorlesung über die Philosophie der Kunstals Repräsentanten des ‚deut-schen Charakters‘ (vgl. ebd., 307). Während Friedrich Theodor Vischer Faustals einen Charakter von deutscher ‚Innerlichkeit‘ verstand, verfolgte HeinrichHeine progressive Tendenzen, indem er Faust für seine sensualistische Utopievereinnahmte. Seit 1840 stellte man die Faust-Figur wiederholt in den Kontexteiner biedermeierlich überformten romantischen Innerlichkeit und erhob siezum Paradigma eines pragmatischen Realitätssinns und bürgerlicher Tüchtig-keit, aber auch eines vorgeblich ‚deutschen Gemüts‘ (vgl. ebd., 308–310). –Nachdem Vertreter eines stärker aufklärerisch engagierten Realismus aller-dings auch ideologiekritische Vorbehalte gegen derartige Vereinnahmungender Faust-Figur erhoben hatten (vgl. dazu konkreter NK 370, 10–21), avancierteFaust nach der Reichsgründung von 1871 zu einer sehr positiv besetzten Iden-tifikationsfigur, und zwar gerade hinsichtlich der spezifischen Mentalität derTüchtigkeit, die in der Gründerzeit Konjunktur hatte. Zudem erhielt das ‚Fausti-sche Streben‘ besondere Bedeutung im Zusammenhang mit dem neuen na-tionalen Selbstbewusstsein, das sich in dieser Zeit herausbildete und demIdeologem des Faustischen ‚Tatmenschen‘ eine identitätsstiftende Funktionverschaffte. Zusätzliche Relevanz gewann sie im Zuge der wachsenden impe-rialen Tendenzen in der Bismarck-Ära. Gemeinsam ist all diesen Versuchen,Faust zu legitimatorischen Zwecken für realpolitische Interessen des deut-schen Reiches zu vereinnahmen, eine auffallende Einseitigkeit bei der Re-zeption von GoethesFaust. Wesentliche Dimensionen dieses komplexenWerkes blieben dabei unberücksichtigt oder wurden eskamotiert. Dies galtvor allem für problematische Charakteristika und ironische Brechungen derFaust-Figur. In der Anfangsphase des 20. Jahrhunderts wurden die auf Faustprojizierten Vorstellungen von heroischem Streben, titanischer Größe unddynamischer Männlichkeit durch den beginnenden N.-Kult dann zusätzlichdurch Übermensch-Pathos und Immoralismus-Konzepte angereichert undforciert. (Zum Gesamtzusammenhang vgl. Jochen Schmidt 1999, 312–316).Im Unterschied zu solchen Projektionen auf die Faust-Figur beschränktsich N. im vorliegenden Kontext von UB III SE nicht darauf, im Anschluss andie zeitgenössischen Ideologisierungsversuche das angeblich ‚Deutsche‘ derFaust-Figur hervorzuheben. Vielmehr betont er darüber hinaus auch das Risiko
160Schopenhauer als Erzieherfür einen nicht mehr ‚strebenden‘ Faust, sich einer philiströsen Mentalität zunähern. – Detailliertere Informationen zum bereits in UB I DS (KSA 1, 165, 6)eingeführten Begriff ‚Bildungsphilister‘ sowie zum Begriff ‚Philister‘ bei N. undSchopenhauer bieten NK 165, 6 sowie NK 352, 27 und NK 401, 24–25. – Im 3. Ka-pitel von UB III SE reflektiert N. selbst die Perspektive zeitgenössischer Bil-dungsphilister auf den Autor desFaust-Dramas und lässt deren naive Verein-nahmungsversuche dabei in kritischer Beleuchtung erscheinen: „Goethe, aufden unsre Bildungsphilister als auf den glücklichsten Deutschen hinzeigen,um daraus den Satz zu beweisen, dass es doch möglich sein müsse unter ihnenglücklich zu werden“ (352, 27–29). – Wie hier und in anderen Partien von N.sUB III SE (vgl. 371, 10; 401, 24–25) ist auch in Schopenhauers SchriftUeber dieUniversitäts-Philosophieder Begriff des Philisters negativ konnotiert, etwa dort,wo er den Universitätsphilosophen kritisiert, der „den philosophischen Hör-saal in eine Schule der plattesten Philisterei umschafft“ (PP I, Hü 164). Vgl.außerdem PP I, Hü 158, 177.370, 31–32nur himmlische Mächte können ihn hiervon erlösen]Anspielung aufden fünften Akt von GoethesFaust II: „Wer immer strebend sich bemüht / Denkönnen wir erlösen“ (V. 11936–11937). Die Gefahr des Philiströsen liegt fürFaust im Verlust der essentiellen Ungenügsamkeit, die sein Streben motiviertund auszeichnet. Am Ende von GoethesFaust IIwird der Protagonist vonhimmlischen Mächten emporgezogen. Auf dieses Finale des Dramas nimmt N.im vorliegenden Kontext eher neutral Bezug. – Goethe lässt sein Werk mit derÄußerung des Chorus mysticus enden: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleich-nis; / Das Unzulängliche / Hier wird’s Ereignis; / Das Unbeschreibliche, / Hierist’s getan; / Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan“ (V. 12104–12111). Dieseberühmten Verse parodiert N. in seinem GedichtAn Goethe. Dessen erste Stro-phe lautet so: „Das Unvergängliche / Ist nur dein Gleichniss! / Gott der Ver-fängliche / Ist Dichter-Erschleichniss ...“ (KSA 3, 639, 4–7). Als das erste Poemder „Lieder des Prinzen Vogelfrei“ eröffnet das GedichtAn Goetheden lyri-schen „Anhang“, mit dem N. die 1887 erschienene Neuausgabe vonDie fröhli-che Wissenschaftabschließt. Durch die markante Anfangsstellung erhält diereligionskritische Dimension in dieser Goethe-Parodie eine programmatischeBedeutung: Der Transzendenz-Glaube erscheint hier zum Produkt poetischerPhantasie depotenziert.371, 2–3ein Leben von Begierde zu Begierde]Vereinfachende Anspielung aufGoethesFaust I(V. 3249–3250): „So tauml’ ich von Begierde zu Genuß, / Undim Genuß verschmacht’ ich nach Begierde“. Analoge Formulierungen ge-braucht auch Schopenhauer. Die problematische conditio humana, „daß dieserExistenz selbst das Leiden wesentlich und wahre Befriedigung unmöglich sei“,
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 370–371161beschreibt er in derWelt als Wille und Vorstellungfolgendermaßen: „unermüd-lich streben wir von Wunsch zu Wunsch, und wenn gleich jede erlangte Befrie-digung, soviel sie auch verhieß, uns doch nicht befriedigt, sondern meistensbald als beschämender Irrthum dasteht, sehn wir doch nicht ein, daß wir mitdem Faß der Danaiden schöpfen; sondern eilen zu immer neuen Wünschen“(WWV I, § 57, Hü 375–376). Den Willen bestimmt Schopenhauer als das „denKern und das An-sich jedes Dinges ausmachende Streben“ (WWV I, § 56,Hü 365); „alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinemZustande, ist also Leiden, so lange es nicht befriedigt ist; keine Befriedigungaber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Stre-bens. Das Streben sehn wir überall vielfach gehemmt, überall kämpfend; solange also immer als Leiden: kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maaß undZiel des Leidens“ (WWV I, § 56, Hü 365). Das gilt laut Schopenhauer nicht nurfür den Menschen, sondern für die gesamte Natur: „Kein Körper ist [...] ohneStreben, oder ohne Sucht und Begier, wie Jakob Böhme sagen würde“ (WWV I,§ 56, Hü 364). ZurFaust-Rezeption Schopenhauers vgl. Neymeyr 2016a, 314–333.Sogar das Spannungsverhältnis von ‚Begierde‘ und ‚Genuß‘, das GoethesFaust-Figur reflektiert, findet sich ganz ähnlich bei Schopenhauer: Er ver-gleicht das Leben des Menschen mit „einem Pendel“, das „zwischen demSchmerz und der Langenweile“ hin und her schwingt, „welche Beide in derThat dessen letzte Bestandtheile sind“ (WWV I, § 57, Hü 368): „Die Basis allesWollens aber ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem er folglich schonursprünglich und durch sein Wesen anheimfällt. Fehlt es ihm hingegen an Ob-jekten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich wiederwegnimmt; so befällt ihn furchtbare Leere und Langeweile: d. h. sein Wesenund sein Daseyn selbst wird ihm zur unerträglichen Last“ (WWV I, § 57,Hü 367–368). Diese Konstellation ist es, die Goethes Faust im zweiten Teil sei-ner Klage beschreibt: „So tauml’ ich von Begierde zu Genuß, / Und im Genußverschmacht’ ich nach Begierde“ (V. 3249–3250). Zur Thematik der Langeweilevgl. auch NK 379, 32–34 und vor allem NK 397, 24.371, 8–10Der Goethesche Mensch ist eine erhaltende und verträgliche Kraft –aber unter der Gefahr [...], dass er zum Philister entarten kann]Zur pejorativenBedeutung des Begriffs ‚Philister‘ (auch 370, 31) bei N. und Schopenhauer vgl.NK 352, 27 und NK 401, 24–25. Schopenhauer und N. kontrastieren die „gelehr-tenhafte Katheder-Weisheit“ (426, 4–5) und den zur Verschleierung geistigerSubstanzlosigkeit eingesetzten Obskurantismus (PP I, Hü 172, 173, 186; SE 419,425) philosophischer Philister (PP I, Hü 158, 164, 177; SE 352, 370, 371, 401)übereinstimmend mit der Klarheit, Redlichkeit (PP I, Hü 202, 204; SE 348), Ori-ginalität, Objektivität (PP I, Hü 181, 182, 204) und „Besonnenheit“ (PP I,
162Schopenhauer als ErzieherHü 181; SE 377) seriöser Philosophen, die sich einem unbedingten Wahrheits-ethos verpflichtet fühlen.371, 10–11wie der Mensch Rousseau’s leicht zum Catilinarier werden kann]Mit‚Catilinarier‘ sind die Anhänger von Lucius Catilina (108–62 v. Chr.) gemeint.Nachdem Catilinas Umsturzpläne aufgedeckt worden waren, zwang Cicero ihnim Jahre 63 v. Chr. dazu, Rom zu verlassen. In einer großen Rede erklärte erCatilina zum Staatsfeind. Aufgrund eines Senatsbeschlusses wurden seineAnhänger wegen Hochverrats angeklagt und hingerichtet. Catilina selbst fielin einer Schlacht, in der sein Heer besiegt wurde. Bismarck nahm auf diesehistorischen Ereignisse in der Antike Bezug, als er am 30. September 1862 ex-plizit von „Catilinarischen Existenzen“ sprach, womit er entwurzelte Revolutio-näre meinte. – Der konservativen Haltung des Goetheschen Menschen, die zurLethargie führen oder sogar zu einem philiströsen Phlegma verkommen kann,stellt N. den revolutionären Impetus des Rousseauschen Menschen gegenüber,der in eine zerstörerische Eigendynamik geraten kann. Indem N. sowohl Vorzü-ge als auch Entartungsrisiken dieser beiden anthropologischen Typen charak-terisiert, schafft er die Basis, um dann „das Bild des Schopenhauerischen Men-schen“ (371, 19–20) zu entfalten. Zu den Konzepten Rousseaus vgl. NK 369, 18–25; zu N.s Rousseau-Kritik vgl. NK 369, 28–30.371, 15–17„Sie sind verdriesslich und bitter, das ist schön und gut; wenn Sie nureinmal recht böse werden, so wird es noch besser sein“.]Nicht ganz präzisesZitat aus Goethes RomanWilhelm Meisters Lehrjahre(8. Buch, 5. Kapitel). Hierheißt es wörtlich: „Sie sind verdrießlich und bitter, sagte Jarno, das ist rechtschön und gut. Wenn Sie nur erst einmal recht böse werden, wird es nochbesser sein“ (Goethe: FA, Bd. 9, 928). – In der Reinschrift hat N. die folgenderadikalere Passage gestrichen: „Der Mensch Schopenhauer’s kann nicht nurgelegentlich verdriesslich und bitter sein, er ist wirklich im Ganzen rechtböse – und ich wenigstens meine, dass er dadurch besser ist als auch WilhelmMeister. Er weiss nichts mehr von der Güte der Natur: er lächelt über die, wel-che zur Freude geboren zu sein glauben“ (KSA 14, 77). Zu Goethes RomanWil-helm Meisters Lehrjahrevgl. auch NK 342, 5–14.371, 18–20es ist nöthig, dass wir einmal recht böse werden, damit es besserwird. Und hierzu soll uns das Bild des Schopenhauerischen Menschen ermuthi-gen]Anders als in 368, 5 hat ‚böse‘ hier positive Konnotationen. Dabei versuchtN. Aspekte des ‚Goetheschen Menschen‘ mit dem Elan des ‚RousseauschenMenschen‘ so zu verbinden, dass eine Beseitigung vorhandener Missständemöglich wird. Als besonders wichtiges Stimulans soll dabei das ermutigende„Bild des Schopenhauerischen Menschen“ fungieren (371, 20). Eine weiterePerspektive kann darüber hinaus auf eine produktive Synthese der jeweiligen
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 371163Vorzüge aller drei anthropologischen Typen in einem idealen Gesamtkonzeptzielen. – Ottmann reagiert allerdings „befremdet“ auf N.s Erwartung, „die ein-same Wahrheitssuche seiner Helden der Wahrhaftigkeit könne eine Therapieder zu Innerlichkeit und Kontemplation neigenden Kultur der Deutschen sein.Tat statt Kontemplation, Brückenschlag von der Kultur zur Politik statt Abson-derung und Privatismus – für solche Ideale boten weder das Leben Schopen-hauers noch Nietzsches eigene kulturaristokratische Neigungen eine Grundla-ge. Schopenhauer als Privatgelehrter und philosophierender Sonderling, alsPrivatier und Rentier, als theoretischer Mensch und Politikverächter, das wardas Gegenteil des Ideals“ (Ottmann 1987, 85), also keineswegs eine Basis fürdie in UB III SE artikulierte Hoffnung N.s, „ein Philosoph werde durch seinBeispiel ein ganzes Volk nach sich ziehen“ (ebd., 86).371, 20–22Der Schopenhauerische Mensch nimmt das freiwilli-ge Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich]Hier erweitert N. zum Spezifi-kum eines Menschentypus, was er zuvor als Charakteristikum eines Individu-ums dargestellt hat: die „Ehrlichkeit“ als besondere moralische Qualität seinesLehrers Schopenhauer (348, 15; 350, 1). Dabei greift N. auch auf die SchriftUeber die Universitäts-Philosophiezurück, in der Schopenhauer selbst die un-bedingte „Redlichkeit“ (PP I, Hü 202, 204) als Charakteristikum des ‚echten‘Philosophen bezeichnet. Ähnlich wie Schopenhauer (PP I, Hü 202) kontrastiertN. das Wahrheitsethos mit einer pragmatischen Verlogenheit, die durch hetero-nome Zwecke bedingt ist (366, 20, 22). Im 4. Kapitel von UB III SE differenzierter zwischen drei anthropologischen Modellen und bezeichnet diese Menschen-typen mit den Namen Rousseaus, Goethes und Schopenhauers (vgl. 369, 1–5). Dabei entfaltet er das „Bild des Schopenhauerischen Menschen“ (371, 20)uneingeschränkt positiv, indem er es gerade mit den Qualitäten ausstattet,durch die er Schopenhauer selbst ausgezeichnet sieht.Einem nachgelassenen Notat von 1878 zufolge förderte das Paradigma des„Schopenhauerischen Menschen“ bei N. erstaunlicherweise sogar die Abkehrvon seinem einstigen ‚Erzieher‘ und dessen Philosophie. Offenbar weckte die-ser Ideal-Typus Vorbehalte in ihm, die eine Tendenz zur Abgrenzung auslösten:„DerSchopenhauersche Menschtrieb mich zur Skepsis gegen alles Ver-ehrte Hochgehaltene, bisher Vertheidigte (auch gegen Griechen SchopenhauerWagner) Genie Heilige – Pessimismus der Erkenntniss. Bei diesemUmwegkamichaufdieHöhe,mitdenfrischesten Winden“ (NL 1878, 27 [80], KSA 8,500). Und in derFröhlichen Wissenschaftrelativiert N. später teilweise die intel-lektuelle Redlichkeit Schopenhauers, die er in UB III SE noch so nachdrücklichbehauptet (vgl. dazu NK 346, 12–14).371, 23dieses Leiden dient ihm, seinen Eigenwillen zu ertödten]Anspielung aufdie Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben, die Schopenhauer im
164Schopenhauer als ErzieherVierten Buch seines Hauptwerks entfaltet. N. greift hier nicht nur generell aufSchopenhauers Konzept zurück, sondern orientiert sich sogar wörtlich an sei-nen Formulierungen. So definiert Schopenhauer „das innere Wesen der Heilig-keit, Selbstverleugnung, Ertödtung des Eigenwillens, Askesis [...] als Vernei-nung des Willens zum Leben,eintretend, nachdem ihm die vollendeteErkenntniß seines eigenen Wesens zum Quietiv alles Wollens geworden“ ist(WWV I, § 68, Hü 452–453).371, 26–28Heraussagen des Wahren [...] Halbheiten und Flausen]Den pejorati-ven Begriff ‚Flausen‘, den N. in UB III SE auch an späterer Stelle gebraucht(407, 26), verwendet bereits Schopenhauer in seiner SchriftUeber die Universi-täts-Philosophie(PP I, Hü 170). Ähnlich wie N. kritisiert auch Schopenhauerden Obskurantismus (PP I, Hü 172, 173, 186; SE 419, 425) philosophischer Phi-lister, die ihre geistige Substanzlosigkeit mit pretiösen Phrasen zu kaschierenversuchen (PP I, Hü 170, 173, 175, 177) und mit „Flausen“ (PP I, Hü 170), „Flos-keln“ (PP I, Hü 158), „Jargon“ und „Bombast“ (PP I, Hü 169, 177) imponierenwollen. Mit dieser Attitüde kontrastieren Schopenhauer und N. die Redlichkeit(PP I, Hü 202, 204; SE 348), Originalität, Objektivität (PP I, Hü 181, 182, 204)und „Besonnenheit“ (PP I, Hü 181; SE 377) der seriösen Philosophen, die ernst-haft die Wahrheit suchen.371, 31–32„So setzest du der ewig regen, der heilsam schaffenden Gewalt diekalte Teufelsfaust entgegen“]Zitat aus GoethesFaust I(V. 1379–1381). In derSzene ‚Studierzimmer I‘ konstatiert Faust im ersten Gespräch mit Mephisto:„So setzest du der ewig regen, / Der heilsam schaffenden Gewalt / Die kalteTeufelsfaust entgegen, / Die sich vergebens tückisch ballt! / Was anders suchezu beginnen / Des Chaos wunderlicher Sohn!“ (V. 1379–1384). Die vorangegan-gene Aussage, mit der Faust Mephisto Destruktionslust und Negativismus at-testiert (V. 1359–1361), klammert N. hier aus. Zugleich vollzieht er tendenzielleine positive Umdeutung des Mephisto-Parts auf Kosten Fausts. Denn N.schafft eine Affinität zwischen Mephistos Habitus und seinem eigenen, anSchopenhauers Vorbild orientierten Ideal des ‚echten‘ Philosophen, der kom-promisslos die Wahrheit sucht. Daher fährt N. folgendermaßen fort: „der, wel-cher schopenhauerisch leben wollte, würde wahrscheinlich einem Mephisto-pheles ähnlicher sehen als einem Faust“ (371, 33–34). Die mit dem Ethos derWahrhaftigkeit verbundene Strenge verträgt sich nicht mit der Konzilianz, diebequeme und unaufrichtige Zeitgenossen erwarten. Denn sie verurteilen das„Heraussagen des Wahren“ vorschnell als „Ausfluss der Bosheit“ (371, 26–27),wenn es ihren Interessen zuwiderläuft.372, 1–2die schwachsichtigen modernen Augen nämlich, welche im Verneinenimmer das Abzeichen des Bösen erblicken]Indem N. das pejorative Urteil über
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 371–372165das „Verneinen“ kritisiert, greift er erneut auf eine zentrale Partie aus GoethesFaust Izurück: auf die ironische Selbstdefinition Mephistos. Er beantwortetFausts Frage „Nun gut, wer bist du denn?“ mit den Worten: „Ein Teil von jenerKraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ (V. 1335–1336). WennN. die Interpretation solcher Negativität als Indiz „des Bösen“ kritisiert, dannbezieht er zugleich auch Mephistos Antwort auf Fausts anschließende Fragenach dem Sinn dieses „Rätselwort[s]“ (V. 1337) mit ein: „Ich bin der Geist, derstets verneint!“ (V. 1338). Schon aus Mephistos Selbstdarstellung geht hervor,dass Verneinung – gemäß seiner Aussage – in diesem Fall gerade nicht dasBöse zur Folge hat. Denn anstelle „des Bösen“ bewirkt Mephisto, wie er selbstgesteht, entgegen seiner eigentlichen Absicht letztlich doch „das Gute“. – ImHinblick auf die positive Wirkung des ‚Verneinens‘ lassen sich gewisse Affinitä-ten zu N.s Vorstellung der ‚kritischen Historie‘ feststellen, die er im 3. Kapitelvon UB II HL als ein radikales, ja ultimatives Gericht über die Vergangenheitcharakterisiert. Das Verdikt über eine lähmende Pietät angesichts geschichtli-cher Traditionen soll zur Befreiung von der Überlastung durch das Historischeführen und insofern „im Dienste des Lebens“ stehen (KSA 1, 269, 11), das N.ganz im Sinne von Schopenhauers Willensmetaphysik als „dunkle, treibende,unersättlich sich selbst begehrende Macht“ beschreibt (KSA 1, 269, 21). Wäh-rend N. im vorliegenden Kontext von UB III SE eine Haltung kritisiert, die „imVerneinen immer das Abzeichen des Bösen“ sieht und dadurch das ihm inne-wohnende positive Potential ignoriert, erhofft er vom „Gericht“ der kritischenHistorie gemäß UB II HL zukunftsweisende Impulse, die dem am Ballast derVergangenheit leidenden Menschen neue Handlungsspielräume und Gestal-tungsmöglichkeiten für die Zukunft eröffnen. Wie in UB III SE zitiert N. auchin der ebenfalls 1874 publizierten Historienschrift aus GoethesFaust(vgl.KSA 269, 25–27), und zwar mit der Intention, die Radikalität der kritischen His-torie zu rechtfertigen.372, 2–6Aber es giebt eine Art zu verneinen und zu zerstören, welche geradeder Ausfluss jener mächtigen Sehnsucht nach Heiligung und Errettung ist, alsderen erster philosophischer Lehrer Schopenhauer unter uns entheiligte und rechteigentlich verweltlichte Menschen trat.]Im Vierten Buch derWelt als Wille undVorstellungcharakterisiert Schopenhauer den Heiligen als positive Leitfigur:als Inbegriff von Weltverneinung und Askese. Schopenhauer legt dar, wiedurch die Selbsterkenntnis des Willens, „wenn sie auf den Willen zurückwirkt,die Selbstaufhebung desselben eintreten kann, d. i. die Resignation, welchedas letzte Ziel, ja, das innerste Wesen aller Tugend und Heiligkeit, und dieErlösung von der Welt ist“ (WWV I, § 27, Hü 181–182). Dem „zur Resignationgelangten Heiligen“ werde die „reine, wahre und tiefe Erkenntniß des Wesensder Welt“ zum „Quietiv des Willens, erlöst ihn [...] vom Leben“ (WWV I, § 52,
166Schopenhauer als ErzieherHü 316). Mit seinem Konzept einer Verneinung des Willens zum Leben ziehtSchopenhauer die Konsequenz aus seiner pessimistischen Weltanschauung.N. führt seine Anspielung auf Schopenhauers Theorien im 5. Kapitel vonUB III SE weiter, wo er Schopenhauers Pessimismus mit seiner eigenen Kultur-kritik amalgamiert (vgl. 383, 4–8). Indem N. Schopenhauer ausdrücklich alsphilosophischen „Lehrer“ für „uns entheiligte und recht eigentlich verweltlich-te Menschen“ bezeichnet, bezieht er auch die moderne Problematik der Säku-larisierung mit ein, deren Folgen Schopenhauer in seiner SchriftUeber dieUniversitäts-Philosophiethematisiert. Seines Erachtens potenziert sich „dasmetaphysische“Bedürfnis vor allem dann, „wann, wie eben jetzt, das An-sehn der Glaubenslehre mehr und mehr gesunken ist. Diese nämlich, als aufdie große Masse des Menschengeschlechts berechnet und derselben angemes-sen, kann bloßallegorischeWahrheit enthalten, welche sie jedoch, als sen-su proprio wahr geltend zu machen hat“ (PP I, Hü 158). Je mehr sich die Wis-sensbestände in allen Sparten erweitern, desto größer werde auch „die Anzahlder Menschen, denen sie nicht mehr genügen kann, [...] und diese wird mehrund mehr auf Wahrheit sensu proprio dringen“ (PP I, Hü 158). Für solche Men-schen kann Schopenhauer nach N.s Überzeugung als philosophischer Lehrerfungieren.Aufschlussreich erscheint dann allerdings eine deutliche Reserve in N.sBrief an Paul Deussen von Anfang August 1877. Denn hier bekundet N., er habeschon während der Niederschrift von UB III SE „von allen dogmatischen Punc-ten fast nichts mehr fest“ gehalten, „glaube aber jetzt noch wie damals, dasses einstweilen höchst wesentlich ist, durch Schopenhauer hindurch zu gehenund ihn als Erzieher zu benutzen“; anschließend bekennt er: „Nur glaube ichnicht mehr,dass er zur Schopenhauerschen Philosophieerziehen soll“KSB 5, Nr. 642, S. 265). Und im „September 1886“ erklärt N. in der Vorrede zuMenschliches, Allzumenschliches II(KSA 2, 377, 11): „Als ich sodann, in der drit-ten Unzeitgemässen Betrachtung, meine Ehrfurcht vor meinem ersten und ein-zigen Erzieher, vor demgrossenArthur Schopenhauer zum Ausdruck brach-te – ich würde sie jetzt noch viel stärker, auch persönlicher ausdrücken – warich für meine eigne Person schon mitten in der moralistischen Skepsis undAuflösung drin, dasheisst ebenso sehr in der Kritik als der Ver-tiefung allesbisherigen Pessimismus–,undglaubte bereits ‚an garnichts mehr‘, wie das Volk sagt, auch an Schopenhauer nicht“ (KSA 2, 370, 8–17).372, 7–8Alles Dasein, welches verneint werden kann, verdient es auch, verneintzu werden]Hier paraphrasiert N. eine zentrale Partie aus Goethes DramaFaustI, in der sich Mephistopheles bei seinem ersten Erscheinen dem überraschtenFaust mit folgenden Worten vorstellt: „Ich bin der Geist, der stets verneint! /
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 372167Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, / Ist wert, daß es zugrunde geht; /Drum besser wär’s, daß nichts entstünde. / So ist denn alles, was ihr Sünde, /Zerstörung, kurz das Böse nennt, / Mein eigentliches Element“ (V. 1338–1344). – N.s affirmative Einstellung zu Mephistos Urteil erklärt sich aus seiner(zum Zeitpunkt der Niederschrift von UB III SE noch ausgeprägten) Affinitätzu der pessimistischen Philosophie seines Lehrers Schopenhauer, die in der‚Verneinung des Willens zum Leben‘ kulminiert. Vgl. ergänzend die ausführli-cheren Darlegungen zu dieser Szene in NK 372, 1–2.372, 10–13Deshalb empfindet der Wahrhaftige den Sinn seiner Thätigkeit alseinen metaphysischen, aus Gesetzen eines andern und höhern Lebens erklärba-ren und im tiefsten Verstande bejahenden]Hier schließt N. an SchopenhauersVerständnis der Philosophie an. In seiner SchriftUeber die Universitäts-Philoso-phiebetont dieser das unbedingte Wahrheitsethos des ‚echten‘ Philosophen:Nach seiner Überzeugung kennt „diereinePhilosophie [...] keinen andernZweck als die Wahrheit [...]. Ihr hohes Ziel ist die Befriedigung jenes edelenBedürfnisses, von mir dasmetaphysischegenannt, welches der Mensch-heit, zu allen Zeiten, sich innig und lebhaft fühlbar macht, am stärksten aber,wann, wie eben jetzt, das Ansehn der Glaubenslehre mehr und mehr gesunkenist“ (PP I, Hü 158).Im Hinblick auf die ‚bejahende Thätigkeit‘ des Wahrhaftigen, die sogar„ein Zerstören und Zerbrechen der Gesetze dieses Lebens“ einschließt (372, 14),unterscheidet sich N.s Perspektive allerdings von derjenigen Schopenhauers.Zwar charakterisiert dieser „die Welt“ als „Spiegel dieser Bejahung“ (WWV I,§ 60, Hü 390) und die „Selbsterkenntniß“ des Willens „und darauf sich ent-scheidende Bejahung oder Verneinung“ als „die einzige Begebenheit an sich“(WWV I, § 35, Hü 216). Aber das eigentliche Telos ist in Schopenhauers Philoso-phie gerade nicht die Bejahung, sondern die Verneinung des Willens zum Le-ben. In diesem Sinne beschreibt er, wie durch die Selbsterkenntnis des Willens,„wenn sie auf den Willen zurückwirkt, die Selbstaufhebung desselben eintre-ten kann, d. i. die Resignation, welche das letzte Ziel, ja, das innerste Wesenaller Tugend und Heiligkeit, und die Erlösung von der Welt ist“ (WWV I, § 27,Hü 181–182). Schopenhauers Quintessenz lautet: „Wahres Heil, Erlösung vomLeben und Leiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken.Bis dahin ist Jeder nichts Anderes, als dieser Wille selbst, dessen Erscheinungeine hinschwindende Existenz, ein immer nichtiges, stets vereiteltes Strebenund die dargestellte Welt voll Leiden ist“ (WWV I, § 68, Hü 470). Analoge Aus-sagen finden sich in derWelt als Wille und Vorstellung Inoch an vielen anderenStellen: vgl. z. B. WWV I, § 52, Hü 316; § 55, Hü 339; § 68, Hü 448–449; § 54,Hü 336.
168Schopenhauer als Erzieher372, 16–17auch Meister Eckhard weiss: „das schnellste Thier, das euch trägtzur Vollkommenheit, ist Leiden“.]Dieses metaphorische Diktum des deutschenMystikers Meister Eckhart (ca. 1260–1328) übernimmt N. von Schopenhauer. ImVierten Buch derWelt als Wille und Vorstellung IIendet das Kapitel 48, das denTitel „Zur Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben“ trägt, mit denWorten: „Darum also sage ich, daß der Geist der Christlichen Moral mit demdes Brahmanismus und Buddhaismus identisch ist. – In Gemäßheit der ganzenhier dargelegten Ansicht, sagt auch Meister Eckhard (Werke, Bd. I, 492): ‚Dasschnellste Thier, das euch trägt zur Vollkommenheit, das ist Leiden.‘“ (WWV II,Kap. 48, Hü 729.) – In seinem Hauptwerk konstatiert Schopenhauer, dass dasMenschenleben „schon der ganzen Anlage nach, keiner wahren Glücksäligkeitfähig, sondern wesentlich ein vielgestaltetes Leiden und ein durchweg unsäli-ger Zustand ist“ (WWV I, § 59, Hü 381), dem „gänzliches Nichtseyn [...] ent-schieden vorzuziehn wäre“ (WWV I, § 59, Hü 383).Daher charakterisiert Schopenhauer das Trauerspiel als „Gipfel der Dicht-kunst“ und betont, dass „der Zweck dieser höchsten poetischen Leistungdie Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens ist, daß der namenloseSchmerz, der Jammer der Menschheit, der Triumph der Bosheit, die höhnendeHerrschaft des Zufalls und der rettungslose Fall der Gerechten und Unschuldi-gen uns hier vorgeführt werden: denn hierin liegt ein bedeutsamer Wink überdie Beschaffenheit der Welt und des Daseyns. Es ist der Widerstreit des Willensmit sich selbst, welcher hier, auf der höchsten Stufe seiner Objektität, am voll-ständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt. Am Leiden der Menschheit wird ersichtbar, welches nun herbeigeführt wird, teils durch Zufall und Irrthum [...];theils geht er aus der Menschheit selbst hervor, durch die sich kreuzendenWillensbestrebungen der Individuen, durch die Bosheit und Verkehrtheit derMeisten“ (WWV I, § 51, Hü 298). Laut Schopenhauer erreicht in einzelnen Indi-viduen „diese Erkenntniß, geläutert und gesteigert durch das Leiden selbst,den Punkt“, an dem „das principium individuationis [...] durchschaut wird, derauf diesem beruhende Egoismus eben damit erstirbt“ und die „Erkenntniß desWesens der Welt, alsQuietiv desWillens wirkend, die Resignation herbei-führt, das Aufgeben [...] des ganzen Willens zum Leben selbst“ (WWV I, § 51,Hü 299). Zu Schopenhauers Theorie des Willens und des Trauerspiels vgl. Ney-meyr 1996a, 105–212, 387–424; Neymeyr 2011, 369–391.372, 20–22ein solcher Schopenhauerischer Mensch zu sein: also [...] von wun-dersamer Gelassenheit]N.s Begriff ‚Gelassenheit‘ lässt sich sowohl auf dieWeisheit des Philosophen als auch auf die spezifische Seelenruhe des Heiligenund des Mystikers beziehen, den im unmittelbaren Kontext „Meister Eckhard“(372, 16) repräsentiert. Als Reminiszenz an Schopenhauer erscheint der Begriff‚Gelassenheit‘, weil er in dessen Philosophie, insbesondere im Rahmen ethi-
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 372169scher Konzepte, eine wesentliche Rolle spielt. Zu differenzieren ist zwischenzwei Gebrauchsweisen des Begriffs von unterschiedlicher Reichweite: Einer-seits versteht Schopenhauer ‚Gelassenheit‘ generalisierend als Charakteristi-kum des animal rationale schlechthin, andererseits verwendet er den Begriffspezifizierend im Sinne eines ethischen Telos. Im Ersten Buch derWelt als Willeund Vorstellung Ibetont Schopenhauer die „von der thierischen Gedankenlosig-keit sich so sehr unterscheidende menschliche Gelassenheit“ (WWV I, § 16,Hü 102). Und im Vierten Buch schreibt er: Die „Erkenntniß des Ganzen, desWesens der Dinge an sich“ kann „zumQuietivalles und jedes Wollens“ wer-den: „Der Wille wendet sich nunmehr vom Leben ab [...]. Der Mensch gelangtzum Zustande der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelas-senheit und gänzlichen Willenslosigkeit“ (WWV I, § 68, Hü 448).Zugleich verweist der Begriff ‚Gelassenheit‘ auch auf die Seelenruhe (tran-quillitas animi), Beständigkeit (constantia) und Unerschütterlichkeit des Ge-müts (Ataraxia) als Charakteristika, die den stoischen Weisen auszeichnen.Wie N. setzte sich auch Schopenhauer selbst mit der stoischen Ethik auseinan-der, deren Ataraxia-Ideal deutliche Affinitäten zu seiner eigenen Philosophieerkennen lässt. In diesem Sinne beschreibt er in denAphorismen zur Lebens-weisheitdie Haltung dessen, der „bei allen Unfällen gelassen bleibt“, weil „erweiß, wie kolossal und tausendfältig die möglichen Uebel des Lebens sind“,als „die stoische Gesinnung“ (PP I, Hü 504). Zur Stoizismus-Rezeption beiSchopenhauer vgl. Neymeyr 2008b, Bd. 2, 1141–1164. Zu N.s kritischer Ausei-nandersetzung mit dem Stoizismus vgl. Neymeyr 2008c, Bd. 2, 1165–1198 und2009a, 65–92. Vgl. dazu komprimiert NK 351, 2–5 und vor allem NK 506, 29 –507, 3.372, 29–30er vernichtet sein Erdenglück durch seine Tapferkeit]Indem N. den‚Schopenhauerischen Menschen‘ hier über souveräne Gelassenheit hinausauch durch Kampfbereitschaft und ein uneigennütziges Engagement für dieWahrheit charakterisiert, bei dem er sogar persönliche Nachteile bis hin zumVerlust von Glückschancen in Kauf nimmt, greift er auf Schopenhauers Darle-gungen zum Genie zurück. So betont Schopenhauer, dass die besondere Bega-bung des Genies „keineswegs geeignet ist, ihm einen glücklichen Lebenslaufzu bereiten, vielmehr das Gegentheil. [...] Dazu kommt noch ein Mißverhältnißnach außen, indem das Genie, in seinem Treiben und Leisten selbst, meistensmit seiner Zeit im Widerspruch und Kampfe steht“ (WWV II, Kap. 31, Hü 447).372, 34 – 373, 2er wird, bei dem menschlichen Maasse seiner Einsicht, unge-recht sein müssen]Mit dieser Aussage über den ‚Schopenhauerischen Men-schen‘ schließt N. an die Thesen zur Gerechtigkeit an, die Schopenhauer inseinerPreisschrift über die Grundlage der Moralformuliert: „Ursprünglich sind
170Schopenhauer als Erzieherwir Alle zur Ungerechtigkeit und Gewalt geneigt, weil unser Bedürfniß, unsereBegierde, unser Zorn und Haß unmittelbar ins Bewußtseyn treten und daherdas Jus primi occupantis haben; hingegen die fremden Leiden, welche unsereUngerechtigkeit und Gewalt verursacht, nur auf dem sekundären Wege derVorstellungunderst durch die Erfahrung, alsomittelbarinsBewußtseynkommen“ (Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik, Hü 213). Und an frü-herer Stelle derselben Schrift bezeichnet Schopenhauer „die Maxime der Unge-rechtigkeit, das Herrschen der Gewalt statt des Rechts“ als das „faktisch inder Natur herrschende Gesetz“, und zwar „auch in der Menschenwelt“ (ebd.,Hü 159). – Eine Rechtfertigung der Ungerechtigkeit als Lebensprinzip lässt sichvor UB III SE auch bereits in UB II HL feststellen, wo N. die Notwendigkeit einer‚kritischen Historie‘ hervorhebt, die den Zeitgenossen dazu verhelfen soll, dieBelastung durch die Übermacht der Geschichte zu überwinden. In seiner Histo-rienschrift formuliert N. ebenfalls eine apologetische Deutung der Ungerechtig-keit, indem er erklärt: „Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt;es ist noch weniger die Gnade, die hier das Urtheil verkündet: sondern dasLeben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrendeMacht. Sein Spruch ist immer ungnädig, immer ungerecht, weil er nie aus ei-nem reinen Borne der Erkenntniss geflossen ist; aber in den meisten Fällenwürde der Spruch ebenso ausfallen, wenn ihn die Gerechtigkeit selber spräche.‚Denn Alles was entsteht, istwerth,dass es zu Grunde geht. [...]‘“ (KSA 1, 269,18–26). Ähnlich wie in UB III SE zitiert N. auch in dieser Textpassage von UBII HL affirmativ aus GoethesFaust(V. 1339–1340).373, 2–4er darf sich mit den Worten zureden und trösten, welche Schopenhau-er, sein grosser Erzieher, einmal gebraucht]Dass N. dieser Aussage einen impli-ziten Selbstbezug eingeschrieben hat, lässt sich schon aus dem Titel vonUB III SE erschließen, auf den er nur wenig später explizit zu sprechen kommt(375, 30–31). Auch im Hinblick auf den lange andauernden Mangel an Anerken-nung für seine Werke teilt N. spezifische Leidenserfahrungen mit seinem Leh-rer Schopenhauer, die seine Identifikation mit ihm noch verstärken. Vgl.NK 353, 6–8 und NK 353, 17.373, 4–15„Ein glückliches Leben ist unmöglich: das Höchste, was der Menscherlangen kann, ist einheroischer Lebenslauf.[...] Sein Andenken bleibt undwird als das eines Heros gefeiert; sein Wille, [...] ein ganzes Leben hindurch mor-tificirt, erlischt in der [sic] Nirwana“.]Hier zitiert N. wörtlich aus Schopenhau-ersParerga und Paralipomena II: „Einglückliches Leben istunmöglich:das höchste, was der Mensch erlangen kann, ist einheroischer Lebens-lauf.Einen solchen führt Der, welcher [...] mit übergroßen Schwierigkeitenkämpft und am Ende siegt, dabei aber schlecht oder gar nicht belohnt wird.
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 373171Dann bleibt er, am Schluß, wie der Prinz im Re cervo des Gozzi, versteinert,aber in edler Stellung und mit großmüthiger Gebärde stehn. Sein Andenkenbleibt und wird als das einesHerosgefeiert; seinWille,durch Mühe undArbeit, schlechten Erfolg und Undank der Welt, ein ganzes Leben hindurch,mortificirt,erlischtindemNirwana“(PPII,Kap. 14, § 172 a, Hü 342).Schopenhauers Diktum zum ‚heroischen Lebenslauf‘ erscheint als Quintes-senz seiner pessimistischen Willensmetaphysik. Schopenhauer beruft sich da-bei explizit auf Carlyle: „Carlyle hat in diesem Sinn geschrieben on Heroesand Hero worship. Lond. 1842“ (PP II, Kap. 14, § 172 a, Hü 342). Den von N.verwendeten Begriff ‚Heros‘ gebraucht Schopenhauer auch in seiner SchriftUe-ber die Universitäts-Philosophie. Die „Aristokratie der Natur“wird nachSchopenhauers Auffassung vom „Publikum“ philosophischer Schriften igno-riert, das nicht adäquat urteilen kann oder will: „Daher legt es so bald dieSeltenen und Wenigen, welchen, im Laufe der Jahrhunderte, die Natur denhohen Beruf des Nachdenkens über sie, oder auch der Darstellung des Geistesihrer Werke, ertheilt hatte, aus den Händen, um sich mit den Produktionendes neuesten Stümpers bekannt zu machen. Ist ein Mal ein Heros dagewesen;so stellt es bald einen Schächer daneben, – als ungefähr auch so Einen“ (PP I,Hü 189). Im näheren Umfeld dieser Textpassage grenzt Schopenhauer Kantssinguläre Leistungen von den bloßen Anmaßungen ab, die er bei Fichte, Schel-ling und vor allem Hegel glaubt feststellen zu können (PP I, Hü 189–190).373, 10wie der Prinz im Re corvo des Gozzi] Re corvo(König Rabe) ist einSchauspiel des italienischen Dichters Carlo Graf Gozzi (1720–1806), der diesemWerk von 1761 im Jahre 1762 ein Schauspiel mit dem TitelIl re cervo(KönigHirsch) folgen ließ. – Offensichtlich unterläuft N. hier ein Zitierfehler; denn beiSchopenhauer heißt es: „[...] Dann bleibt er, am Schluß, wie der Prinz im Recervo des Gozzi, versteinert, aber in edler Stellung und mit großmüthiger Ge-bärde stehn“ (PP II, Kap. 14, § 172, Hü 342). Demnach nimmt Schopenhauer,den N. hier ausführlich zitiert (373, 4–15), auf das spätere Drama Gozzis Bezug.373, 15–18Ein solcher heroischer Lebenslauf, sammt der in ihm vollbrachtenMortification, entspricht freilich am wenigsten dem dürftigen Begriff derer, wel-che darüber die meisten Worte machen]Mit dem Begriff „Mortification“ ist hierein von der indischen Philosophie inspiriertes Ideal gemeint, das auf die Abtö-tung der eigenen Begierden und auf die Überwindung des Egoismus zielt. Be-reits Schopenhauer verwendet diesen Begriff im Kontext seiner Ethik der Wil-lensverneinung, die von der indischen Philosophie stark beeinflusst ist.Häufiger als den radikalen Begriff ‚Mortifikation‘ (PP II, Kap. 14, § 172 a,Hü 342) oder die Formulierung „Absterben des Willens“ (WWV II, Kap. 49,Hü 733) gebraucht Schopenhauer allerdings den moderateren Begriff ‚Quietiv‘
172Schopenhauer als Erzieherdes Willens. Die ‚Verneinung des Willens zum Leben‘ propagiert er im ViertenBuch derWelt als Wille und Vorstellung. – In N.s handschriftlicher Vorlage zumErstdruck findet sich eine Textvariante, die einen identifikatorischen Bezugherstellt: „Wir sollen alle Heroen der Wahrhaftigkeit sein, noch [mehr] viel bes-ser wir können es alle sein. Nur freilich nicht nach dem dürftigen Begriff derer,welche jetzt Feste feiern und das Andenken grosser Menschen ehren“ (KSA 14,77).373, 32–34sind doch alle Ordnungen des Menschen darauf eingerichtet, dassdas Leben in einer fortgesetzten Zerstreuung der Gedanken nichtgespürtwer-de]Hier schließt N. an Schopenhauers Reflexionen über die Langeweile an.Schopenhauer konstatiert, „daß sobald Noth und Leiden dem Menschen eineRast vergönnen, die Langeweile gleich so nahe ist, daß er des Zeitvertreibesnothwendig bedarf. Was alle Lebenden beschäftigt und in Bewegung erhält,ist das Streben nach Daseyn. Mit dem Daseyn aber, wenn es ihnen gesichertist, wissen sie nichts anzufangen: daher ist das Zweite, was sie in Bewegungsetzt, das Streben, die Last des Daseyns los zu werden, es unfühlbar zu ma-chen, ,die Zeit zu tödten‘, d. h. der Langenweile zu entgehn“ (WWV I, § 57,Hü 369). Im Zustand der „Langeweile“ wird dem Menschen „sein Daseyn selbst[...] zur unerträglichen Last. Sein Leben schwingt also, gleich einem Pendel,hin und her, zwischen dem Schmerz und der Langenweile, welche Beide in derThat dessen letzte Bestandtheile sind“ (WWV I, § 57, Hü 368; analog: WWV I,§ 57, Hü 371). So wird die „Langeweile“ auch zur „Quelle der Geselligkeit. Auchwerden überall gegen sie, wie gegen andere allgemeine Kalamitäten, öffentli-che Vorkehrungen getroffen, schon aus Staatsklugheit; weil dieses Uebel, sogut als sein entgegengesetztes Extrem, die Hungersnoth, die Menschen zu dengrößten Zügellosigkeiten treiben kann: panem et Circenses braucht das Volk“(WWV I, § 57, Hü 369). In denAphorismen zur LebensweisheitbeschreibtSchopenhauer die „Langeweile“ als „schreckliche Stagnation aller Kräfte imganzen Menschen“ (PP I, Hü 352); in denParerga und Paralipomena IIbetonter die Notwendigkeit, „die Langeweile abzuwehren, die über jedes gesicherteLeben, wie ein lauernder Raubvogel, herfällt“ (PP II, Kap. 11, § 146, Hü 305).Zur Thematik der Langeweile bei Schopenhauer vgl. auch NK 379, 32–34 undNK 397, 24; zur Relevanz des kulturellen Kontextes vgl. NK 389, 29–30.374, 1–2das Leben spüren, das heisst am Leben leiden]Die Leidensthematikhat in Schopenhauers pessimistischer Philosophie zentrale Bedeutung. Dennseiner Überzeugung zufolge ist das Leben wesentlich durch Leiden bestimmt.So behauptet Schopenhauer, dass das Menschenleben „schon der ganzen An-lage nach, keiner wahren Glücksäligkeit fähig, sondern wesentlich einvielge-staltetes Leiden und ein durchweg unsäliger Zustand ist“ (WWV I, § 59, Hü 381),
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 373–374173dem „gänzliches Nichtseyn [...] entschieden vorzuziehn wäre“ (WWV I, § 59,Hü 383). Vgl. ergänzend weitere Belege in NK 372, 16–17.374, 19–20und dochsind sieetwas, was nie etwas Anderes werden kann]Andieser Stelle greift N. auf die Thematik der Individualität zurück, die im ganzen1. Kapitel von UB III SE zentrale Bedeutung hat. Hier unterstellt er seinen Zeit-genossen eine problematische Tendenz zur Bequemlichkeit und kritisiert eska-pistische Verhaltensweisen: Sie weigern sich, aus der intuitiven Einsicht, dass„jeder Mensch [...] nur einmal, als ein Unicum, auf der Welt ist“ (337, 7–8),die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Statt dieser Erkenntnis durch eineindividuelle und autonome Lebensführung Rechnung zu tragen, ziehen siesich aus purer Faulheit auf bloße Konventionalität zurück.374, 21–25Wer [...] ganz und gar in die Geschichte des Werdens, in die Historiehinein gehören will, hat die Lection, welche ihm das Dasein aufgiebt, nicht ver-standen]Hier übernimmt N. Schopenhauers despektierliche Einschätzung derGeschichte und der Historiker. Im Dritten Buch derWelt als Wille und Vorstel-lung IIwidmet Schopenhauer der Geschichte ein ganzes Kapitel. Ähnlich wieN. in UB III SE (374–375) kontrastiert zuvor bereits Schopenhauer die Philoso-phie mit der Geschichte, die er als planlose Abfolge kontingenter Ereignisseversteht: „Der Stoff der Geschichte“ ist laut Schopenhauer „das Einzelne inseiner Einzelheit und Zufälligkeit, was Ein Mal ist und dann auf immer nichtmehr ist [...]. Von diesem Standpunkt aus erscheint uns der Stoff der Geschichtekaum noch als ein der ernsten und mühsamen Betrachtung des Menschengeis-tes würdiger Gegenstand, des Menschengeistes, der, gerade weil er so vergäng-lich ist, das Unvergängliche zu seiner Betrachtung wählen sollte“ (WWV II,Kap. 38, Hü 505).Dass Schopenhauer Philosophie und Geschichte hier so entschieden kon-trastiert, hängt nicht zuletzt mit seiner Polemik gegen Hegel zusammen. Sokritisiert er auch das „besonders durch die überall so geistesverderbliche undverdummende Hegelsche Afterphilosophie aufgekommene Bestreben, dieWeltgeschichte als ein planmäßiges Ganzes zu fassen, oder, wie sie es nennen,‚sie organisch zu konstruiren‘“, dem „ein roher und platterRealismus zumGrunde“ liegt, „der dieErscheinungfürdasWesen an sichderWelt hältund vermeint, auf sie, auf ihre Gestalten und Vorgänge käme es an“ (WWV II,Kap. 38, Hü 505). Diese „von plattem Optimismus“ geleiteten „Konstruktions-geschichten“ (WWV II, Kap. 38, Hü 506) der besagten „Geschichts-Philosophenund -Verherrlicher“, die Schopenhauer zudem für „eingefleischte Philister“hält (WWV II, Kap. 38, Hü 507), zielen „zuletzt immer auf einen behaglichen,nahrhaften, fetten Staat“ (WWV II, Kap. 38, Hü 506).In implizitem Rückgriff auf Schopenhauers Thesen wendet sich inUB III SE auch N. dezidiert gegen naiven Geschichtsoptimismus (364–365). In
174Schopenhauer als Erzieherseiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophie, auf die N. in UB III SE explizitrekurriert (413, 418), attackiert Schopenhauer die „Anmaaßung HegelianischerGeschichtsschreiber der Philosophie, welche jedes System als nothwendig ein-tretend darthun, und sonach, die Geschichte der Philosophie a priori konstrui-rend, uns beweisen“, dass jeder Gedanke notwendigerweise gedacht wordensei, wobei sie „das Werk einzelner und einziger Köpfe“ ignorieren, die „ebenso individuell, wie selten sind“ (PP I, Hü 209).374, 29–30das endlose Spiel der Albernheit, welches das grosse Kind Zeit voruns und mit uns spielt]Anspielung auf ein Fragment Heraklits, der die Zeit (den‚Aion‘) mit einem spielenden Kind vergleicht (Frg. 22 B 52, Diels/Kranz): „DieZeit ist ein spielendes Kind, das Brettsteine setzt – die Herrschaft eines Kindes“(αἰὼν παῖς ἐστι παίζων, πεσσεύων · παιδὸς ἡ βασιληίη ἐν τῇ τοῦ αἰῶνοςπαιδιῇ). – Vgl. dazu auch N.s nachgelassene SchriftDie Philosophie im tragi-schen Zeitalter der Griechen(KSA 1, 830, 23–28): „Ein Werden und Vergehen,ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicherUnschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes.Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer[Heraklits], baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt derAeon mit sich.“ (τί γὰρ ὁ αἰὼν ἐστι παῖς παίζων πεσσεύων διαφερόμενος, συμ-φερόμενος (= ἐν τῷ διαφέρεσθαι συμφερόμενος).374, 31Heroismus der Wahrhaftigkeit]Mit dieser Formulierung greift N. aufSchopenhauers Diktum zurück, das er selbst in UB III SE kurz zuvor zitiert hat:„Ein glückliches Leben ist unmöglich: das Höchste, was der Mensch erlangenkann, ist einheroischer Lebenslauf[...]“ (373, 4–15). Vgl. NK 373, 4–15.Dieses bekannte Diktum aus SchopenhauersParerga und Paralipomena II(PP II, Kap. 14, § 172 a, Hü 342) kann als Quintessenz seiner pessimistischenWillensmetaphysik gelten. In seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophiebetont Schopenhauer die Seltenheit des geistigen „Heros“ (PP I, Hü 189) undpostuliert für den genuinen Philosophen „Redlichkeit, wie im Handel undWandel, so auch im Denken und Lehren“ (PP I, Hü 202). Als Kriterium der Be-urteilung betrachtet er „ganz allein die Wahrheit, die, selbst bei aller Redlich-keit des Forschens und der Anstrengung der überlegensten Geisteskraft, soschwer zu erreichende Wahrheit: [...] Nie wird man in der Lösung der Proble-me, welche unser so unendlich räthselhaftes Daseyn uns von allen Seiten ent-gegenhält, auch nur einen Schritt weiter kommen, wenn man nach einem vor-gesteckten Ziele philosophirt“ (PP I, Hü 204). Zur partiellen Relativierung vonSchopenhauers intellektuellem Ethos durch N. im Text 99 derFröhlichen Wis-senschaftvgl. NK 346, 12–14.374, 32 – 375, 1Im Werden ist Alles hohl, betrügerisch, flach und unserer Ver-achtung würdig; das Räthsel, welches der Mensch lösen soll, kann er nur aus
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 374175dem Sein lösen, im So- und nicht Anderssein, im Unvergänglichen.]Vgl. dazuauch eine andere Passage von UB III SE, wo N. erklärt, „der Philosoph“ müsse„seine Zeit in ihrem Unterschiede gegen andre wohl abschätzen und, indem erfür sich die Gegenwart überwindet, auch in seinem Bilde, das er vom Lebengiebt, die Gegenwart überwinden“ (361, 10–14): Hier ist N.s Postulat der Un-zeitgemäßheit relevant, das er als unabdingbare Voraussetzung adäquaterErkenntnis betrachtet. Wenn N. die Thematik der Individualität in Verbindungmit seiner Kritik am Primat der Historie reflektiert, spannt er zugleich einenweiten, bis in die philosophische Tradition der Antike zurückreichenden Hori-zont auf. Schon die vorsokratischen Philosophen reflektierten über den Gegen-satz von Sein und Werden: Parmenides vertrat die These von einem zeitlosenSein, Heraklit hingegen betont das unaufhörliche Werden. In seiner SchriftDiePhilosophie im tragischen Zeitalter der Griechenlegt N. den Gegensatz zwischenParmenides und Heraklit ausführlich dar (KSA 1, 830 und KSA 1, 844–845).Zugleich greift N. an dieser Stelle erneut auf Überlegungen Schopenhauerszurück, dessen Philosophie sowohl auf Kantischen als auch auf PlatonischenPrämissen basiert. Im Kapitel 38 „Ueber Geschichte“ derWelt als Wille undVorstellung IIschreibt Schopenhauer: „Die Hegelianer, welche die Philosophieder Geschichte sogar als den Hauptzweck aller Philosophie ansehn, sind aufPlato zu verweisen, der unermüdlich wiederholt, daß der Gegenstand der Phi-losophie das Unveränderliche und immerdar Bleibende sei, nicht aber Das,was bald so, bald anders ist. Alle Die, welche solche Konstruktionen des Welt-verlaufs, oder, wie sie es nennen, der Geschichte, aufstellen, haben die Haupt-wahrheit aller Philosophie nicht begriffen, daß nämlich zu aller Zeit das Selbeist, alles Werden und Entstehn nur scheinbar, die Ideen allein bleibend, dieZeit ideal. Dies will der Plato, Dies will der Kant. Man soll demnach zu verstehnsuchen, was da ist, wirklich ist, heute und immerdar, – d. h. dieIdeen (inPlato’s Sinn) erkennen. Die Thoren hingegen meinen, es solle erst etwas wer-den und kommen. Daher räumen sie der Geschichte eine Hauptstelle in ihrerPhilosophie ein und konstruiren dieselbe nach einem vorausgesetzten Weltpla-ne, welchem gemäß Alles zum Besten gelenkt wird, welches dann finaliter ein-treten soll und eine große Herrlichkeit seyn wird“ (WWV II, Kap. 38, Hü 506–507).Schopenhauer erklärt: „Eine wirkliche Philosophie der Geschichte soll alsonicht, wie Jene alle thun, Das betrachten, was (in Plato’s Sprache zu reden)immerwirdundnieist,UndDieses für das eigentliche Wesen der Dinge hal-ten; sondern sie soll Das, was immer ist und nie wird, noch vergeht, im Augebehalten. Sie besteht also nicht darin, daß man die zeitlichen Zwecke der Men-schen zu ewigen und absoluten erhebt, und nun ihren Fortschritt dazu, durchalle Verwickelungen, künstlich und imaginär konstruirt; sondern in der Ein-
176Schopenhauer als Erziehersicht, daß die Geschichte nicht nur in der Ausführung, sondern schon in ihremWesen lügenhaft ist, indem sie, von lauter Individuen und einzelnen Vorgän-gen redend, vorgiebt, allemal etwas Anderes zu erzählen; während sie, vomAnfang bis zum Ende, stets nur das Selbe wiederholt, unter andern Namen undin anderm Gewande. Die wahre Philosophie der Geschichte besteht nämlich inder Einsicht, daß man, bei allen diesen endlosen Veränderungen und ihremWirrwarr, doch stets nur das selbe, gleiche und unwandelbare Wesen vor sichhat, welches heute das Selbe treibt, wie gestern und immerdar: sie soll alsodas Identische in allen Vorgängen, der alten wie der neuen Zeit, des Orientswie des Occidents, erkennen, und, trotz aller Verschiedenheit der speciellenUmstände, [...] überall die selbe Menschheit erblicken. Dies Identische und un-ter allem Wechsel Beharrende besteht in den Grundeigenschaften des mensch-lichen Herzens und Kopfes, – vielen schlechten, wenigen guten. Die Deviseder Geschichte überhaupt müßte lauten: Eadem, sed aliter“ (WWV II, Kap. 38,Hü 507–508).Später ändert N. seine Grundeinschätzung im Hinblick auf die Relationvon Werden und Sein allerdings fundamental: Hatte er in UB III SE noch das„hohl[e], betrügerisch[e]“ „Werden“ abgelehnt, stattdessen dem „Unvergängli-chen“ den Primat gegeben und für die Konzentration auf das „Sein“ plädiert(374, 32 – 375, 1), so bezeichnet er bereits inMenschliches, Allzumenschlichesden „Mangel an historischem Sinn“ als fundamentales Defizit, ja als den „Erb-fehler aller Philosophen“ (KSA 2, 24, 24–25), weil sie die Charakteristika des„gegenwärtigen Menschen“ vorschnell „als eine aeterna veritas“ hypostasierenund ihn irrtümlich als Stabilisierungsfaktor „in allem Strudel“ und als „siche-res Maass der Dinge“ ansehen (KSA 2, 24, 18–21). Dabei verkennen sie laut N.die Bedeutung der phylogenetischen Entwicklung des Menschen und derenRelevanz für „das Erkenntnissvermögen“ speziell (KSA 2, 24, 30), das seinerAnsicht zufolge ebenfalls historisch zu relativieren ist.Ebenfalls inMenschliches, Allzumenschlichesattestiert N. den traditionel-len Philosophen eine prekäre Unbelehrbarkeit: „Sie wollen nicht lernen, dassder Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen geworden ist;während Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnissvermö-gen sich herausspinnen lassen“ (KSA 2, 24, 29–32). Dezidiert übt N. Kritik anPhilosophen, die unreflektiert von ihren eigenen Projektionen ausgehen. Sieführen zur Annahme von „ewigen Thatsachen“und„absoluten Wahrhei-ten“ (KSA 2, 25, 12–13), die N. als verfehlte philosophische Prämissen betrach-tet. Entschieden hält er ihnen die lapidare Feststellung entgegen: „Alles aberist geworden“ (KSA 2, 25, 11–12). Aus ihr leitet er die methodische Konsequenzab: „Demnach ist dashistorische Philosophirenvonjetzt ab nöthig undmit ihm die Tugend der Bescheidung“ (KSA 2, 25, 13–15).
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 374–375177In derGötzen-Dämmerungsetzt N. seine historische Argumentation in pole-misch verschärfter Form fort: „die Gehirnleiden kranker Spinneweber“ (KSA 6,76, 30–31) schreibt er hier den Philosophen zu, die sich als „Begriffs-Götzendie-ner“ der Illusion hingeben, „einer Sache eineEhreanzuthun, wenn sie diesel-be enthistorisiren, sub specie aeterni“ (KSA 6, 74, 6–11). Infolge ihrer spezifi-schen Erkenntnisdefizite haben diese pathologischen Philosophen laut N. „seitJahrtausenden“ bloße „Begriffs-Mumien“ hervorgebracht, weil sie „Wandel [...]und Wachsthum“ als reale Gegebenheiten nicht akzeptieren können: „Sie töd-ten, sie stopfen aus [...], wenn sie anbeten“ (KSA 6, 74, 8–11). Die Sinne hinge-gen würden sie als verlogen diffamieren (KSA 6, 74), weil diese „das Werden,das Vergehn, den Wechsel zeigen“ (KSA 6, 75, 20–21). Diese Einschätzung be-gründen die „Begriffs-Götzendiener“ nach N. so: Die Sinne „betrügen uns überdiewahreWelt“ (KSA 6, 74, 21–22). Durch ihre „Idiosynkrasie“ (KSA 6, 76, 13)gegenüber der sinnlichen Dimension berauben sich die traditionellen Philoso-phen wichtiger „Werkzeuge der Beobachtung“ (KSA 6, 75, 26). N. hingegen be-trachtet die Bereitschaft, „das Zeugniss der Sinneanzunehmen“,alscondi-tio sine qua non von Wissenschaft (KSA 6, 76, 3). Von seinem verändertenVerständnis der Relation von Werden und Sein aus entwirft N. in derGötzen-Dämmerungkritische Perspektiven auf wichtige Stationen der Philosophiege-schichte seit Platon, und zwar im Abschnitt „Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zurFabel wurde“ (KSA 6, 80–81).Allerdings reicht auch der von N. in UB III SE (361, 10–14; 374, 32 – 375, 1)formulierte Anspruch auf eine ‚unzeitgemäße‘ Betrachtung, die alle histori-schen Bedingtheiten relativiert und vom Philosophen einen objektivierendenBlick verlangt, bis in N.s Spätphase, und zwar trotz der programmatischen Kri-tik am „Mangel an historischem Sinn“ als fundamentalem „Erbfehler aller Phi-losophen“ (KSA 2, 24, 24–25). So erklärt N. in der SchriftDer Fall WagnermitNachdruck: „Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich? SeineZeit in sich zu überwinden, ‚zeitlos‘ zu werden. Womit also hat er seinen här-testen Strauss zu bestehn? Mit dem, worin gerade er das Kind seiner Zeit ist“(KSA 6, 11, 14–17).375, 9–10Der heroische Mensch verachtet sein Wohl- oder Schlecht-Ergehen]Vgl. dazu auch die Schopenhauer-Bezüge, auf die in NK 372, 29–30 und vorallem in NK 373, 4–15 hingewiesen wird. N.s Aussage korrespondiert darüberhinaus mit Postulaten der stoischen Philosophie, die Seneca in seinen Schrif-ten entschieden heroisch formiert. In seinenEpistulae moralesplädiert er da-für, sich durch die Unbeständigkeit des Schicksals, seine Ungerechtigkeit undWillkür (Epist. 9, 12; 18, 6; 78, 29) nicht irritieren zu lassen, sondern Glück undUnglück zu verachten („contemnere utramque fortunam“: Epist. 71, 37). Vgl.auch Epist. 93, 4 und 76, 21, wo Seneca gerade in der Geringschätzung der
178Schopenhauer als Erzieherfortuna (in beiderlei Gestalt, also in Glück und Unglück) die Tugend (virtus)erblickt. Virtus zeichnet sowohl den Tapferen (vir fortis) als auch den Weisen(vir sapiens) aus, sie hat also – ähnlich wie im vorliegenden Kontext in N.sUB III SE – eine aktive und eine philosophische Komponente; beide verbindensich im Konzept des vir bonus, der Unausweichliches mit Gleichmut (aequoanimo) hinnimmt, seine virtus im Widerstand gegen die unbeständige fortunabewährt und Seelenstärke (firmitas animi) dadurch beweist, dass er sich überdas Schicksal erhebt (Epist. 63, 1; 44, 5).375, 13Seine Kraft liegt in seinem Sich-selbst-Vergessen]Hier knüpft N. an zen-trale Prämissen Schopenhauers an, die sowohl seine Ästhetik als auch seinKonzept der Philosophie bestimmen. In der SchriftUeber die Universitäts-Philo-sophiebetont er die Bedeutung der „Selbstdenker im zwiefachen, und Egoistenim edelsten Sinne des Worts: sie allein sind es, von denen die Welt Belehrungempfängt“ (PP I, Hü 163). Diese „seltene, durch keinen Vorsatz und guten Wil-len zu erzwingende Anomalie, ohne welche jedoch, in der Philosophie, keinwirklicher Fortschritt möglich ist“, sieht Schopenhauer in einer völlig interes-selosen und zweckfreien Erkenntniseinstellung: „Denn für Andere, oder über-haupt für unmittelbare Zwecke, geräth nimmermehr ein Kopf in die höchste,dazu eben erforderte, Anspannung, als welche gerade das Vergessen seinerselbst und aller Zwecke verlangt; sondern da bleibt es beim Schein und Vorge-ben der Sache“ (PP I, Hü 163). Hinzu komme, „daß Leute, denen das eigeneWohl der wahre Zweck, das Denken nur Mittel dazu ist, stets die temporärenBedürfnisse und Neigungen der Zeitgenossen, die Absichten der Befehlendenu. dgl. m. im Auge behalten müssen. Dabei läßt sich nicht nach der Wahrheitzielen, die, selbst bei redlich auf sie gerichtetem Blicke, unendlich schwer zutreffen ist“ (PP I, Hü 163).In denParerga und Paralipomena IIschreibt Schopenhauer: „Das reineSubjekt des Erkennens tritt ein, indem man sich vergißt, um ganz in den ange-schauten Gegenständen aufzugehn; so daß nur sie im Bewußtseyn übrig blei-ben“ (PP II, Kap. 19, § 206, Hü 443). In derWelt als Wille und Vorstellung IIexpliziert er diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Das punctum saliens je-des schönen Werkes, jedes großen oder tiefen Gedankens, ist eine ganz objekti-ve Anschauung“ (WWV II, Kap. 30, Hü 424). Sie setze „die Befreiung des Er-kennens vom Dienste des Willens, das Vergessen seines Selbst als Individuumsund die Erhöhung des Bewußtseyns zum reinen, willenlosen, zeitlosen, vonallen Relationen unabhängigen Subjekt des Erkennens“ voraus (WWV I, § 38,Hü 234).Das Fundament dieser Konzeption liegt in Schopenhauers Willensmeta-physik: Denn da „die Erkenntniß [...] aus dem Willen entsprossen ist“, wird sie„gerade durch ihn verunreinigt [...]. Hierauf beruht es, daß wir das rein objekti-
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 375179ve Wesen der Dinge, die in ihnen hervortretendenIdeen,nurdann auffassenkönnen, wann wir kein Interesse an ihnen selbst haben, indem sie in keinerBeziehung zu unserm Willen stehn“ (WWV II, Kap. 30, Hü 422). Ein „Abstrahi-ren vom eigenen Willen, ein Erheben über sein Interesse“, erfordert daher„eine besondere Schwungkraft des Intellekts“, die „im höhern Grade und aufeinige Dauer nur dem Genie eigen“ ist (WWV II, Kap. 30, Hü 422).375, 16–17Die alten Denker suchten mit allen Kräften das Glück und die Wahr-heit]Das gilt in unterschiedlicher Weise für mehrere der antiken Philosophen-schulen: Während Platon und Aristoteles in ihren Erkenntnistheorien primärauf Wahrheit zielten, ohne das Glück auszuklammern, lag das Telos der stoi-schen und der epikureischen Ethik – trotz divergierender Grundkonzepte –letztlich in einem durch Seelenruhe ermöglichten Glück (Eudaimonia).375, 20Wunder der Enttäuschung]Den Sonderfall anschaulich-intuitiver Er-kenntnis und kontemplativer Gelassenheit beschreibt N. hier mithilfe einer pa-radoxal anmutenden Pointierung, die an Vorstellungen Schopenhauers an-schließt. Der Begriff ‚Enttäuschung‘ ist hier positiv konnotiert: im Sinne einererkenntnisfördernden Desillusionierung. Durch sie wird jene fundamentaleTäuschung überwunden, die gemäß Schopenhauers Philosophie durch dasprincipium individuationis bedingt ist. In derWelt als Wille und Vorstellungschreibt er: „den Blick des rohen Individuums trübt, wie die Inder sagen, derSchleier der Maja: ihm zeigt sich, statt des Dinges an sich, nur die Erscheinung,in Zeit und Raum, dem principio individuationis, und in den übrigen Gestal-tungen des Satzes vom Grunde: und in dieser Form seiner beschränkten Er-kenntniß sieht er nicht das Wesen der Dinge, welches Eines ist, sondern dessenErscheinungen, als gesondert, getrennt, unzählbar, sehr verschieden, ja entge-gengesetzt“; daher sucht er „oft durch das Böse, d. h. durch Verursachung desfremden Leidens, dem Uebel, dem Leiden des eigenen Individuums, zu ent-gehn, befangen im principio individuationis, getäuscht durch den Schleier derMaja“ (WWV I, § 63, Hü 416). Der Egoist, dessen Sinn „der Schleier der Majaumhüllt“, ist nach Schopenhauers Auffassung „im principio individuationisbefangen“ und sieht daher „seine Person von jeder andern als absolut ver-schieden“ (WWV I, § 65, Hü 431).„Von diesem Wahn und Blendwerk der Maja geheilt seyn, und Werke derLiebe üben, ist Eins“ (WWV I, § 66, Hü 441). Demjenigen, „der die Werke derLiebe übt, ist der Schleier der Maja durchsichtig geworden, und die Täuschungdes principii individuationis hat ihn verlassen“ (WWV I, § 66, Hü 440–441).„Ist nun aber dieses Durchschauen des principii individuationis, diese unmit-telbare Erkenntniß der Identität des Willens in allen seinen Erscheinungen, inhohem Grade der Deutlichkeit vorhanden; so wird sie sofort einen noch weiter
180Schopenhauer als Erziehergehenden Einfluß auf den Willen zeigen. Wenn nämlich vor den Augen einesMenschen jener Schleier der Maja, das principium individuationis, so sehr ge-lüftet ist, daß derselbe nicht mehr den egoistischen Unterschied zwischen sei-ner Person und der fremden macht, sondern an den Leiden der andern Indivi-duen so viel Antheil nimmt, wie an seinen eigenen, und dadurch nicht nur imhöchsten Grade hülfreich ist, sondern sogar bereit, sein eigenes Individuum zuopfern, sobald mehrere fremde dadurch zu retten sind; dann folgt von selbst,daß ein solcher Mensch, der in allen Wesen sich, sein innerstes und wahresSelbst erkennt, auch die endlosen Leiden alles Lebenden als die seinen be-trachten und so den Schmerz der ganzen Welt sich zueignen muß. Ihm ist keinLeiden mehr fremd“ (WWV I, § 68, Hü 447). Auf der Basis dieser Erkenntniskann der Mensch laut Schopenhauer „zum Zustande der freiwilligen Entsa-gung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenslosig-keit“ gelangen (WWV I, § 68, Hü 448). „Wahres Heil, Erlösung vom Leben undLeiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken“ (WWV I,§ 68, Hü 470). Nur wenn das „Blendwerk der Maja“ überwunden ist (WWV I,§ 68, Hü 470), wird nach Schopenhauer der „Zustand der Resignation“ mög-lich, den idealiter der „unerschütterliche Friede“ begleitet (WWV I, § 68,Hü 471).Während Schopenhauer die Metapher ‚Schleier der Maja‘ und die mit ihrverbundenen bildhaften Vorstellungen aus der indischen Philosophie entlehnt,versucht N. die sprachliche Annäherung an „etwas Unaussprechbares“, dassich tradierter Begrifflichkeit entzieht und auch durch Vorstellungen von„Glück und Wahrheit“ nicht adäquat erfasst werden kann, im näheren Kontext(375, 21–28) mithilfe lyrischer Assoziationen in poetischer Diktion. Auch im Werkdes spanischen Moralisten Baltasar Gracián (1601–1658) ist der Begriff der Ent-täuschung von zentraler Bedeutung. GraciánsHandorakel, das Schopenhauerübersetzte, gehörte ebenfalls zu N.s Lektüren.375, 25–27Dem Schauenden ist, als ob er gerade zu wachen anfinge und als obnur noch die Wolken eines verschwebenden Traumes um ihn her spielten.]Wiedie zuvor genannten „götzenhafte[n] Nachbilder“ (375, 22) können sich auch„die Wolken eines verschwebenden Traumes“ auf die Idolenlehre des empiris-tisch und rationalistisch orientierten Naturphilosophen und Wissenschafts-theoretikers Francis Bacon (1561–1626) beziehen, der u. a. durch sein WerkNo-vum organon scientiarum(1620) bekannt wurde. Bacon propagiert ein genauesVerständnis der Naturphänomene und deren reale Abbildung ohne Vorurteile(sogenannte ‚Idole‘), durch welche Erkenntnisse verfälscht werden können.Dabei unterscheidet Bacon vier Typen von ‚Idolen‘: nämlich Irrtümer durchunbewusste Einflüsse auf das menschliche Denken und Handeln, Irrtümeraufgrund von unkritischer Orientierung an Autoritäten, Irrtümer infolge des
Stellenkommentar UB III SE 4, KSA 1, S. 375181Sprachgebrauchs, mithin durch Verwechslung stereotypisierter Begriffe mitden Dingen selbst, und Irrtümer durch den Einfluss von Denkweisen und Af-fekten des Forschenden, der dessen Perspektive auf die Dinge verändert undso auch zu einer anthropomorphen Weltsicht beiträgt. Zum Stellenwert des Ex-periments, das Francis Bacon in einer Abkehr von Aristotelischen Prinzipienund von tradierten wissenschaftlichen Verfahren in seiner SchriftNovum Orga-numals neue Methode zur Naturbeherrschung propagiert, vgl. NK 3/1, 383.Vor allem aber veranschaulicht N. mit seiner poetischen Bildlichkeit das,was Schopenhauer unter Rückgriff auf die indische Vedanta-Philosophie miteiner plastischen Metapher als Zerreißen oder als Durchsichtigwerden des‚Schleiers der Maja‘ beschreibt (WWV I, § 66, Hü 440–441). Mit der Metaphorikvon Traum und Wachen korreliert Schopenhauer das träumerische Befangen-sein im principium individuationis mit dem Erkenntnisprozess, der den Men-schen dazu befähige, die durch das principium individuationis bedingte funda-mentale Täuschung zu überwinden und die von den „Gestaltungen des Satzesvom Grunde“ getrübte Erkenntnis zu transzendieren (WWV I, § 63, Hü 416). DieErscheinungswelt, „das Gewebe der Maja“ (WWV I, § 5, 20), „der Schleier desTruges, welcher die Augen der Sterblichen umhüllt [...] gleicht dem Traume“(WWV I, § 3, Hü 9).Schopenhauer analogisiert diese metaphorischen Bilder aus der indischenVedanta-Philosophie mit seiner eigenen Theorie der ‚Vorstellung‘, die auf demBegriff der ‚Erscheinung‘ in KantsKritik der reinen Vernunftbasiert. Zugleichverbindet Schopenhauer die erkenntnistheoretischen Prämissen mit ethischenPostulaten. Während der Egoist, dessen Sinn „der Schleier der Maja umhüllt“,noch „im principio individuationis befangen“ sei und daher „seine Person vonjeder andern als absolut verschieden“ ansehe (WWV I, § 65, Hü 431), erkennederjenige, der vom „Wahn und Blendwerk der Maja geheilt“ sei (WWV I, § 66,Hü 441), die „Identität des Willens in allen seinen Erscheinungen“ und macheinfolgedessen auch „nicht mehr den egoistischen Unterschied zwischen seinerPerson und der fremden“, sondern partizipiere „an den Leiden der andern Indi-viduen“, und zwar aufgrund einer Fähigkeit zu empathischer Identifikation,die ihm alles Leiden vertraut erscheinen lässt (WWV I, § 68, Hü 447). NachSchopenhauers Philosophie wird erst dann, wenn das „Blendwerk der Maja“überwunden ist (WWV I, § 68, Hü 470), ein Ethos der „Gelassenheit“ möglich(WWV I, § 68, Hü 448), weil in diesem Zustand alle voluntativen Verstrickun-gen beseitigt sind. So entsteht der „unerschütterliche Friede“ (WWV I, § 68,Hü 471), für den N. im vorliegenden Kontext den Begriff ‚Verklärung‘ wählt(375, 24).
182Schopenhauer als Erzieher5.375, 30–31Schopenhauer, nach meinen Erfahrungen, alsErzieherdarzustel-len]InEcce homobietet N. ausführliche Retrospektiven auf seine Werke undgeht dabei auch auf dieUnzeitgemässen Betrachtungenein (KSA 6, 316–321).Die fundamentale Veränderung der Einstellung zu seinem früheren LehrerSchopenhauer macht N. hier evident, indem er eine Analogie zum VerhältnisPlatons zu Sokrates herstellt: „Dergestalt hat sich Plato des Sokrates bedient,als einer Semiotik für Plato“ (KSA 6, 320, 5–6). Aus dieser Korrespondenz er-gibt sich für N. die folgende Neubewertung von UB IV WB und UB III SE: „DieSchrift ‚Wagner in Bayreuth‘ ist eine Vision meiner Zukunft; dagegen ist in‚Schopenhauer als Erzieher‘ meine innerste Geschichte, meinWerdeneinge-schrieben. Vor Allem meinGelöbniss!...“ (KSA 6, 320, 9–12), also eine Anti-zipation der eigenen zukünftigen Entwicklung. N.s Abkehr von seinem frühe-ren Schüler-Status verändert die Perspektive auf seinen einstigen „Erzieher“(350, 15) radikal. Daher behauptet er im Rückblick sogar, in UB III SE komme„im Grunde nicht ‚Schopenhauer als Erzieher‘, sondern seinGegensatz,‚Nietzsche als Erzieher‘, zu Worte“ (KSA 6, 320, 29–31). Mit analoger Aussage-tendenz, zugleich allerdings mit deutlicher Ambivalenz äußert sich N. am19. Februar 1888 in einem Brief an Georg Brandes, wenn ihm UB III SE undUB IV WB „mehr Selbstbekenntnisse, vor allemSelbstgelöbnisseübermich“ darzustellen scheinen „als etwa eine wirkliche Psychologie jener mirebenso tief verwandten als antagonistischen Meister“ Schopenhauer und Wag-ner (KSB 8, Nr. 997, S. 260).376, 2platonische Idee]Nach der philosophischen Lehre Platons sind Ideendie vollkommenen und unvergänglichen Urbilder alles Seienden. Für derenbloße Abbilder hält er die konkreten Einzelphänomene in der sinnlich erfahr-baren Wirklichkeit. Als symbolisches Konzentrat der Platonischen Philosophiefungiert das berühmte ‚Höhlengleichnis‘ im 7. Buch derPoliteia(514 a – 519 d),auf das N. in UB III SE mehrmals anspielt; vgl. hier vor allem 356, 13–15. Darü-ber hinaus verwendet N. das Höhlenmotiv auch in 354, 2–3, in 354, 26 und in359, 30. Vgl. jeweils die Kommentare zu diesen Textstellen. Indem N. seinenLehrer Schopenhauer im vorliegenden Kontext von UB III SE als die Repräsen-tation des „idealen Menschen“ beschreibt und erklärt, dass dieser „in und umSchopenhauer, gleichsam als seine platonische Idee, waltet“ (376, 1–2), bringter seine besondere Hochschätzung für Schopenhauer zum Ausdruck. Aller-dings verlässt er mit dieser Ansicht zugleich auch das Fundament der Platoni-schen Philosophie.Platon bringt im ‚Höhlengleichnis‘ den ontologisch sekundären Status derrealen Welt, die im Vergleich mit der eigentlichen Essenz der Ideenwelt ledig-
Stellenkommentar UB III SE 5, KSA 1, S. 375–377183lich Abbildcharakter habe, in ein Analogieverhältnis zu den bloßen Schattenvon Nachbildungen von Dingen der Außenwelt, welche von Höhlenbewohnernauf den Innenwänden ihrer Höhle wahrgenommen werden. Weil sie die Weltaußerhalb dieser Höhle nicht kennen, ist ihnen nicht bewusst, dass die Schat-ten auf den Höhlenwänden lediglich einen Reflex der Wirklichkeit bilden, derdurch ein Feuer außerhalb der Höhle zustande kommt. Aus diesem Grundüberschätzen die Menschen in der Höhle die Bedeutung dieser Schatten undhalten sie irrtümlich für die eigentliche Realität. Die Funktion des Philosophenverbildlicht Platon, indem er einen Führer in das Gleichnis integriert, der diein der Höhle gefangenen Menschen ans Tageslicht geleiten will, um ihnen eineadäquate Erkenntnis der Außenwelt zu ermöglichen, dabei aber mühsameÜberzeugungsarbeit gegen ausgeprägte Widerstände leisten muss. Durch sein‚Höhlengleichnis‘ veranschaulicht Platon die Differenz zwischen philosophi-scher Erkenntnis und einem naiven vorphilosophischen Weltbild: Seiner Ide-enlehre zufolge vermag die Seele des Menschen durch die Fähigkeit zur Anam-nesis (Wiedererinnerung) die Verbindung zu den im Zustand der Präexistenzbereits geschauten Ideen wiederherzustellen (vgl. dazu die Darlegungen in Pla-tons DialogMenon). – N. rekurriert nicht nur in UB III SE auf das traditionsrei-che Höhlenmotiv (vgl. 354, 2–3; 354, 26; 359, 30), sondern greift auch in derFröhlichen Wissenschaftauf Platons ‚Höhlengleichnis‘ als allegorisches Denk-modell zurück; dort allerdings überformt er dessen erkenntnistheoretischeAusrichtung mit einer atheistischen Vorstellung: „Gott ist todt: aber so wie esdie Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlengeben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch nochseinen Schatten besiegen!“ (KSA 3, 467, 5–9).376, 19–29damit nicht an uns das grosse Wort Goethes in Erfüllung gehe: „derMensch ist zu einer beschränkten Lage geboren; einfache, nahe, bestimmte Zielevermag er einzusehen [...]; sobald er aber in’s Weite kommt, weiss er weder, waser will, noch was er soll [...]. Es ist immer sein Unglück, wenn er veranlasst wird,nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmässige Selbstthätigkeitnicht verbinden kann“.]Zitat aus Goethes RomanWilhelm Meisters Lehrjahre,und zwar aus dem 6. Buch, das den Titel trägt „Bekenntnisse einer schönenSeele“ (vgl. Goethe: FA, Bd. 9, 779). Als Perspektivfigur fungiert hier der Oheim,von dem Schiller in einem Brief vom 3. Juli 1796 vermutet, dass Goethe in die-sen Charakter am meisten von seiner „eigenen Natur gelegt“ hat (Goethe: FA,Bd. 9, 1468). Zu Goethes RomanWilhelm Meisters Lehrjahrevgl. auch NK 342,5–14.377, 21Mitleiden mit den Thieren]Die Mitleidsethik hat in Schopenhauers Phi-losophie zentrale Bedeutung. In seinerPreisschrift über die Grundlage der Mo-
184Schopenhauer als Erzieherralformuliert er die „Wahrheit, daß das Mitleid, als die einzige nicht egoistische,auchdiealleinigeächtmoralischeTriebfeder“ ist(Schriften zur Naturphilosophieund zur Ethik, Hü 231). Schopenhauer charakterisiert das Mitleid als „ganz un-mittelbare, ja, instinktartige Theilnahme am fremden Leiden“ und versteht dieseals „die alleinige Quelle solcher Handlungen“, die „moralischen Werthhaben“(Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik, Hü 227). Das Mitleid er-klärt er zur „Grundlage der Moral“ und betrachtet diese „Triebfeder der Morali-tät“ als „die einzige, der sich eine reale, ja, ausgedehnte Wirksamkeit nachrüh-men läßt“ (Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik, Hü 233). Die damitverbundene Einstellung beschreibt Schopenhauer folgendermaßen: Hier wird„das fremde Leiden an sich selbst und als solches unmittelbar mein Motiv“, wo-bei „das Mitleid nicht bloß mich abhält, den Andern zu verletzen, sondern sogarmich antreibt, ihm zu helfen. Je nachdem nun theils jene unmittelbare Theilnah-me lebhaft und tiefgefühlt, theils die fremde Noth groß und dringend ist, werdeich durch jenes rein moralische Motiv bewogen werden, ein größeres oder gerin-geres Opfer dem Bedürfniß oder der Noth des Andern zu bringen. [...] Hier also,inder unmittelbaren,aufkeine Argumentationgestützten,noch derenbedürfen-den Theilnahme, liegt der allein lautere Ursprung der Menschenliebe, der cari-tas“ (Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik, Hü 227).Da das Mitleid laut Schopenhauer auf dem „Durchschauen des principiiindividuationis“ beruht (vgl. NK 375, 20 und NK 375, 25–27) und die „unmittel-bare Erkenntniß der Identität des Willens in allen seinen Erscheinungen“ vo-raussetzt (WWV I, § 68, Hü 447), beschränkt es sich keineswegs nur auf denBereich der Mitmenschlichkeit, sondern schließt auch das Verhalten gegenüberden Tieren mit ein: „Mitleid mit Thieren hängt mit der Güte des Charakters sogenau zusammen, daß man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Thieregrausam ist, könne kein guter Mensch seyn. Auch zeigt dieses Mitleid sich ausder selben Quelle mit der gegen Menschen zu übenden Tugend entsprungen.So z.B. werden fein fühlende Personen, bei der Erinnerung“ an die Mißhand-lung von Tieren „die selbe Reue [...] empfinden, welche bei der Erinnerung angegen Menschen verübtes Unrecht empfunden wird, wo sie die Stimme desstrafenden Gewissens heißt“ (Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik,Hü 242).377, 23ihr Dasein metaphysisch zu verstehen]Auch hier schließt N. an Scho-penhauer an, der in derWelt als Wille und Vorstellung Ierklärt, „daß in derganzen unvernünftigen Welt, vom Krystall bis zum vollkommensten Thier,kein Wesen ein eigentlich zusammenhängendes Bewußtseyn hat, welches seinLeben zu einem sinnvollen Ganzen machte, auch keines eine Succession geisti-ger Entwickelungen erfährt, keines durch Bildung sich vervollkommnet, son-dern Alles gleichmäßig zu jeder Zeit dasteht, wie es seiner Art nach ist, durch
Stellenkommentar UB III SE 5, KSA 1, S. 377185festes Gesetz bestimmt“ (WWV I, § 52, Hü 306). Allein dem Menschen kommeein solches „zusammenhängendes Bewußtseyn“ zu (ebd.), das seinen höch-sten Ausdruck in der Philosophie finde. Die conditio sine qua non dafür be-steht darin, dass der Intellekt sich vom Willensdienst emanzipiert und dadurchzu jener objektiven Erkenntnis fähig wird, die auch „metaphysisch[e]“ Reflexi-on ermöglicht (vgl. PP II, Kap. 4, § 67, Hü 103). Schopenhauer bezeichnet „dieWahrheit“ als den einzigen Zweck der „reine[n]Philosophie“: „Ihr hohesZiel ist die Befriedigung jenes edelen Bedürfnisses, von mir dasmetaphysi-schegenannt“, das „der Menschheit“ am intensivsten in Zeiten der Säkulari-sierung „fühlbar“ ist, wenn traditionelle Glaubensgewissheiten ihre Bedeutungverloren haben (PP I, Hü 158).Das 17. Kapitel derWelt als Wille und Vorstellung IIträgt den Titel „Ueberdas metaphysische Bedürfniß des Menschen“. Hier definiert Schopenhauer denMenschen als „animal metaphysicum“ (WWV II, Kap. 17, Hü 176) und begrün-det diese Charakterisierung im Kontext folgendermaßen: „Den Menschenausgenommen, wundert sich kein Wesen über sein eigenes Daseyn [...]. Erstnachdem das innere Wesen der Natur (der Wille zum Leben in seiner Objektiva-tion) sich [...] durch die lange und breite Reihe der Thiere [...] gesteigert hat,gelangt es endlich, beim Eintritt der Vernunft, also im Menschen, zum erstenMale zur Besinnung“ (WWV II, Kap. 17, Hü 175). Erst durch Vernunft und Be-sonnenheit wird dem Menschen das Nachdenken über das eigene Wesen, aberauch über die eigene Endlichkeit und „die Vergeblichkeit alles Strebens“ mög-lich (WWV II, Kap. 17, Hü 176). Schopenhauer sieht „den stärksten Anstoß zumphilosophischen Besinnen und zu metaphysischen Auslegungen der Welt“ im„Wissen um den Tod“ sowie in der „Betrachtung des Leidens und der Noth desLebens“ (WWV II, Kap. 17, Hü 176–177). „UnterMetaphysik“versteht er„jede angebliche Erkenntniß, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, alsoüber die Natur, oder die gegebene Erscheinung der Dinge, hinausgeht, um Auf-schluß zu ertheilen über Das, wodurch jene, in einem oder dem andern Sinne,bedingt wäre; oder, populär zu reden, über Das, was hinter der Natur stecktund sie möglich macht“ (WWV II, Kap. 17, Hü 180). Da die „metaphysischenSysteme“ der Philosophie (ebd.), „Nachdenken, Bildung, Muße und Urtheil er-fordern; so können sie nur einer äußerst geringen Anzahl von Menschenzugänglich seyn, auch nur bei bedeutender Civilisation entstehn und sich er-halten“ (WWV II, Kap. 17, Hü 181). Für die große Mehrheit der Menschen hinge-gen, die nicht zu rationaler Analyse und selbständiger Argumentation, „son-dern nur zu glauben befähigt und nicht für Gründe, sondern nur für Auktoritätempfänglich ist“, kommt allein eine Art von „Volksmetaphysik“ in Betracht,mithin die „Religionen“; sie „finden sich bei allen Völkern, mit Ausnahme derallerrohesten“ (ebd.).
186Schopenhauer als Erzieher377, 24es empört im tiefsten Grunde, das sinnlose Leiden zu sehen]Für Scho-penhauers Willensmetaphysik ist die Thematik des Leidens von zentraler Be-deutung. In seinem Hauptwerk schreibt er: „Was wird erreicht durch das thieri-sche Daseyn, welches so unübersehbare Anstalten erfordert? – Und da ist nunnichts aufzuweisen, als die Befriedigung des Hungers und des Begattungstrie-bes und allenfalls noch ein wenig augenblickliches Behagen, wie es jedemthierischen Individuo, zwischen seiner endlosen Noth und Anstrengung, dannund wann zu Theil wird. Wenn man Beides, die unbeschreibliche Künstlichkeitder Anstalten, den unsäglichen Reichthum der Mittel, und die Dürftigkeit desdadurch Bezweckten und Erlangten neben einander hält; so dringt sich dieEinsicht auf, daß das Leben ein Geschäft ist, dessen Ertrag bei Weitem nichtdie Kosten deckt“ (WWV II, Kap. 28, Hü 403). Dass „in der Natur überall Streit,Kampf und Wechsel des Sieges“ herrscht, führt Schopenhauer auf „die demWillen wesentliche Entzweiung mit sich selbst“ zurück: „Jede Objektivationdes Willens macht der andern die Materie, den Raum, die Zeit streitig“ (WWV I,§ 27, Hü 174). „Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf inder Thierwelt [...], indem jedes Thier sein Daseyn nur durch die beständigeAufhebung eines fremden erhalten kann; so daß der Wille zum Leben durch-gängig an sich selber zehrt und in verschiedenen Gestalten seine eigene Nah-rung ist, bis zuletzt das Menschengeschlecht [...] in sich selbst jenen Kampf,jene Selbstentzweiung des Willens, zur furchtbarsten Deutlichkeit offenbart,und homo homini lupus wird“ (WWV I, § 27, Hü 175). Drastisch begründetSchopenhauer das existentielle Leiden jedes Lebewesens damit, „daß der Willean sich selber zehren muß, weil außer ihm nichts daist und er ein hungrigerWille ist. Daher die Jagd, die Angst und das Leiden“ (WWV I, § 28, Hü 183).Vgl. auch WWV I, § 66 Hü 441.377, 25–27die Vermuthung, dass die Seelen schuldbeladner Menschen in dieseThierleiber gesteckt seien]Anspielung auf die Lehre von der Metempsychose(Seelenwanderung). Vgl. dazu die auch von Schopenhauer rezipierten Lehrender indischen Philosophie, die dieser selbst in derWelt als Wille und Vorstel-lungso beschreibt: „der Mythos von der Seelenwanderung [...] lehrt, daß alleLeiden, welche man im Leben über andere Lebewesen verhängt, in einem fol-genden Leben auf eben dieser Welt, genau durch die selben Leiden wiederabgebüßt werden müssen; welches so weit geht, daß wer nur ein Thier tödtet,einst in der unendlichen Zeit auch als eben ein solches Thier geboren werdenund den selben Tod erleiden wird. Er lehrt, daß böser Wandel ein künftigesLeben, auf dieser Welt, in leidenden und verachteten Wesen nach sich zieht,daß man demgemäß sodann wieder geboren wird in niedrigeren Kasten, oderals Weib, oder als Thier, als Paria oder Tschandala, als Aussätziger, als Kroko-dil u. s. w. Alle Quaalen, die der Mythos droht, belegt er mit Anschauungen aus
Stellenkommentar UB III SE 5, KSA 1, S. 377187der wirklichen Welt, durch leidende Wesen, welche auch nicht wissen, wie sieihre Quaal verschuldet haben, und er braucht keine andere Hölle zu Hülfe zunehmen. Als Belohnung aberverheißt er dagegen Wiedergeburt in besseren,edleren Gestalten, als Brahmane, als Weiser, als Heiliger. Die höchste Beloh-nung, welche der edelsten Thaten und der völligen Resignation wartet, [...]kann der Mythos in der Sprache dieser Welt nur negativ ausdrücken, durch dieso oft vorkommende Verheißung, gar nicht mehr wiedergeboren zu werden: [...]‚Du sollst Nirwana erlangen [...].‘“ (WWV I, § 63, Hü 420–421.)Schopenhauers eigene Konzeption der Verneinung des Willens zum Leben,die er im Vierten Buch derWelt als Wille und Vorstellungentfaltet, ist durchdie Metempsychose-Lehre der indischen Philosophie maßgeblich beeinflusst.Direkt im Anschluss an die oben zitierte Darstellung betont Schopenhauer dieumfangreiche kulturgeschichtliche Bedeutung dieser Lehre, allerdings ohne imHinblick auf sie eine strikt affirmative Position zu vertreten. Die Vorstellungvon der Seelenwanderung sieht Schopenhauer auch keineswegs auf die exote-rische Variante der indischen Philosophie beschränkt, wie sie sich in Gestaltder mythologischen Lehre von der Metempsychose manifestiert (vgl. WWV I,§ 63, Hü 419). „Nie hat ein Mythos und nie wird einer sich der so Wenigenzugänglichen, philosophischen Wahrheit enger anschließen, als diese uralteLehre des edelsten und ältesten Volkes, bei welchem sie [...] noch als allgemei-ner Volksglaube herrscht und auf das Leben entschiedenen Einfluß hat, heuteso gut, wie vor vier Jahrtausenden. Jenes non plus ultra mythischer Darstellunghaben daher schon Pythagoras und Plato mit Bewunderung aufgefaßt, von In-dien, oder Aegypten, herübergenommen, verehrt, angewandt [...]“ (WWV I,§ 63, Hü 421).Allerdings weist Schopenhauer auch auf „so viele Ungereimtheiten“ hin,„welche die Metempsychosenlehre begleiten“ (WWV II, Kap. 41, Hü 575), etwaim Hinblick auf die Korrelation zwischen Willen und Intellekt und die Katego-rie der Zeit. Angesichts dieser Problemdimensionen formuliert er das Fazit:„demgemäß ist zur Bezeichnung dieser Lehre das Wort Palingenesie richtiger,als Metempsychose. Diese steten Wiedergeburten machten dann die Successi-on der Lebensträume eines an sich unzerstörbaren Willens aus, bis er, durchso viele und verschiedenartige, successive Erkenntniß, in stets neuer Form,belehrt und gebessert, sich selbst aufhöbe. / Mit dieser Ansicht stimmt auchdie eigentliche, so zu sagen esoterische Lehre des Buddhaismus [...] überein,indem sie nicht Metempsychose, sondern eine eigenthümliche, auf moralischerBasis ruhende Palingenesie lehrt“ (WWV II, Kap. 41, Hü 576). Nach dem „Mys-terium derPalingenesie[...]leuchtet uns ein, daß alle in diesem Augenbli-cke lebenden Wesen den eigentlichen Kern aller künftig leben werdenden ent-halten, diese also gewissermaaßen schon jetzt dasind“ (PP II, Kap. 10, § 140,Hü 293).
188Schopenhauer als Erzieher377, 30–32es ist eine schwere Strafe, dergestalt als Thier unter Hunger undBegierde zu leben und doch über dies Leben zu gar keiner Besonnenheit zu kom-men]Mit dem Begriff ‚Besonnenheit‘ greift N. auf Konzepte Schopenhauers zu-rück, der die Möglichkeit der Besonnenheit als Prärogativ des Menschenbetrachtet, und zwar in expliziter Abgrenzung von der rein animalischen Exis-tenz. In diesem Sinne schreibt Schopenhauer: „Dieses neue, höher potenzirteBewußtseyn, dieser abstrakte Reflex alles Intuitiven im nichtanschaulichen Be-griff der Vernunft, ist es allein, der dem Menschen jene Besonnenheit verleiht,welche sein Bewußtseyn von dem des Thieres so durchaus unterscheidet, undwodurch sein ganzer Wandel auf Erden so verschieden ausfällt von dem seinerunvernünftigen Brüder. Gleich sehr übertrifft er sie an Macht und an Leiden.Sie leben in der Gegenwart allein; er dabei zugleich in Zukunft und Vergangen-heit. Sie befriedigen das augenblickliche Bedürfniß; er sorgt durch die künst-lichsten Anstalten für seine Zukunft, ja für Zeiten, die er nicht erleben kann“(WWV I, § 8, Hü 43). – Im Hintergrund steht zugleich auch das griechische Ide-al der Sophrosyne (σωφροσύνη), das Vernünftigkeit und Selbstbeherrschungimpliziert und auf die Einhaltung des richtigen Maßes zielt.Während Schopenhauer Besonnenheit einerseits als Gattungsspezifikumbetrachtet, das den Menschen gegenüber dem Tier auszeichnet, führt er ande-rerseits auf einer höheren Ebene noch eine zusätzliche Differenzierung ein,indem er Besonnenheit als Charakteristikum von Genialität beschreibt. Dabeifungiert Besonnenheit als Qualitätssignum des Genies, mithin als spezifischeDifferenz zur Abgrenzung von der Sphäre menschlicher Normalität. Vgl. dazuBelege vor allem in Schopenhauers Hauptwerk. Hier setzt er unter Rekurs aufJean PaulsVorschule der Ästhetik„das Wesen des Genies in dieBesonnen-heit“(WWV II, Kap. 31, Hü 436). Diese unterschiedlichen Akzentsetzungen beiSchopenhauer sind dadurch bedingt, dass er sich Besonnenheit in einer Stu-fenreihe vorstellt, die zahlreiche „Grade der Besonnenheit“ umfasst, bis sieüber verschiedene Typen von Alltagsmenschen hinaus erst „den Gelehrten“und dann „endlich den Poeten, oder gar den Philosophen“ erreicht, mithinden Zenit (PP II, Kap 26, § 333, Hü 630–632). Wiederholt ist im Œuvre Schopen-hauers von der ‚genialen Besonnenheit‘ der Künstler und Philosophen dieRede. Bezeichnenderweise vermittelt er die quantitative Differenzierung dabeiso mit einem qualitativen Unterschied, dass die essentielle Abgrenzung desMenschen vom Tier dadurch zugleich in gewisser Hinsicht relativiert wird. –Schopenhauer sieht „den Künstler oder Dichter“ wie „den Philosophen“ durcheine Erkenntnisfähigkeit ausgezeichnet, deren „Wurzel in der Besonnenheit“liege (WWV II, Kap. 31, Hü 437). Den „entfesselten Intellekt“ des Genies ermög-liche erst die Abkehr von jeder praktischen Zweckorientierung; nur dadurchentstehe die Voraussetzung für „geniale Besonnenheit“ (WWV II, Kap. 31,
Stellenkommentar UB III SE 5, KSA 1, S. 377–378189Hü 442). Von fundamentaler Bedeutung ist für Schopenhauer der Unterschiedzwischen objektiver und bloß subjektiver Erkenntnis: Das Genie, „dessen In-tellekt vom Willen, also von der Person, abgelöst ist“, wird seines Erachtenszu „objektiver Anschauung“ fähig und ist insofern „besonnen“(WWV II,Kap. 31, Hü 436–437): „DieseBesonnenheit ist es,welche den Maler“ wie„den Dichter“ zum kreativen Schaffen befähigt (WWV II, Kap. 31, Hü 437).Die relevanten Differenzierungen entfaltet Schopenhauer dann folgender-maßen: „Das Thier lebt ohne alle Besonnenheit. Bewußtseyn hat es, d. h. eserkennt sich und sein Wohl und Wehe, dazu auch die Gegenstände, welchesolche veranlassen. Aber seine Erkenntniß bleibt stets subjektiv, wird nie ob-jektiv [...]. Zwar nicht von gleicher, aber doch von verwandter Beschaffenheitist das Bewußtseyn des gemeinen Menschenschlages, indem auch seine Wahr-nehmung der Dinge und der Welt überwiegend subjektiv und vorherrschendimmanent bleibt. Es nimmt die Dinge in der Welt wahr, aber nicht die Welt;sein eigenes Thun und Leiden, aber nicht sich. Wie nun, in unendlichen Abstu-fungen, die Deutlichkeit des Bewußtseyns sich steigert, tritt mehr und mehrdie Besonnenheit ein, und dadurch kommt es allmälig dahin, daß bisweilen,wenn auch selten und dann wieder in höchst verschiedenen Graden der Deut-lichkeit, es wie ein Blitz durch den Kopf fährt, mit ‚was ist das Alles?‘ oderauch mit ‚wie ist es eigentlich beschaffen?‘ Die erstere Frage wird, wenn siegroße Deutlichkeit und anhaltende Gegenwart erlangt, den Philosophen, unddie andere, eben so, den Künstler oder Dichter machen. Dieserhalb also hatder hohe Beruf dieser Beiden seine Wurzel in der Besonnenheit, die zunächstaus der Deutlichkeit entspringt, mit welcher sie der Welt und ihrer selbst innewerden und dadurch zur Besinnung darüber kommen. Der ganze Hergang aberentspringt daraus, daß der Intellekt, durch sein Uebergewicht, sich vom Wil-len, dem er ursprünglich dienstbar ist, zu Zeiten losmacht“ (WWV II, Kap. 31,Hü 437). Vgl. ergänzend auch WWV I, § 36, Hü 219; WWV I, § 37, Hü 229;WWV I, § 45, Hü 262; WWV I, § 52, Hü 315. In denParerga und ParalipomenaIIcharakterisiert Schopenhauer Mensch und Tier vergleichend, indem er eine„Hierarchie der Intelligenzen“entwirft (vgl. PP II, Kap. 3, § 50, Hü 77,Anm).378, 1–2im zerfleischenden Kampfe mit andern Thieren]Hier greift N. auf dras-tische Formulierungen Schopenhauers zurück. In derWelt als Wille und Vor-stellungveranschaulicht Schopenhauer den in der Willenssphäre stets präsen-ten Kampf, mit dem er essentielles Leiden verbunden sieht: „So sehn wir inder Natur überall Streit, Kampf und Wechsel des Sieges, und werden ebendarinweiterhin die dem Willen wesentliche Entzweiung mit sich selbst deutlichererkennen“ (WWV I, § 27, Hü 174). Schopenhauer stellt fest, dass „überall diemannigfaltigen Naturkräfte und organischen Formen einander die Materie
190Schopenhauer als Erzieherstreitig machen, an der sie hervortreten wollen, indem Jedes nur besitzt wases dem Andern entrissen hat, und so ein steter Kampf um Leben und Tod un-terhalten wird“ (WWV I, § 56, Hü 364). Infolgedessen spitze sich der Konfliktderartig zu, „daß der Wille an sich selber zehren muß, weil außer ihm nichtsdaist und er ein hungriger Wille ist. Daher die Jagd, die Angst und das Leiden“(WWV I, § 28, Hü 183). Und „das Menschengeschlecht“ erhalte insofern einennegativen Sonderstatus, als es „in sich selbst jenen Kampf, jene Selbstentzwei-ung des Willens zur furchtbarsten Deutlichkeit offenbart, und homo hominilupus wird“ (WWV I, § 27, Hü 175). Den „Widerstreit des Willens mit sichselbst“, der sich in den „sich kreuzenden Willensbestrebungen der Individuen“manifestiert, stellt Schopenhauer so dar: „Ein und der selbe Wille ist es, der inihnen allen lebt und erscheint, dessen Erscheinungen aber sich selbst bekämp-fen und sich selbst zerfleischen“ (WWV I, § 51, Hü 298–299).378, 7–10wenn die gesammte Natur sich zum Menschen hindrängt [...] und [...]in ihm das Dasein sich einen Spiegel vorhält]N. bezieht sich hier auf LehrenSchopenhauers und greift dabei sogar auf dessen anschauliche Spiegel-Meta-phorik zurück. In seinem Hauptwerk schreibt Schopenhauer: „Die einzigeSelbsterkenntniß des Willens im Ganzen aber ist die Vorstellung im Ganzen,die gesammte anschauliche Welt. Sie ist seine Objektität, seine Offenbarung,sein Spiegel“ (WWV I, § 29, Hü 196). Nach Schopenhauers „Ansicht“ ist „diegesammte sichtbare Welt nur die Objektivation, der Spiegel des Willens [...], zuseiner Selbsterkenntniß, ja [...] zur Möglichkeit seiner Erlösung ihn begleitend“(WWV I, § 52, Hü 315). Die unterschiedlichen Manifestationen des Willens cha-rakterisiert Schopenhauer folgendermaßen: „Der Wille, welcher rein an sichbetrachtet, erkenntnißlos und nur ein blinder, unaufhaltsamer Drang ist, wiewir ihn noch in der unorganischen und vegetabilischen Natur und ihren Geset-zen, wie auch im vegetativen Theil unsers eigenen Lebens erscheinen sehn,erhält durch die hinzugetretene, zu seinem Dienst entwickelte Welt der Vorstel-lung die Erkenntniß von seinem Wollen [...]. Wir nannten deshalb die erschei-nende Welt seinen Spiegel, seine Objektität“ (WWV I, § 54, Hü 323). Und Scho-penhauer fährt fort: „Da der Wille das Ding an sich, der innere Gehalt, dasWesentliche der Welt ist; das Leben, die sichtbare Welt, die Erscheinung, abernur der Spiegel des Willens; so wird diese den Willen so unzertrennlich beglei-ten, wie den Körper sein Schatten“ (WWV I, § 54, Hü 324). Vgl. auch WWV I,§ 71, Hü 485.„Die Erkenntniß überhaupt“ entspringt laut Schopenhauer „ursprünglichaus dem Willen selbst“ und ist „zum Dienste des Willens“ bestimmt; allerdingskann „in einzelnen Menschen die Erkenntniß sich dieser Dienstbarkeit ent-ziehn [...] und frei von allen Zwecken des Wollens rein für sich bestehn [...], alsbloßer klarer Spiegel der Welt, woraus die Kunst hervorgeht“ (WWV I, § 27,
Stellenkommentar UB III SE 5, KSA 1, S. 378191Hü 181). Bei „genialen Individuen“ sieht Schopenhauer ein besonderes „Maaßder Erkenntnißkraft“ wirksam, „welches das zum Dienste eines individuellenWillens erforderliche weit übersteigt“ und so „zum willensreinen Subjekt, zumhellen Spiegel des Wesens der Welt wird“ (WWV I, § 36, Hü 219). Analog:WWV I, § 34, Hü 210; WWV II, Kap. 19, Hü 230; WWV II, Kap. 22, Hü 320;WWV II, Kap. 30, Hü 419; WWV II, Kap. 31, Hü 435. Vgl. im Kontext der Vernei-nung des Willens auch WWV I, § 68, Hü 462. – Anthropomorphe Perspektivenauf die Natur finden sich bei Schopenhauer oft, auch in seiner SchriftUeberdie Universitäts-Philosophie: Hier reflektiert er über „die ganz vereinzelten Köp-fe, in welchen die Natur zu einem deutlicheren Bewußtseyn ihrer selbst gekom-men war, als in andern“ (PP I, Hü 168).378, 22dann zerreissen die Wolken]N. wählt diese Metaphorik in einer Analo-gie zur Diktion Schopenhauers, der im Anschluss an die indische Philosophievom ‚Schleier der Maja‘ spricht. Wenn dieser zerreiße, verliere der Mensch sei-ne Illusionen über ‚das wahre Wesen der Welt und des Lebens‘. Aufgrund die-ser Desillusionierung könne er dann essentielle Erkenntnis erlangen: durcheine intuitive Einsicht, die sich fundamental von der dem Satze vom Grundefolgenden, zweckrationalen Erkenntnis unterscheide. Vgl. dazu NK 375, 20 und375, 25–27.378, 22–24wir sehen, wie wir sammt aller Natur uns zum Menschen hindrän-gen, als zu einem Etwas, das hoch über uns steht]Menschsein versteht N. hiernicht als bereits erreichten Status quo, sondern als ein ideales Telos, das esallererst zu erstreben gilt. Nach N.s Auffassung sind die Menschen in ihrenGrundimpulsen noch allzu sehr der Sphäre des Animalischen verhaftet; ledig-lich durch ihr Bewusstsein unterscheiden sie sich von einer rein tierischenExistenz. – Mit dieser teleologisch ausgerichteten Anthropologie setzt N. einen(vermutlich durch die Zweite Pindarische Ode und durch Hölderlins Briefro-manHyperioninspirierten) Gedanken fort, den er bereits im 1. Kapitel vonUB III SE entfaltet: „dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, son-dern unermesslich hoch über dir“ (340, 33 – 341, 1). Vgl. dazu NK 340, 33 –341, 1. InAlso sprach Zarathustrakonzentriert und vertieft N. diesen anthropo-logischen Ansatz durch das Konzept des Übermenschen.378, 25–26da laufen die verfeinerten Raubthiere und wir mitten unter ihnen]Schopenhauer entwirft in seiner Willensmetaphysik auch vom Menschen eingänzlich pessimistisches Bild, an das N. hier anschließt. In seinenParerga undParalipomena IIschreibt Schopenhauer: „Da nistet in Jedem zunächst einkolossaler Egoismus, der die Schranke des Rechts mit größter Leichtigkeitüberspringt; wie Dies das tägliche Leben im Kleinen und die Geschichte, aufjeder Seite, im Großen lehrt. Liegt denn nicht schon in der anerkannten Noth-
192Schopenhauer als Erzieherwendigkeit des so ängstlich bewachten Europäischen Gleichgewichts das Be-kenntniß, daß der Mensch ein Raubthier ist, welches, sobald es einen Schwä-cheren neben sich erspäht hat, unfehlbar über ihn herfällt? und erhalten wirnicht täglich die Bestätigung desselben im Kleinen? – Zum gränzenlosen Egois-mus unserer Natur gesellt sich aber noch ein, mehr oder weniger in jeder Men-schenbrust vorhandener Vorrath von Haß, Zorn, Neid, Geifer und Bosheit“(PP II, Kap. 8, § 114, Hü 27).379, 32–34Wir fürchten uns, wenn wir allein und stille sind [...] und betäubenuns durch Geselligkeit.]N. führt hier die Thematik der Selbstentfremdung desMenschen durch eine „Flucht vor sich selbst“ weiter, die sich in vielfältigenVerhaltensweisen zeige (379, 7–18). – Bereits Schopenhauer kritisiert die Fluchtdes Menschen, der die existentielle Herausforderung durch die Einsamkeitfürchtet, in gesellige Aktivitäten, die ihm willkommene Betäubung bieten. Da-bei ist ein Zusammenhang mit der Problematik der Langeweile zu erkennen,die in der Philosophie Schopenhauers von zentraler Bedeutung ist. Er vertrittdie Auffassung, „daß sobald Noth und Leiden dem Menschen eine Rast vergön-nen, die Langeweile gleich so nahe ist, daß er des Zeitvertreibes nothwendigbedarf“ (WWV I, § 57, Hü 369). Im Zustand der „Langeweile“ werde dem Men-schen „sein Daseyn selbst [...] zur unerträglichen Last“ (WWV I, § 57, Hü 368).Analog: WWV I, § 57, Hü 371. Deshalb avanciert die „Langeweile“, die kein „ge-ring zu achtendes Uebel“ ist, nach Schopenhauers Ansicht zur „Quelle der Ge-selligkeit“: „Sie macht, daß Wesen, welche einander so wenig lieben, wie dieMenschen, doch so sehr einander suchen“ (WWV I, § 57, Hü 369). Vgl. auchNK 373, 32–34 und NK 397, 24 sowie NK 389, 29–30.Die Relation zwischen Einsamkeitsbedürfnis und Geselligkeitstrieb reflek-tiert Schopenhauer wiederholt in denAphorismen zur Lebensweisheit: „Was [...]die Menschen gesellig macht ist ihre Unfähigkeit, die Einsamkeit, und in diesersich selbst, zu ertragen. Innere Leere und Ueberdruß sind es, von denen siesowohl in die Gesellschaft, wie in die Fremde und auf Reisen getrieben werden.Ihrem Geiste mangelt es an Federkraft, sich eigene Bewegung zu ertheilen“(PP I, Hü 450). „Die Leere ihres Innern, das Fade ihres Bewußtseyns, die Ar-muth ihres Geistes treibt sie zur Gesellschaft“ (PP I, Hü 341–342). Aber „je mehrEiner an sich selber hat, desto weniger bedarf er von außen und desto wenigerauch können die Uebrigen ihm seyn. Darum führt die Eminenz des Geistes zurUngeselligkeit“ (PP I, Hü 351). Vgl. auch NK 397, 24.380, 3–4den ganzen traumartigen Zustand unseres Lebens, dem vor dem Erwa-chen zu grauen scheint]Die Vorstellung vom Leben als Traum ist ein alter Toposin der Literatur, der bis in die Antike zurückreicht. Pindar bezeichnet das Le-ben sogar lediglich als den ‚Schatten eines Traumes‘. Calderon verfasste ein
Stellenkommentar UB III SE 5, KSA 1, S. 379–380193Drama mit dem TitelDas Leben ein Traum. – Auch Schopenhauer nimmt dieseVorstellung auf. Er betont „die enge Verwandtschaft zwischen Leben undTraum“ (WWV I, § 5, Hü 20) und stellt sie in seinem Hauptwerk folgenderma-ßen dar: „Die Veden und Puranas wissen für die ganze Erkenntniß der wirkli-chen Welt, welche sie das Gewebe der Maja nennen, keinen bessern Vergleichund brauchen keinen häufiger, als den Traum. Plato sagt öfter, daß die Men-schen nur im Traume leben, der Philosoph allein sich zu wachen bestrebe“(WWV I, § 5, Hü 20). Dann zitiert Schopenhauer sowohl „Pindaros“ als auch„Sophokles“ (ebd.). Anschließend beruft er sich auf „Shakespeare [...]: „We aresuch stuff / As dreams are made of, and our little life / Is rounded with asleep. – Temp. A. 4, Sc. 1.“ (WWV I, § 5, Hü 20). Auch Calderon macht er zumThema: „Endlich war Calderon von dieser Ansicht so tief ergriffen, daß er ineinem gewissermaaßen metaphysischen Drama ‚Das Leben ein Traum‘ sie aus-zusprechen suchte“ (WWV I, § 5, Hü 21). Demnach konvergieren hier Vorstel-lungen der griechischen, indischen und deutschen Philosophie mit Topoi dereuropäischen Literatur seit der Antike.Im Anschluss an die Zitate, mit denen Schopenhauer diese reichhaltigeliterarische und philosophische Tradition exemplarisch zu repräsentieren ver-sucht, bezieht auch er selbst die Vorstellung des Lebens als Traum in seineReflexionen mit ein und formuliert sie zunächst mit einem „Gleichniß“: „DasLeben und die Träume sind Blätter eines und des nämlichen Buches. Das Lesenim Zusammenhang heißt wirkliches Leben. Wann aber die jedesmalige Lese-stunde (der Tag) zu Ende und die Erholungszeit gekommen ist, so blättern wiroft noch müßig und schlagen, ohne Ordnung und Zusammenhang, bald hier,bald dort ein Blatt auf [...]. Obwohl also die einzelnen Träume vom wirklichenLeben dadurch geschieden sind, daß sie in den Zusammenhang der Erfahrung,welcher durch dasselbe stetig geht, nicht mit eingreifen, und das Erwachendiesen Unterschied bezeichnet; so gehört ja doch eben jener Zusammenhangder Erfahrung schon dem wirklichen Leben als seine Form an, und der Traumhat eben so auch einen Zusammenhang in sich dagegen aufzuweisen. Nimmtman nun den Standpunkt der Beurtheilung außerhalb Beider an, so findet sichin ihrem Wesen kein bestimmter Unterschied, und man ist genöthigt, den Dich-tern zuzugeben, daß das Leben ein langer Traum sei“ (WWV I, § 5, Hü 21).380, 6–9Aber wir fühlen zugleich, [...] wie nicht wir die Menschen sind, nachdenen die gesammte Natur sich zu ihrer Erlösung hindrängt]Mit dieser anthro-pomorphen Beschreibung der Natur schließt N. erneut an Schopenhauers Wil-lensphilosophie an. In derWelt als Wille und Vorstellung Ierklärt Schopenhau-er, dass „die gesammte sichtbare Welt nur die Objektivation, der Spiegel desWillens ist, zu seiner Selbsterkenntniß, ja [...] zur Möglichkeit seiner Erlösungihn begleitend“ (WWV I, § 52, Hü 315). Und an späterer Stelle schreibt Schopen-
194Schopenhauer als Erzieherhauer hier: „die übrige Natur hat ihre Erlösung vom Menschen zu erwarten,welcher Priester und Opfer zugleich ist“ (WWV I, § 68, Hü 450). Später aller-dings grenzt sich N. von wesentlichen Prämissen der Schopenhauerschen Wil-lensmetaphysik ab: So betrachtet er in derFröhlichen Wissenschaftden Willenals Spezifikum von „intellectuellen Wesen“, weil die mit dem Willen verbunde-ne Vorstellung „von Lust und Unlust“ von der Aktivität eines „interpreti-rendenIntellects“ abhänge (KSA 3, 483, 21–27).380, 15–17jene wahrhaften Menschen, jene Nicht-mehr-Thiere, diePhilosophen, Künstler und Heiligen]Durch die Hervorhebung dieserdrei exzeptionellen Existenzformen konkretisiert N. seine These über das Zielder menschlichen Existenz, das er in den höchsten Exemplaren erblickt. Philo-sophen, Künstler und Heilige versteht er als ideale Manifestationen des Men-schen, der sich essentiell über die Sphäre des bloß Animalischen erhoben undein höheres Seinsstadium erreicht hat. Dabei orientiert sich N. an Konzepten,die Schopenhauer im Vierten Buch seines Hauptwerks entfaltet: Einerseits dif-ferenziert Schopenhauer zwischen den spezifischen Erkenntnisweisen der Phi-losophen, Künstler und Heiligen, andererseits jedoch betont er zugleich auchfundamentale Gemeinsamkeiten.In derWelt als Wille und Vorstellungäußert sich Schopenhauer folgender-maßen über die „Erkenntniß“: „Ursprünglich also zum Dienste des Willens,zur Vollbringung seiner Zwecke bestimmt, bleibt sie ihm auch fast durchgängiggänzlich dienstbar: so in allen Thieren und in beinahe allen Menschen“, mitAusnahme derjenigen, in denen „die Erkenntniß sich dieser Dienstbarkeit ent-ziehn [...] und frei von allen Zwecken des Wollens rein für sich bestehn kann,als bloßer klarer Spiegel der Welt, woraus die Kunst hervorgeht“ (WWV I, § 27,Hü 181). Anschließend erklärt Schopenhauer, dass „durch diese Art der Er-kenntniß, wenn sie auf den Willen zurückwirkt, die Selbstaufhebung dessel-ben eintreten kann, d. i. die Resignation, welche das letzte Ziel, ja, das innersteWesen aller Tugend und Heiligkeit, und die Erlösung von der Welt ist“ (WWV I,§ 27, Hü 181–182). Im Vierten Buch seines Hauptwerks korreliert Schopenhauerselbst die drei später auch von N. hervorgehobenen singulären Existenzweisendes Menschen: „Die ächte philosophische Betrachtungsweise der Welt, d. h.diejenige, welche uns ihr inneres Wesen erkennen lehrt und so über die Er-scheinung hinaus führt, ist gerade die, welche nicht nach dem Woher undWohin und Warum, sondern immer und überall nur nach dem Was der Weltfrägt, d. h. welche [...] das in allen Relationen erscheinende, selbst aber ihnennicht unterworfene, immer sich gleiche Wesen der Welt, die Ideen derselben,zum Gegenstande hat. Von solcher Erkenntniß geht, wie die Kunst, so auch diePhilosophie aus, ja [...] auch diejenige Stimmung des Gemüthes, welche allein
Stellenkommentar UB III SE 5, KSA 1, S. 380195zur wahren Heiligkeit und zur Erlösung von der Welt führt“ (WWV I, § 53,Hü 323).Spezifische Differenzen stellt Schopenhauer dabei hinsichtlich der Reich-weite und Konstanz solcher Erkenntnis fest: Dem Künstler wird die „reine,wahre und tiefe Erkenntniß des Wesens der Welt [...] Zweck an sich: er bleibtbei ihr stehn“; anders als „bei dem zur Resignation gelangten Heiligen“ wirdsie ihm nicht „Quietiv des Willens, erlöst ihn nicht auf immer, sondern nur aufAugenblicke vom Leben, und ist ihm so noch nicht der Weg aus demselben,sondern nur einstweilen ein Trost in demselben“ (WWV I, § 2, Hü 316). LautSchopenhauer überbrückt „allein die Philosophie“ die „weite Kluft“ zwischen„der intuitiven und der abstrakten Erkenntniß“: „Intuitiv nämlich, oder in con-creto, ist sich eigentlich jeder Mensch aller philosophischen Wahrheiten be-wußt: sie aber in sein abstraktes Wissen, in die Reflexion zu bringen, ist dasGeschäft des Philosophen“ (WWV I, § 68, Hü 452). Für seine eigene Philosophieerhebt Schopenhauer einen Prioritätsanspruch: „Vielleicht ist also hier zumersten Male, abstrakt und rein von allem Mythischen, das innere Wesen derHeiligkeit, Selbstverleugnung, Ertödtung des Eigenwillens, Askesis, ausgespro-chen als Verneinung des Willens zum Leben,eintretend, nachdemihm die vollendete Erkenntniß seines eigenen Wesens zum Quietiv alles Wol-lens geworden“ (WWV I, § 68, Hü 452–453). Vgl. auch NK 382, 4–9.380, 18die Natur, die nie springt]Paraphrase der lateinischen Sentenz „naturanon facit saltus“ (die Natur macht keine Sprünge), die eine kontinuierlicheEntwicklung in der Natur statuiert. Schopenhauer beruft sich in seinen Werkenwiederholt, auch mit wörtlicher Zitation, auf dieses Prinzip, das er in derWeltals Wille und Vorstellung IIund in denParerga und Paralipomena IImit unter-schiedlichen Akzentsetzungen folgendermaßen erläutert: „Natura non facitsaltus: so lautet das Gesetz derKontinuitätaller Veränderungen, vermögedessen, in der Natur, kein Uebergang, sei er im Raum, oder in der Zeit, oderim Grade irgend einer Eigenschaft, ganz abrupt eintritt“ (PP II, Kap. 7, § 106,Hü 204). Es besagt, „daß die Natur nicht bei jedem Erzeugnisse von vorne an-fängt und aus nichts schafft, sondern, gleichsam im selben Stile fortschrei-bend, an das Vorhandene anknüpft, die früheren Gestaltungen benutzt, entwi-ckelt und höher potenzirt, ihr Werk weiter zu führen; wie sie es eben so in derSteigerung der Thierreihe gehalten hat, ganz nach der Regel: natura non facitsaltus, et quod commodissimum in omnibus suis operationibus sequitur (Arist.de incessu animalium, c. 2 et 8)“ (WWV II, Kap. 26, Hü 380).An anderer Stelle spezifiziert Schopenhauer diese „Vorschrift des Aristote-les“ (WWV II, Kap. 44, Hü 647) so: „Inzwischen ist das Gesetz Natura non facitsaltus auch in Hinsicht auf den Intellekt der Thiere nicht ganz aufgehoben;wenn gleich der Schritt vom thierischen zum menschlichen Intellekt wohl der
196Schopenhauer als Erzieherweiteste ist, den die Natur, bei Hervorbringung ihrer Wesen, gethan hat“(WWV II, Kap. 5, Hü 66). Anders differenziert Schopenhauer an späterer Stelle:„In der That ist die Gränze zwischen dem Organischen und dem Unorgani-schen die am schärfsten gezogene in der ganzen Natur und vielleicht die einzi-ge, welche keine Uebergänge zuläßt; so daß das natura non facit saltus hiereine Ausnahme zu erleiden scheint“ (WWV II, Kap. 23, Hü 335).381, 5–6So hoch zu steigen, wie je ein Denker stieg, in die reine Alpen- undEisluft hinein]Diese anschauliche Vorstellung führt die Bergmotivik einer frü-heren Textpassage weiter: „am hohen Gebirge wohnen wir, gefährlich und inDürftigkeit“ (366, 30–31). Durch diesen bildhaften Assoziationsraum betont N.das existentielle Ausgesetztsein des „Denker[s]“, dem die „reine Alpen- undEisluft“ des Hochgebirges besondere Erkenntnisbedingungen bietet, weil eshier „kein Vernebeln und Verschleiern mehr giebt“, so dass „die Grundbeschaf-fenheit der Dinge“ klar hervortreten kann (381, 5–8). – Die GebirgsmetaphorikN.s erscheint hier bereits als Signum eines geistesaristokratischen Sondersta-tus des Denkenden in singulärer Höhe weit oberhalb der Majorität der Men-schen. Zu diesem Vorstellungskomplex im Rahmen von N.s elitärem Individua-lismus und zu seiner Rezeption durch Georg Brandes und Max Scheler sowiedurch Georg Simmel, der mehrfach auch an N.s Gebirgsmetaphorik anknüpft,vgl. NK 383, 32 – 384, 2.Später nutzt N. dieses expressive Metaphernfeld auch fürAlso sprach Zara-thustra. Dort figuriert er das Motiv des einsamen Wanderers im Gebirge durchden Protagonisten selbst: So setzt „Zarathustra’s Vorrede“ mit einer Retrospek-tive ein, derzufolge er als Dreißigjähriger „in das Gebirge“ ging und dort imSelbstgenuss „seines Geistes und seiner Einsamkeit“ sogar „zehn Jahre“ ver-brachte (KSA 4, 11, 3–6), bis er sich zum Abstieg entschloss (KSA 4, 12, 12), umden Menschen fortan seine Lehren zu verkünden. Inwiefern sich Zarathustrasogar existentiell mit der Berglandschaft identifiziert, zeigt die bildhafte Cha-rakterisierung, seine „Seele“ sei „hell wie das Gebirge am Vormittag“ (KSA 4,21, 1–2). Vgl. auch NK 366, 30–31. Symbolisch aufgeladene Vorstellungen voneinsamer Höhe bestimmen ebenfalls das Kapitel „Vom Wege des Schaffenden“(KSA 4, 80–83). Im Schlusskapitel „Das Zeichen“ verschiebt N. dann die Bildse-mantik und inszeniert ringkompositorisch einen suggestiven Vergleich, indemer Zarathustra aus seiner „Höhle“ treten lässt, „glühend und stark, wie eineMorgensonne, die aus dunklen Bergen kommt“ (KSA 4, 405, 4–5; 408, 21–23).Ähnlich evokative Bilder von Gebirgslandschaften und Bergwanderungeninszeniert vor N. bereits Schopenhauer. In seinenParerga und Paralipomena IIvergleicht er den Philosophen mit dem Wanderer, der, „vom hohen Berggipfelaus, das Land überschaut“ (PP II, Kap. 3, § 34, Hü 52). Die Weite dieses Hori-zonts verengt Schopenhauer, wenn er anderenorts die Bildlichkeit in den Be-
Stellenkommentar UB III SE 5, KSA 1, S. 381–382197reich der Botanik verschiebt: mit der Feststellung, „daß es für die Philosophieheilsamer wäre, wenn sie aufhörte, ein Gewerbe zu seyn, und nicht mehr imbürgerlichen Leben, durch Professoren repräsentirt, aufträte. Sie ist eine Pflan-ze, die wie die Alpenrose und die Fluenblume, nur in freier Bergluft gedeiht,hingegen bei künstlicher Pflege ausartet“ (PP I, Hü 167).Im Kapitel „Ueber Philosophie und ihre Methode“ in denParerga und Para-lipomena IIbeschreibt Schopenhauer auch die Rezeptionssituation bei der Lek-türe philosophischer Werke mit einer Allegorie, die von der Bergmetaphorikausgeht: „Der philosophische Schriftsteller ist der Führer und sein Leser derWanderer. Sollen sie zusammen ankommen, so müssen sie, vor allen Dingen,zusammen ausgehn: d. h. der Autor muß seinen Leser aufnehmen auf einemStandpunkt, den sie sicherlich gemein haben: dies aber kann kein andererseyn, als der des uns Allen gemeinsamen, empirischen Bewußtseyns. Hier alsofasse er ihn fest an der Hand und sehe nun, wie hoch über die Wolken hinauser, auf dem Bergespfade, Schritt vor Schritt, mit ihm gelangen könne“ (PP II,Kap. 1, § 5, Hü 6–7). Zu den Strategien bildhafter Inszenierung und zur Rele-vanz experimenteller Metaphern und Gleichnisse bei N. und Schopenhauer vgl.Neymeyr 2014a, 232–254 sowie 2016b, 323–353 und 2018, 300–303.381, 15–16Bilderschrift des Daseins]Analoge Metaphern verwendet bereitsSchopenhauer, wenn er in seinem Hauptwerk betont: Die „objektive Betrach-tung“ der Tiere „ist eine lehrreiche Lektion aus dem großen Buche der Natur,ist die Entzifferung der wahren Signatura rerum“ (WWV I, § 44, Hü 259). In derzugehörigen Fußnote weist Schopenhauer explizit auf das Buchde Signaturarerumvon Jakob Böhme hin und zitiert Thesen Böhmes, die mit seinen eigenenkorrespondieren (ebd.). Und in denParerga und Paralipomena IIerklärt er aufder Basis der Kantischen Transzendentalphilosophie, der Mensch erkenne,dass „sein Intellekt, folglich auch sein Daseyn, die Bedingung aller jener Geset-ze“ der Erfahrung ist: „Dann endlich sieht er auch ein, daß die ihm jetzt klargewordene Idealität des Raumes, der Zeit und der Kausalität Platz läßt für eineganz andere Ordnung der Dinge, als die der Natur ist, welche letztere er jedochals das Resultat, oder die Hieroglyphe, jener andern anzusehn genöthigt ist“(PP II, Kap. 3, § 27, Hü 39). In derWelt als Wille und Vorstellung Ierläutert Scho-penhauer seine Willensmetaphysik folgendermaßen: „Wie eine Zauberlaterneviele und mannigfaltige Bilder zeigt, es aber nur eine und die selbe Flammeist, welche ihnen allen die Sichtbarkeit ertheilt; so ist in allen mannigfaltigenErscheinungen, welche neben einander die Welt füllen [...], doch nur dereineWille dasErscheinende [...]: er allein ist das Ding an sich“ (WWV I, § 28,Hü 182).382, 4–9Es ist dies der Grundgedanke der Kultur[...]: d i eErzeugung desPhilosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und ausser
198Schopenhauer als Erzieheruns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu ar-beiten.]Die genannten Existenzweisen subsumiert N. unter den Sammelbe-griff des „Schopenhauerischen Menschen“ (383, 22–23). Dass N. mit dieser Vor-stellung ein elitäres Konzept verbindet, zeigt seine Aussage, es komme daraufan, „in jenen erhabensten Orden der Philosophen, der Künstler und der Heili-gen aufgenommen“ zu werden (383, 17–18). Wie sehr er dabei auf die Philoso-phie Schopenhauers zurückgreift, zeigen die Belege in NK 380, 15–17. Nach N.sAuffassung besteht die Zielsetzung der Kultur in der „Erzeugung“ solcher exzel-lenten Menschen, die man „vorbereiten und fördern“ müsse (383, 23–24). In derSchlusspartie des 4. Kapitels thematisiert er den „heroische[n] Mensch[en]“ (375,9). Am Anfang des 6. Kapitels von UB III SE formuliert N. das generelle Leitprin-zip: „die Menschheit soll fortwährend daran arbeiten, einzelne grosse Menschenzu erzeugen – und dies und nichts Anderes sonst ist ihre Aufgabe“ (383, 32 –384, 2). Vgl. zu dieser Maxime sowie zu Aspekten ihrer Wirkungsgeschichte(Georg Brandes und Max Scheler) die Darlegungen in NK 383, 32 – 384, 2.Dass bereits in UB III SE (vgl. 382–387) N.s Konzept des Übermenschen prä-figuriert ist, das später inAlso sprach Zarathustrazentrale Bedeutung erhält,lässt sich aus seiner Aussage erschließen, „Kultur[...]istdasKind der Selbst-erkenntniss jedes Einzelnen und des Ungenügens an sich. Jeder, der sich zuihr bekennt, spricht damit aus: ‚ich sehe etwas Höheres und Menschlicheresüber mir, als ich selber bin‘“ (385, 9–13). Die Vorstellung des „grossen erlösen-den Menschen“ (384, 20) grenzt N. vom trivialen „Glück Aller oder der Meis-ten“ ab (384, 22). Damit attackiert er implizit vor allem den englischen Eudai-monismus und Utilitarismus (Bentham, John Stuart Mill), den er auch sonstoft kritisiert. Vgl. NK 383, 32 – 384, 2. Vgl. aber auch die Differenzierungen inNK 384, 21–22.382, 9–12Denn wie die Natur des Philosophen bedarf, so bedarf sie des Künst-lers, zu einem metaphysischen Zwecke, nämlich zu ihrer eignen Aufklärung übersich selbst]Hier schließt N. erneut an Grundthesen Schopenhauers an, nachdenen der Wille im Menschen zu seiner Selbsterkenntnis gelangt. Vgl. dazuNK 380, 15–17. In seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophiebetont Scho-penhauer, dass es nur „die ganz vereinzelten Köpfe“ sind, „in welchen dieNatur zu einem deutlicheren Bewußtseyn ihrer selbst gekommen war, als inandern“ (PP I, Hü 168).382, 15–19Goethe war es, der mit einem übermüthig tiefsinnigen Worte es mer-ken liess, wie der Natur alle ihre Versuche nur soviel gelten, damit endlich derKünstler ihr Stammeln erräth, ihr auf halbem Wege entgegenkommt und aus-spricht, was sie mit ihren Versuchen eigentlich will.]Anders, als N. behauptet,greift er hier auf SchopenhauersWelt als Wille und Vorstellung Izurück. Hier
Stellenkommentar UB III SE 5, KSA 1, S. 382–383199heißt es: „Dadurch allein haben wir in der That eine Anticipation Dessen, wasdie Natur (die ja eben der Wille ist, der unser eigenes Wesen ausmacht) darzu-stellen sich bemüht; welche Anticipation im ächten Genius von dem Grade derBesonnenheit begleitet ist, daß er, indem er im einzelnen Dinge dessenIdeeerkennt, gleichsam dieNatur auf halbem Worte verstehtundnunreinausspricht, was sie nur stammelt, daß er die Schönheit der Form, welche ihrin tausend Versuchen mißlingt, dem harten Marmor aufdrückt, sie der Naturgegenüberstellt, ihr gleichsam zurufend: ‚Das war es, was du sagen wolltest!‘und ‚Ja, Das war es!‘ hallt es aus dem Kenner wider“ (WWV I, § 45, Hü 262.Analog: WWV I, § 36, Hü 220).382, 19–22„Ich habe es oft gesagt [...], die causa finalis der Welt- und Men-schenhändel ist die dramatische Dichtkunst. Denn das Zeug ist sonst absolut zunichts zu brauchen.“]Zitat aus einem Brief Goethes an Charlotte von Stein(3. März 1785). Goethe verwendet den Terminus ‚causa finalis‘ hier (Goethe:FA, Bd. 29, 575) im Sinne Spinozas, der die teleologische Naturbetrachtung al-lerdings als bloße Projektion menschlichen Zweckdenkens ablehnt. – Der Be-griff ‚causa finalis‘ geht auf Aristoteles zurück, nach dessen Terminologie vierUrsachen voneinander zu unterscheiden sind: ‚causa materialis‘ (Stoffursa-che), ‚causa formalis‘ (Formursache), ‚causa efficiens‘ (Wirkursache) und ‚cau-sa finalis‘ (Zweckursache). Die Differenzierung zwischen ‚causa efficiens‘ und‚causa finalis‘ dient dazu, kausal begründete Naturvorgänge von intentionalenmenschlichen Handlungen zu unterscheiden, denen durch die ihnen zugrundeliegende Absichtlichkeit des Handelnden eine teleologische Perspektive eigenist. Die Finalursache gibt demnach einen intendierten Zweck als die Ursacheeines Ereignisses an.382, 23so bedarf die Natur zuletzt des Heiligen]Anspielung auf die Philoso-phie Schopenhauers, insbesondere die Ethik, die er im Vierten Buch derWeltals Wille und Vorstellungentwickelt. Die Überwindung des existentiellen Lei-dens ist laut Schopenhauer nur durch die Suspendierung des principium indi-viduationis möglich, durch eine Überschreitung der Grenzen des eigenen Ich,die er als notwendige Voraussetzung sowohl für das Mitleid als auch für dieasketische Lebensform des Heiligen betrachtet. Die Verneinung des Willenszum Leben ermöglicht seiner Auffassung zufolge dann einen Zustand der Ge-lassenheit und die Erlösung vom willensbedingten Leiden. Vgl. auch NK 380,15–17.383, 7Pessimismus]Der Begriff, den N. zur Charakterisierung der PhilosophieSchopenhauers verwendet, signalisiert ein Ungenügen am Gegenwärtigen, daszu tatkräftigem Engagement für eine bessere Zukunft motivieren soll: aus„Sehnsucht nach Kultur“ (383, 8–9). Schopenhauer selbst schreibt dem „Brah-
200Schopenhauer als Erziehermanismus und Buddhaismus“ als „GrundcharakterIdealismusundPessi-mismus“ zu, „da sie derWelt nur eine traumartige Existenz zugestehn unddas Leben als Folge unserer Schuld betrachten“ (PP II, Kap. 15, § 179, Hü 402).Im handschriftlichen Nachlass Schopenhauers ist explizit von „meinem Pessi-mismus“ die Rede (HN 4/I, 160). – Für die positive Akzentuierung des Pessi-mismus-Begriffs im vorliegenden Kontext (383, 7) spricht auch eine Textvarian-te in der Vorstufe zur Reinschrift. Im Anschluss an die Formulierung „wird unsauch ein neues Ziel unserer Liebe und unseres Hasses gesteckt sein“ (383, 18–19) lautet die Fortsetzung hier: „und der Pessimismus erlebt eine Auferste-hung“ (KSA 14, 78). – In der Vorrede zuMenschliches, Allzumenschliches IIbe-kennt N. im Rückblick auf UB III SE einerseits zwar seine „Ehrfurcht“ vor Scho-penhauer als seinem „einzigen Erzieher“ (KSA 2, 370, 9), andererseits aberauch die schon damals von einer radikalen „moralistischen Skepsis“ geprägteEinstellung, mit der er selbst sich sowohl „derKritik“ alsauch „der Ver-tiefung alles bisherigen Pessimismus“zugewandt habe (KSA 2, 370,13–15). Im „Versuch einer Selbstkritik“, den N. 1886 der Neuausgabe derGeburtder Tragödievoranstellte, formuliert er Überlegungen zu einem ‚Pessimismusder Stärke‘ in Gestalt von Fragen: „Giebt es einen Pessimismus derStärke?Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problemati-sche des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, ausFülledes Daseins? Giebt es vielleicht ein Leiden an der Ueberfülle selbst?“ (KSA 1,12, 12–16).6.383, 32 – 384, 2„die Menschheit soll fortwährend daran arbeiten, einzelnegrosse Menschen zu erzeugen – und dies und nichts Anderes sonst ist ihre Aufga-be.“]N.s geistesaristokratisches Konzept einer teleologischen Anthropologie,das im vorliegenden Kontext durch bestimmte Aspekte der Evolutionslehre be-gründet wird, findet später inAlso sprach Zarathustrain der Vorstellung des‚Übermenschen‘ einen markanten Ausdruck. Vgl. dazu auch NK 382, 4–9. Ana-log äußert sich N. zuvor bereits in UB II HL, wenn er die „Aufgabe der Ge-schichte“ darin erblickt, „immer wieder zur Erzeugung des Grossen Anlass zugeben und Kräfte zu verleihen. Nein, das Ziel der Menschheit kann nicht amEnde liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren“ (KSA 1, 317, 22–26). –In UB III SE argumentiert N. zugunsten dieser biologistischen Perspektive, in-dem er etablierte Vorstellungen seiner Zeitgenossen implizit unter Berufungauf Konzepte der Evolutionstheorie zu entkräften versucht. Charles Darwin er-klärt die biologische Evolution durch die Selektion von Organismen, die an
Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 383201ihre Umwelt besser als andere angepasst sind, so dass sich allmählich einehöhere Komplexität der Lebewesen entwickelt. Laut N. kommt es bei „einerjeden Art des Thier- und Pflanzenreichs [...] allein auf das einzelne höhere Ex-emplar“ an: „auf das ungewöhnlichere, mächtigere, complicirtere, fruchtbare-re“ (384, 4–7). Diese Erkenntnis würde er gern auch „auf die Gesellschaft undihre Zwecke anwenden“ (384, 3), sieht sich daran allerdings durch „anerzogneEinbildungen über den Zweck der Gesellschaft“ gehindert (384, 8). Vgl. auchNK 378, 22–24.Analog zu Vorstellungen N.s sprach sich der dänische Literaturkritiker undPhilosoph Georg Brandes 1888 in seiner ersten Vorlesung über N. für eine Züch-tung unzeitgemäßer ‚Geistesaristokraten‘ aus: Die Zukunftsaufgabe der „her-vorragenden Geister“ erblickte er darin, „eine Kaste hervorragender Geistes-aristokraten zu züchten und zu erziehen, die die Macht in Zentraleuropa unddamit überall ergreifen können. [...] Der große Mann ist nicht das Kind seinerZeit, sondern ihr Stifter. Was wir von dem Erzieher, den wir suchen, lernenmüssen, ist uns selbst gegen die Zeit und den Zeitgeist zu erziehen. [...] Wannherrscht Kulturzustand? Wenn die Menschheit in einer Gesellschaft immer wei-ter daran arbeitet, einzelne große Menschen zu erzeugen. Es gibt keinen höhe-ren Zweck“ (Brandes 1888, nach der Transkription der Vorlesung übersetzt vonBenne 2012, 414). Implizit greift Brandes hier wörtlich auf N.s Formulierung imvorliegenden Kontext von UB III SE zurück. Vgl. die ausführlicheren Darlegun-gen zur Rezeption von N.s Geistesaristokratismus durch Georg Brandes im Ka-pitel II.8 des Überblickskommentars zu UB II HL und im Kapitel III.6 des Über-blickskommentars zu UB III SE (auch zu Georg Simmel und Max Scheler).Georg Simmel orientiert sich in seinem BuchSchopenhauer und Nietzsche.Ein Vortragszyklus(1907, 2. Aufl. 1920) implizit an dem elitären Individualismusund den geistesaristokratischen Zielprojektionen, die N. im „Glauben an dieHumanität“ (KSA 1, 259, 17) sowohl in UB II HL als auch in UB III SE entwirft.Dabei reflektiert Simmel einerseits zustimmend die „kulturpsychologische“ Be-deutung elitärer Vorstellungen (ebd., 220), beleuchtet N.s Ansatz andererseitsjedoch auch kritisch. N. beschreibt „die grossen Momente im Kampfe der Ein-zelnen“ als „Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende“ (KSA 1, 259, 12–14) – mit einer geistesaristokratischen Berg- und Gipfel-Metaphorik, an dieSimmel in seinem Buch mehrfach anknüpft (vgl. Simmel 1907, 2. Aufl. 1920,218, 220, 221, 227–229). Wenn er die „Aufgipfelungenüberandere sich stei-gernden Lebens“ thematisiert (ebd., 229), dann steht zugleich N.s Auffassungim Fokus: „das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nurin ihren höchsten Exemplaren“ (KSA 1, 317, 24–26). Vgl. NK 317, 22–26 sowieNK 378, 22–24 und NK 382, 4–9. Simmel erklärt, „daß die Nietzschesche Verle-gung des Wertakzents der Menschheit auf ihre höchsten Exemplare als Wert-
202Schopenhauer als Erziehertheorie keineswegs etwas Unerhörtes ist“, sondern „der leidenschaftlichsteAusdruck für das Sichemporstrecken der Menschheit, für den Fanatismus derEntwicklungshöhe, der gegen die Bedeutung der Breite, in der die Entwicklungstattfindet, völlig blind macht“ (Simmel 1907, 2. Aufl. 1920, 227). Insofern kannein elitärer Individualismus auch als Stimulans kulturellen Fortschritts er-scheinen. In der Divergenz von mediokrer Masse und Geistesheros bei N. siehtSimmel ein radikales Gegenmodell „zum Sozialismus“ (ebd., 220). Er führt esauf eine „Steigerung des psychologischen Unterschiedsbedürfnisses“ zurück(ebd., 218): Simmel sieht in der „Nietzschesche[n] Pointierung der einzelnenHöhenerscheinungen der Menschheit“ den „Ausdruck der Abstumpfung einesin der Richtung der modernen Individualisierung verwöhnten Empfindens, daszu immer gewalttätigeren Unterschiedsreizen greifen muß“ (ebd., 220). Erselbst erblickt das „wirkliche Ich“ jedoch „nicht in dem Außerordentlichen“,sondern im „Dauernden“ und Gewohnt-Verlässlichen; darin sieht er „die tiefstephilosophische Wendung der demokratischen Tendenz“ (ebd., 221), währendN. das Niveau des „Typus Mensch“ nach der „jeweils höchste[n] Spitze“ be-stimme (ebd., 223) und den „Höhepunkt menschlicher Qualitäten“ dabei als„Selbstzweck“ betrachte (ebd., 223).An N.s programmatische Feststellung, „die Menschheit soll fortwährenddaran arbeiten, einzelne grosse Menschen zu erzeugen“ (383, 32 – 384, 1), weil„das Ziel der Menschheit [...] nur in ihren höchsten Exemplaren“ liegen könne(KSA 1, 317, 24–26), schließt Max Scheler im Zeitraum von ca. 1912 bis 1927 inseinen nachgelassenen Aufzeichnungen an. Dieses anthropologische Telos,das N. bereits in UB II HL und UB III SE als „Aufgabe“ der Menschheit bzw. derGeschichte definiert (KSA 1, 317, 22; 384, 2), setzt sich in Schelers anthropologi-schen Konzepten fort, deren geistesaristokratische Ausrichtung auch der mehr-fach von ihm verwendete Begriff ‚Elite‘ zu erkennen gibt. Belege für diese Grund-tendenz und für ihre Prägung durch N. finden sich im sogenannten „Nietzsche-Heft“ (Signatur der Bayerischen Staatsbibliothek München: Ana 315, B.I.21),einer nachgelassenen, bislang noch nicht vollständig publizierten Kladde, sowiein weiteren nachgelassenen Aufzeichnungen, die Scheler in seinen letztenanderthalb Lebensjahrzehnten anlegte. [Vgl. die detaillierteren Angaben dazuund auch zur Zitation im Scheler-Abschnitt des Kapitels II.8 im Überblicks-kommentar zu UB II HL: vgl. NK 1/2, 335–336.] Schon im Nachlass-Dokument„B.III.35: Ordnungsmappe zur Biologie und Psychologie, 1 (undatiert, ca. 1912)“findet sich die implizit an N. anschließende Aussage Schelers, dass „der Wertder Menschheit in ihren ‚höchsten Exemplaren‘ beruhe“ (B.III.35). Im Nachlass-Dokument „B.I.22: Evolution, Einheit des Lebens, 32–33 (1927)“ entfaltet Schelerdiese Vorstellung so, dass der individualistische Geistesaristokratismus dabeimit Gattungsinteressen vermittelt wird: „Die Menschheit kann nicht direkt;
Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 383–384203sie kann nur über denUmwegihrer ‚höchsten Exemplare‘ gefördert werden. /Und das ist das unbew[ußte] Streben der in Parteien ungeteilten Völker undKulturkreise selbst – ihre Genien, Heilige, Helden zusuchen“ (B.I.22). Das letzt-lich gattungsbezogene Telos eines nur zunächst individualistisch ausgerichte-ten Geistesaristokratismus wird evident, wenn Scheler für die Förderung von„höchsten Exemplaren“ nicht im Sinne eines individualistischen „Selbst-zweck[s]“ argumentiert, sondern im Sinne dessen, was „‚fürdie Menschheitdas schlechthin ‚beste‘ ist“ (B.I.22). Damit folgt Scheler N.s These in UB II HL:Das „Ziel der Menschheit kann [...] nur in ihren höchsten Exemplaren“ liegen(KSA 1, 317, 24–26).384, 2–7Wie gerne möchte man eine Belehrung auf die Gesellschaft und ihreZwecke anwenden, welche man aus der Betrachtung einer jeden Art des Thier-und Pflanzenreichs gewinnen kann, dass es bei ihr allein auf das einzelne höhereExemplar ankommt, auf das ungewöhnlichere, mächtigere, complicirtere, frucht-barere]Hier argumentiert N. biologistisch, indem er Prinzipien der Entwick-lungsgeschichte von Fauna und Flora auf die spezifischen Rahmenbedingun-gen der menschlichen Gesellschaft zu übertragen versucht. N. sieht „das Ziel“jeder Art darin, sich dem „Übergang in eine höhere Art“ anzunähern, statt bloßdas „Wohlbefinden“ der „Masse der Exemplare“ zu sichern (384, 10–12). Aufdiese Weise schafft er sich eine Basis, um erneut gegen Zielsetzungen des Utili-tarismus zu polemisieren. Dabei hält N. den auf das Wohl der Allgemeinheitausgerichteten Prinzipien des Utilitarismus seine eigenen elitären Vorstellun-gen von Individuum und Kultur entgegen. Zu dieser Relation vgl. NK 384, 21–22. Durch einen biologistischen Perfektibilitätsgedanken vermittelt N. sein Kul-turideal zugleich mit der Situation des Individuums. Auf diese Weise antizi-piert er hier bereits wesentliche Aspekte des später inAlso sprach Zarathustraentfalteten Übermensch-Konzepts, dessen aristokratischer Individualismuseine antidemokratische Tendenz impliziert (vgl. 384, 31 – 385, 2). Die Vorstel-lung der Kompliziertheit, die N. mit Bezug auf das „complicirtere“ Exemplar(384, 7) positiv meint, und zwar im Sinne höherer Entwicklung und Ausdiffe-renzierung, erscheint in einer früheren Textpassage von UB III SE allerdingsmit negativer Bedeutung (vgl. 346, 15).384, 10–11Übergang in eine höhere Art]Bereits Schopenhauer bezieht in sei-ner SchriftUeber die Universitäts-Philosophieeine kritische Position gegenüberdenen, die eine „totale und absolute Verschiedenheit des Menschen von denThieren“ propagieren und dabei die „allmäligen Abstufungen des Intellekts inder Thierreihe“ ignorieren (PP I, Hü 190). Auch N. geht hier von graduellenDifferenzen in der Natur aus. Einerseits trägt er dadurch der EvolutionslehreDarwins Rechnung, die später auch in seine Vorstellung vom Übermenschen
204Schopenhauer als ErzieherinAlso sprach Zarathustrahineinwirkt, andererseits folgt er Konzepten Scho-penhauers, die sich als systematische Konsequenz aus dessen Willensmonis-mus ergeben.384, 21–22jener letzte Zweck in dem Glück Aller oder der Meisten]Das größt-mögliche Glück der größtmöglichen Zahl zu sichern, ist eine utilitaristischeMaxime. Vom Standpunkt seines Geistesaristokratismus ausgehend, wendetsich N. auch sonst gegen den Utilitarismus, der die Idee des Gemeinwohls insZentrum stellt und infolgedessen auch demokratische Prinzipien propagiert.Insbesondere englische Theoretiker vertraten utilitaristische Konzepte. Als de-ren Exponent galt John Stuart Mill, dessenGesammelte Werke(dt. 1869–1880)N. in seiner persönlichen Bibliothek hatte (NPB 383–390) und intensiv studier-te, wie zahlreiche Lesespuren erkennen lassen. Seine eigenen geistesaristokra-tischen Prinzipien (vgl. dazu NK 382, 4–9) hielt N. nicht für kompatibel mitdem Utilitarismus. Von seinen individualistischen und antidemokratischenPrämissen aus kritisiert er am Utilitarismus den Primat des Nützlichkeitsprin-zips, vor allem eine einseitige Ausrichtung auf den gesellschaftlichen ‚Nut-zen‘. – John Stuart Mill hatte 1861 in seiner SchriftUtilitarianismdas Prinzipdes ‚Nutzens‘ programmatisch zum Fundament einer Ethik erhoben, die dasStreben nach dem größtmöglichen individuellen Glück und gesellschaftlichenNutzen zum zentralen Handlungszweck erklärt. Allerdings insistiert auch Millin seinen Werken auf dem Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit, be-tont die Bedeutung geistiger Eliten und grenzt sich entschieden von einer ‚Ty-rannei der Mehrheit‘ ab. Sofern liberale Prinzipien in ausgewogener Weise miteinem hedonistischen Utilitarismus verbunden werden, muss daraus keingrundsätzlicher Widerspruch zum individualistischen Persönlichkeitsideal N.sresultieren.Auch in späteren Werken grenzt sich N. von Mills Konzepten ab. So nimmter in derMorgenrötheauf „John Stuart Mill“ und seine Lehre „vom Mitleidenoder vom Nutzen Anderer als dem Princip des Handelns“ Bezug (KSA 3, 123,29–31). Zugleich distanziert er sich von der Auffassung, das Individuum sollesein Glück in der Unterordnung unter die Interessen der Allgemeinheit findenund sein Denken und Handeln dabei ganz vom Kriterium des gesellschaftli-chen Nutzens bestimmen lassen: als bloßes „Werkzeug des Ganzen“ (KSA 3,124, 12). Denn derartige Konzepte, die laut N. seit „der Zeit der französischenRevolution“ populär geworden sind und das gedankliche Fundament „alle[r]socialistischen Systeme“ bilden (vgl. KSA 3, 124, 1–5), zielen seiner Ansichtnach letztlich auf „eine gründliche Umbildung, ja Schwächung und Aufhe-bung desIndividuums“(KSA 3, 124, 24–25). InJenseits von Gut und Bösekontrastiert N. „die europäische noblesse“ französischer Provenienz mit derdurch das Utilitätsdenken verursachten „europäische[n] Gemeinheit“, die er
Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 384–386205als „Plebejismus der modernen Ideen –Englands“charakterisiert (KSA 5,197, 31 – 198, 2). Gegen wen sich diese allgemein gehaltene Polemik eigentlichrichtet, wird evident, wenn N. den „Geist achtbarer, aber mittelmässiger Eng-länder“ durch „Darwin, John Stuart Mill und Herbert Spencer“ exemplifiziert(KSA 3, 196, 27–29).384, 24sein Leben etwa einem Staate zu opfern]Schopenhauer kritisiert inseiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophiedie Hegelsche Staatsphiloso-phie: „Diese Staatszwecke der Universitätsphilosophie waren es aber, welcheder Hegeleieine so beispiellose Ministergunst verschafften. Denn ihr warder Staat‚der absolut vollendete ethische Organismus‘, und sie ließ den gan-zen Zweck des menschlichen Daseyns imStaataufgehn. Konnte es eine bes-sere Zurichtung für künftige Referendarien und demnächst Staatsbeamte ge-ben, als diese, in Folge welcher ihr ganzes Wesen und Seyn, mit Leib undSeele, völlig demStaatverfiel, wie das der Biene dem Bienenstock, und sieauf nichts Anderes, weder in dieser, noch in einer andern Welt hinzuarbeitenhatten, als daß sie taugliche Räder würden, mitzuwirken, um die große Staats-maschine, diesen ultimus finis bonorum, im Gange zu erhalten?“ (PP I, Hü 157).386, 19Kampf für die Kultur]Die Vorstellung des Kampfes, insbesondere desKulturkampfes, zieht sich leitmotivisch durch N.s Frühwerk. Bereits in derGe-burt der Tragödieund dann auch in UB IV WB ist diese Idee prägnant ausge-formt. Vgl. dazu die Belege in NK 1/1, 57–58.386, 21–22die Erzeugung des Genius]In mehreren Passagen von UB III SE plä-diert N. für die „Erzeugung des Genius“, die er als „das Ziel aller Cultur“ be-trachtet (358, 12–13). Vgl. auch 387, 3–14. Dabei orientiert sich N. am Begriff desGenies und der Genialität in SchopenhauersWelt als Wille und Vorstellung. Aufdie antike Provenienz des Begriffs ‚Genius‘ weist Schopenhauer hier selbst aus-drücklich hin: Dessen Etymologie erklärt er damit, dass man „von jeher dasWirken des Genius als eine Inspiration, ja wie der Name selbst bezeichnet,als das Wirken eines vom Individuo selbst verschiedenen übermenschlichenWesens“ angesehen habe, „das nur periodisch jenes in Besitz nimmt“ (WWV I,§ 36, Hü 222). Ein solcher Transzendenz-Aspekt, der schon durch die Herkunftdes Begriffs ‚Genius‘ bedingt ist, fördert religiöse Konnotationen. Sie tretenauch in UB I DS hervor, wenn N. über „das Genie“ schreibt, es stehe „mit Rechtim Rufe, Wunder zu thun“ (KSA 1, 199, 20–22). Eine Tendenz zur religiösenÜberformung des Genie-Topos zeichnet sich mitunter auch in N.s nachgelasse-nen Notaten und in seinen Briefen ab. In einem Nachlass-Notat von 1875 ver-bindet N. Dimensionen des Ästhetischen, Pädagogischen und Religiösen in ei-nem Gestus der Selbsttranszendierung, der geistesaristokratisch motiviert ist,da er auf „die Erzeugung des Genius“ zielt: „Meine Religion, wenn ich irgend-
206Schopenhauer als Erzieheretwas noch so nennen darf, liegt in der Arbeit für die Erzeugung des Genius;Erziehung ist alles zu Hoffende, alles Tröstende heisst Kunst.Erziehung istLiebe zum Erzeugten, einÜberschuss von Liebe über die Selbstliebehinaus. Religion ist ‚Lieben über uns hinaus‘. Das Kunstwerk istdas Abbild einer solchen Liebe über sich hinaus und einvol[l]kommnes“ (NL1875, 5 [22], KSA 8, 46). Vor dem Hintergrund kul-turgeschichtlicher Säkularisierungsprozesse ist ein nachgelassenes Notat ausdemselben Jahr aufschlussreich, in dem N. „die Kunst“ als „eine höhere Stufe derReligion“ bezeichnet, die „am Aussterben der Religionen“ erscheine (NL 1875, 11[20],KSA 8, 206). Zu Aspekteneiner Kunstreligion vgl. NK 434,10–12 undNK 463,31 – 464, 1. Vgl. auch NK 281, 28–30.Im Unterschied zu N. verwendet Schopenhauer den Geniebegriff meistensnicht ausdrücklich in einem weiten kulturellen Kontext, sondern beschreibtneben der Philosophie vor allem „dieKunst“als„das Werk des Genius“, undzwar als „bildende Kunst, Poesie oder Musik“: Das geniale Kunstwerk „wieder-holt die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen, das Wesentlicheund Bleibende aller Erscheinungen der Welt“ (WWV I, § 36, Hü 217). Da „die(Platonischen)Ideen [...] nur anschaulichaufgefaßt werden; so muß dasWesen des Genies in der Vollkommenheit und Energie deranschauendenErkenntniß liegen“ (WWV II, Kap. 31, Hü 430). Eine solche Einstellung gelingtlaut Schopenhauer nur „dem ächten Genius“ oder dem vorübergehend „bis zurGenialität Begeisterten“ (WWV I, § 49, Hü 277). Zu quantitativen und qualitati-ven Differenzierungen Schopenhauers im Zusammenhang mit der „geniale[n]Besonnenheit“ (WWV II, Kap. 31, Hü 442) vgl. ausführlich NK 377, 30–32.Im Kapitel 31 „Vom Genie“ formuliert Schopenhauer in derWelt als Willeund Vorstellung IIdie folgende Definition: „Die überwiegende Fähigkeit zu der[...] Erkenntnißweise, aus welcher alle ächten Werke der Künste, der Poesieund selbst der Philosophie entspringen, ist es eigentlich, die man mit demNamen des Genies bezeichnet“ (WWV II, Kap. 31, Hü 429–430). Laut Schopen-hauer besteht das Genie „in einem abnormen Uebermaaß des Intellekts, wel-ches seine Benutzung nur dadurch finden kann, daß es auf das Allgemeinedes Daseyns verwendet wird; wodurch es alsdann dem Dienste des ganzenMenschengeschlechts obliegt“ (WWV II, Kap. 31, Hü 431). Zu den Ambivalen-zen in den Genie-Konzeptionen von Schopenhauer und N. vgl. Neymeyr 1996a,265–286 (zur systematischen Problematik von Schopenhauers Konzept einergenialen ‚Abnormität‘ vgl. ebd., 67–85). – In denParerga und Paralipomena IIbetont Schopenhauer: „DasGenie[...]strahlt eigenes Licht aus, während dieandern nur das empfangene reflektiren“ (PP II, Kap. 3, § 56, Hü 81). Und wenigspäter heißt es hier über das Genie: „Sein Werk, als ein heiliges Depositumund die wahre Frucht seines Daseyns, zum Eigenthum der Menschheit zu ma-
Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 386207chen, es niederlegend für eine besser urtheilende Nachwelt, Dies wird ihmdann zum Zweck, der allen andern Zwecken vorgeht und für den er die Dornen-krone trägt, welche einst zum Lorbeerkranze ausschlagen soll“ (PP II, Kap. 3,§ 60, Hü 92). Die Metaphorik der „zum Lorbeerkranze“ ausschlagenden „Dor-nenkrone“ übernimmt N. aus SchopenhauersParerga und Paralipomena IIfürUB IV WB, wo er dieses Bild dann konkret auf Richard Wagner bezieht (vgl.KSA 1, 498, 23–24).Für den frühen N. verbindet sich mit der von Schopenhauer übernomme-nen Vorstellung des ‚Genius‘ immer auch der konkrete Gedanke an Wagner,der selbst ein dezidierter Schopenhauer-Anhänger war. Schon in seinem erstenBrief an Wagner vom 22. Mai 1869 apostrophiert N. den ‚verehrten Meister‘nicht weniger als dreimal als „Genius“ (wenn auch indirekt). Zugleich weist N.hier auf Wagners „großen Geistesbruder Arthur Schopenhauer“ hin, „an denich mit gleicher Verehrung, ja religione quadam denke“ (KSB 3, Nr. 4, S. 8).Nach N.s Ansicht ist „es das Loos des Genius [...], eine Zeitlang nur paucorumhominum zu sein“ (ebd.). Dem Freund Gersdorff versichert N. am 28. Septem-ber 1869: „Ich habe Dir schon geschrieben, von welchem Werthe mir dieserGenius ist: als die leibhafte Illustration, dessen, was Schopenhauer ein ‚Genie‘nennt“ (KSB 3, Nr. 32, S. 61). Und in einem Brief an Cosima von Bülow schreibtN. nach einem zweitägigen Aufenthalt in Tribschen bei Wagner am 19. Juni1870: „Dies Dasein der Götter im Hause des Genius erweckt jene religiöse Stim-mung, von der ich berichtete – “ (KSB 3, Nr. 81, S. 125). Schon am 9. Dezember1868 rühmt N. Wagner im Brief an Erwin Rohde als paradigmatisches Genie imSinne Schopenhauers: „Wagner, wie ich ihn jetzt kenne, aus seiner Musik, sei-nen Dichtungen seiner Aesthetik, zum nicht geringsten Theile aus jenem glück-lichen Zusammensein mit ihm, ist die leibhaftigste Illustration dessen, wasSchopenhauer ein Genie nennt: ja die Ähnlichkeit all der einzelnen Züge ist indie Augen springend“; dabei betont N. zunächst „den kühnen, ja schwindeln-den Gang“ von Wagners „Aesthetik“, um dann vom mitreißenden „Gefühls-schwunge seiner Musik“ zu sprechen, „von diesem Schopenhauerischen Ton-meere, dessen geheimsten Wellenschlag ich mit empfinde, so daß meinAnhören Wagnerischer Musik eine jubelnde Intuition, ja ein staunendes Sich-selbstfinden ist“ (KSB 2, Nr. 604, S. 352–353). Und am 25. August 1869 apostro-phiert N. den Komponisten in einem Brief an Paul Deussen emphatisch als„dengrößten Geniusundgrößten Menschendieser Zeit, durchaus in-commensurabel!“ (KSB 3, Nr. 24, S. 46), so dass ihm die „Annäherung“ anWagner „als die größte Errungenschaft meines Lebens“ erscheint, „nächstdem, was ich Schopenhauer verdanke“ (ebd.).Im umfangreichen 6. Kapitel von UB III SE führt N. das Programm einer„Erzeugung des Genius“ bis zur ringkompositorisch konzipierten Schlusspartie
208Schopenhauer als Erzieherdurch, in der von der „Geburt des Genius“ die Rede ist (403, 4). Hier fasst ernochmals prägnant die Hindernisse für die „Geburt“ des Genius zusammen,die er im Verlauf dieses Kapitels zuvor ausführlich zum Thema gemacht hat:„von der kurzsichtigen Selbstsucht des Staates, dem Flachsinne der Erwerben-den“ bis zu der „trocknen Genügsamkeit der Gelehrten“ (403, 31–33). Aller-dings beschränkt sich N. auf eine bloße Aufzählung äußerer Hindernisse, ohnedadurch auch schon plausibel zu machen, auf welche Weise allein deren Über-windung bereits die „Erzeugung“ und „Geburt“ des Genius ermöglichen könn-te. Vor der ausführlichen Darstellung der äußeren Hindernisse erwähnt N. zwarauch eine „Summe von inneren Zuständen“, welche seines Erachtens „die ersteWeihe der Kultur“ ergeben (386, 5–6), aber diese erblickt er lediglich darin,„nach einem irgendwo noch verborgnen höheren Selbst mit allen Kräften zusuchen“ (385, 23–24). Die „erste Weihe der Kultur“empfängt laut N. „nurder, welcher sein Herz an irgend einen grossen Menschen gehängt hat“ (385,24–26). Damit spielt N. auch auf das Verhältnis zu seinen eigenen Vorbildfigu-ren an: auf seine Schopenhauer-Verehrung ebenso wie auf seinen Wagner-Kult.Eine „Erzeugung“ oder „Geburt“ des Genius lässt sich allerdings aus Konstella-tionen dieser Art allein schwerlich ableiten.Der ganze Diskurs der Genie-Ästhetik, der auch N. maßgeblich beeinfluss-te, ist vor dem ideengeschichtlichen Horizont der Sturm-und-Drang-Epoche zubetrachten, in der von Philosophen und Schriftstellern immer wieder die natur-hafte Veranlagung des Genies hervorgehoben wurde. Diese Auffassung be-stimmt auch die Genie-Definition in KantsKritik der Urtheilskraft(§ 46): „Genieist die angeborne Gemüthsanlage (ingenium), durch welche die Natur derKunst die Regel giebt“ (AA 5, 307). Schopenhauer stellt sich ebenfalls in dieseTradition, indem er auf dem Primat der „angeborenen Talente“ insistiert (PP I,Hü 209) und erklärt, die Natur, nicht das Ministerium berufe zur Philosophie(vgl. PP I, Hü 193).386, 31–32unbewussten Zweckmässigkeit der Natur]Das Theorem von derZweckmäßigkeit und vom (letzten) „Zweck“ der Natur benutzt N. schon aufden vorangehenden Seiten dieses 6. Kapitels (leitmotivisch: 384, 2–23), um da-raus per analogiam einen „Zweck der Gesellschaft“ (384, 8) abzuleiten undschließlich sogar einen Zweck und ein „Ziel“ der „Kultur“ in seinem Sinne zubehaupten (385, 9 – 387, 19). In der philosophiegeschichtlichen Tradition wer-den Vorstellungen von Zweck oder Zweckmäßigkeit von mehreren kanoni-schen Philosophen reflektiert, etwa von Aristoteles, Spinoza und Kant. Die Ideeder Zweckmäßigkeit setzt Einheit, Regelmäßigkeit und Ordnung in den Wech-selbeziehungen der Dinge voraus, impliziert Nutzbarkeit und kann auch aufeinen einheitlichen metaphysischen Grund zielen, der sich mit teleologischen
Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 386–387209Harmonie-Konzepten verbindet. Vgl. auch die Reflexionen zu Vorstellungenvon Zweckmäßigkeit in KantsKritik der Urteilskraft.Während N. im vorliegenden Kontext im Rahmen seiner kulturkritischenÜberlegungen auf Vorstellungen von Zweck oder Zweckmäßigkeit zurückgreift,rechnet er später in derGötzen-Dämmerungradikal mit dem Zweck-Denken ab,und zwar im Anschluss an die Teleologie-Kritik Spinozas, der ihm durch KunoFischersGeschichte der neuern Philosophiegenauer bekannt geworden war:vgl. Bd. 1:Descartes und seine Schule. Zweiter Theil: Descartes’ Schule. Geulinx.Malebranche. Baruch Spinoza(2. Aufl. 1865). Die philosophiehistorischen Schrif-ten von Kuno Fischer beeinflussten N.s Einschätzung der neuzeitlichen Philoso-phie nachhaltig, vor allem im Hinblick auf Descartes, Spinoza und Kant: vgl. inFischersGeschichte der neuern Philosophieauch Bd. 4:Kant’s System der reinenVernunft auf Grund der Vernunftkritik(2. Aufl. 1869).In derGötzen-Dämmerungfindet sich eine Schlüsselstelle zur Thematik desZwecks, und zwar im Kapitel „Die vier grossen Irrthümer“. Dort versucht N.Zweck-Vorstellungen als Projektionen zu desavouieren: „Wir haben den Begriff‚Zweck‘ erfunden: in der RealitätfehltderZweck ... Man ist nothwendig, manist ein Stück Verhängniss, man gehört zum Ganzen, man ist im Ganzen, – esgiebt Nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurtheilen könnte,denn das hiesse das Ganze richten, messen, vergleichen, verurtheilen ...Aberes giebt Nichts ausser dem Ganzen! –Dass Niemand mehr verant-wortlich gemacht wird, dass die Art des Seins nicht auf eine causa prima zu-rückgeführt werden darf, dass die Welt weder als Sensorium, noch als ‚Geist‘eine Einheit ist,dies erst ist die grosse Befreiung,–damit erst ist dieUnschuld desWerdens wieder hergestellt ... Der Begriff ‚Gott‘ war bisherder grössteEinwandgegen das Dasein ... Wir leugnen Gott, wir leugnen dieVerantwortlichkeit in Gott:damiterst erlösen wir die Welt. – “ (KSA 6, 96,26 – 97, 8).386, 33 – 387, 1„[...] die Menschen [...] sind doch in ihrem dunklen Drange desrechten Wegs sich wohl bewusst.“]Zitat aus dem „Prolog im Himmel“ in Goe-thesFaust I: „Ein guter Mensch in seinem dunkeln Drange / Ist sich des rechtenWeges wohl bewußt“ (V. 328–329).387, 7–9der wird es sehr nöthig befinden, dass an Stelle jenes „dunklen Drangs“endlich einmal ein bewusstes Wollen gesetzt werde]N. betrachtet ein tatkräftigesEngagement für die Kultur, das sich auf rationale Entscheidungen gründet, alsnotwendig – zumal angesichts des Risikos, dass man „jenen über sein Zielunklaren Trieb, den gerühmten dunklen Drang“, zu Zielen missbraucht, dieder „Erzeugung des Genius“ im Wege stehen (387, 11–14). – Einerseits zitiert N.im vorliegenden Kontext aus GoethesFaust I(vgl. NK 386, 33 – 387, 1), anderer-
210Schopenhauer als Erzieherseits spielt er auf die Willensphilosophie Schopenhauers an, der selbst bereitsdie Helligkeitsmetaphorik verwendet, um die Korrelation von Willen und Vor-stellung zu charakterisieren: Dem Willen als ‚finsterer‘ Triebkraft stellt Scho-penhauer das ‚Licht‘ der Erkenntnis gegenüber. Schopenhauer versteht unterdem ‚Willen‘ keineswegs primär die voluntative Dimension des menschlichenBewusstseins, sondern eine Triebdimension, die alles Seiende durchwirkt. Siemanifestiert sich auf den niedrigeren Stufen als dunkler Drang, entwickelt imTierreich immerhin schon das Potential einer „anschaulichen Erkenntniß“, dieaber nur beim Menschen auch von der Fähigkeit zur „Reflexion“ durch „dieVernunft als das Vermögen abstrakter Begriffe“ begleitet wird (WWV I, § 27,Hü 180).In seinem Hauptwerk schreibt Schopenhauer: „Der Wille, welcher rein ansich betrachtet, erkenntnißlos und nur ein blinder, unaufhaltsamer Drang ist,wie wir ihn noch in der unorganischen und vegetabilischen Natur und ihrenGesetzen, wie auch im vegetativen Theil unsers eigenen Lebens erscheinensehn, erhält durch die hinzugetretene, zu seinem Dienste entwickelte Welt derVorstellung die Erkenntniß von seinem Wollen und von dem was es sei, das erwill, daß es nämlich nichts Anderes sei, als diese Welt, das Leben, gerade sowie es dasteht“ (WWV I, § 54, Hü 323). Analog heißt es in einer früheren Werk-partie: „Von Stufe zu Stufe sich deutlicher objektivirend“, wirkt „im Pflanzen-reich [...] der Wille doch noch völlig erkenntnißlos, als finstere treibende Kraft,und so endlich auch noch im vegetativen Theil der thierischen Erscheinung“(WWV I, § 27, Hü 178). Allerdings gilt bereits für die animalische Sphäre: „DieWelt zeigt jetzt die zweite Seite. Bisher bloßWille, ist sie nunzugleich Vor-stellung,Objekt des erkennenden Subjekts. Der Wille, der bis hieher im Dun-keln, höchst sicher und unfehlbar, seinen Trieb verfolgte, hat sich auf dieserStufe ein Licht angezündet, als ein Mittel, welches nothwendig wurde [...]“(WWV I, § 27, Hü 179).387, 32courante Menschen]Kurant (auch: courant) bedeutet: gebräuchlich,gängig, umlaufend (wie eine Münze). Mithin schreibt N. den Menschen hier inmetaphorischer Diktion und pejorativem Sinne eine pragmatische Nutzbarkeitzu, die derjenigen des Währungsumlaufs entspricht, und übt zugleich Kritikan den Folgen des zeitgenössischen Kapitalismus. Der von N. dargestellte Ty-pus des „courante[n] Menschen“ wird von Jean Améry unter Rückgriff auf mo-derne sozialphilosophische Termini von Karl Marx und Herbert Marcuse als‚entfremdeter Mensch‘ und als ‚eindimensionaler Mensch‘ charakterisiert (JeanAméry [1975] 2004, 402). N.s Kulturkritik und seine Vorbehalte gegenüber demKapitalismus korreliert Améry, indem er erklärt: „Nietzsches Kulturauffassung,die eine zugleich ästhetische und moralisch-amoralische ist, muß als die Anti-these der ihm zeitgenössischen Kultur oder Zivilisation verstanden werden, als
Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 387–388211eine Empörung gegen das Menschenbild, das ihm der Kapitalismus seiner Tagepräsentierte“ (ebd., 403), sowie gegen den „Konformismus“ der heraufkom-menden „Massengesellschaft“ und das Problem „der Manipulierbarkeit“ (ebd.,405). Durch N.s „radikale, anarchisierendeWeigerung“ (ebd., 407) verstehtAméry ihn in UB III SE bereits als „Vorläufer“ einer „modernen anarchistischenAnthropologie“, wie sie Michel Foucault und Gilles Deleuze vertreten (ebd.,404).388, 2Absicht der modernen Bildungsanstalten]Vgl. dazu N.s SchriftUeber dieZukunft unserer Bildungsanstalten. Sechs öffentliche Vorträge(KSA 1, 641–763).388, 9–11zuletzt wird behauptet, dass ein natürlicher und nothwendiger Bundvon „Intelligenz und Besitz“, von „Reichthum und Kultur“ bestehe]Hier wendetsich N. gegen die Verbindung von ‚Besitz‘ und ‚Bildung‘ im bürgerlichenSelbstverständnis. Er selbst plädiert demgegenüber für ein von ökonomischerFunktionalisierung unabhängiges Bildungsstreben. – Gedankengänge, in de-nen diese Korrelation zum Thema wird, finden sich bereits bei Schopenhauer.In seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophiereflektiert er kritisch überderartige Allianzen von ‚Besitz‘ und ‚Bildung‘. Während N. die Instrumentali-sierung der Kultur durch materiellen Pragmatismus generell als problematischansieht, konzentriert sich Schopenhauer auf die Philosophie speziell: UnterBerufung auf mehrere antike Denker erklärt er, dass dann, wenn mit der „Phi-losophie [...] Erwerb [...] getrieben wird, alsbald die Absicht das Uebergewichtüber die Einsicht erhält und aus angeblichen Philosophen bloße Parasiten derPhilosophie werden: solche aber werden dem Wirken der ächten Philosophenhemmend und feindlich entgegentreten, ja, sich gegen sie verschwören, umnur was ihre Sache fördert zur Geltung zu bringen. Denn sobald es Erwerb gilt,kann es leicht dahin kommen, daß, wo der Vortheil es heischt, allerlei niedrigeMittel, Einverständnisse, Koalitionen u.s. w. angewandt werden, um, zu mate-riellen Zwecken, dem Falschen und Schlechten Eingang und Geltung zu ver-schaffen; wobei es nothwendig wird, das entgegenstehende Wahre, Aechteund Werthvolle zu unterdrücken“ (PP I, Hü 165–166). Und weil die Philosophie„die Denkungsart des Zeitalters“ begründe, werde durch ihre materielle Instru-mentalisierung „der Geist der Zeit vergiftet, das Verderben ergreift alle Zweigeder Litteratur, aller höhere Geistesaufschwung stockt“ (PP I, Hü 166). Dezidierterklärt Schopenhauer: „Die höchsten Bestrebungen des menschlichen Geistesvertragen sich nun ein Mal nicht mit dem Erwerb: ihre edele Natur kann sichdamit nicht amalgamiren“ (PP I, Hü 167).388, 14–16man pflegt wohl solche ernstere Arten der Bildung als „feineren Ego-ismus“, als „unsittlichen Bildungs-Epikureismus“ zu verunglimpfen]Nach derLehre des griechischen Philosophen Epikur (341–270 v. Chr.) liegt das Glück
212Schopenhauer als Erzieherdes Menschen in einer Lebensführung, die durch eine vernünftige Balance vonmaßvollem Genuss und Selbstbeherrschung eine unerschütterliche Seelenruhe(Ataraxie) sichert. Im Laufe der Rezeptionsgeschichte wurde der Epikureismusoft fälschlich mit einem oberflächlichen Hedonismus gleichgesetzt. N. nimmthier indirekt auf spätere polemische Positionen Bezug, die den Epikureern zuUnrecht eine mit moralisch einwandfreier Lebensführung nicht kompatiblehemmungslose Genusssucht zuschreiben: Im vorliegenden Kontext wendet ersich konkret gegen eine illegitime Diffamierung derer, die sich mit intrinsischerMotivation Bildung um ihrer selbst willen aneignen, mit ihr also nicht bloßpragmatische Zwecke verfolgen. N. sieht solche Bildungswilligen verunglimpft,wenn man ihnen Egoismus unterstellt und ihnen – gemäß gängigen Vorurtei-len gegen den Epikureismus – sogar eine unmoralische Lustorientierung vor-wirft. – Auch im ersten seiner Vorträge unter dem TitelUeber die Zukunft unse-rer Bildungsanstaltenwendet sich N. gegen diejenigen, die anspruchsvolleautonome Bildungsziele „als ‚höheren Egoismus‘ als ‚unsittlichen Bildungsepi-kureismus‘ abzuthun“ versuchen (KSA 1, 668, 8–9).388, 23–25„der Mensch hat einen nothwendigen Anspruch auf Erdenglück, da-rum ist die Bildung nothwendig, aber auch nur darum!“]Bei diesem Zitat N.shandelt es sich um ein leicht modifiziertes Selbstzitat, und zwar aus einer Vor-stufe zur Vorrede der VorträgeUeber die Zukunft unserer Bildungsanstalten; vgl.dazu KGW III 5/1, 723, 30–31: „Kurz: die Menschheit hat einen nothwendigenAnspruch auf Erdenglück: deshalb ist die Bildung nothwendig.“389, 1–2„Kulturstaat“]Später schreibt N. in derGötzen-Dämmerung: „Die Cul-tur und der Staat – man betrüge sich hierüber nicht – sind Antagonisten: ‚Cul-tur – Staat‘ ist bloss eine moderne Idee [...] was gross ist im Sinn der Cultur warunpolitisch, selbstantipolitisch“(KSA 6, 106, 12–17). N. stimmte in dieserHinsicht nicht nur mit Schopenhauer, sondern auch mit Jacob Burckhardtüberein, der den politischen und sozialen Entwicklungen der Moderne ebensowie der griechischen Polis der Antike einen einengenden Charakter zuschrieb,für die „Kultur“ eine weitgehende Freiheit von allem Staatlichen wünschte undsich in diesem Sinne sogar zur „Apolitie“ bekannte. – In der Publizistik der1860er und 1870er Jahre ist sehr häufig von „Kulturstaat“ oder „Culturstaat“die Rede, auch im Horizont des Kulturkampfes. Vgl. dazu den SammelbandKulturstaat und Bürgergesellschaft. Preußen, Deutschland und Europa im 19. und20. Jahrhundertvon Neugebauer/Holtz (Hg.) 2010.389, 21–28Da wird drittens die Kultur von allen denen gefördert, welche sicheineshässlichen oder langweiligen Inhaltesbewusst sind und überihn durch die sogenannte „schöne Form“täuschen wollen. Mit dem Aeusserli-chen, mit Wort, Gebärde, Verzierung, Gepränge, Manierlichkeit soll der Beschau-
Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 388–389213er zu einem falschen Schlusse über den Inhalt genöthigt werden: in der Voraus-setzung, dass man für gewöhnlich das Innere nach der Aussenseite beurtheilt.]Im spezifischeren Kontext der Stilistik beschreibt Schopenhauer in seinemHauptwerk ein ähnliches Verhältnis zwischen einem trivialen oder hässlichenInhalt und dem Bemühen, ihn durch prätentiöse Formgebung zu kaschieren:So „wird jeder schöne und gedankenreiche Geist sich immer auf die natürlich-ste, unumwundenste, einfachste Weise ausdrücken“; hingegen „wird Geistes-armuth, Verworrenheit, Verschrobenheit sich in die gesuchtesten Ausdrückeund dunkelsten Redensarten kleiden, um so in schwierige und pomphaftePhrasen kleine, winzige, nüchterne, oder alltägliche Gedanken zu verhüllen,Demjenigen gleich, der, weil ihm die Majestät der Schönheit abgeht, diesenMangel durch die Kleidung ersetzen will und [...] die Winzigkeit oder Häßlich-keit seiner Person zu verstecken sucht“ (WWV I, § 47, Hü 270–271).Während N. die dekorative Fassade, die einen trivialen Inhalt kaschierensoll, generell im Hinblick auf die Kultur problematisiert, wendet sich Schopen-hauer in spezifischerem Sinne kritisch gegen geistige Depravationen in den„redenden Künste[n]“ (WWV I, § 47, Hü 270) und in der Philosophie. In seinerSchriftUeber die Universitäts-Philosophiepolemisiert er gegen die „angebli-chen Philosophen“ in der Epoche nach Kant, die sich „wenn auch nicht immermit deutlichem Bewußtseyn, auf den bloßen Schein der Sache, auf Effektma-chen, Imponiren, ja, Mystificiren“ konzentrieren und darüber „die Erforschungder Wahrheit“ vernachlässigen (PP I, Hü 162). – N. bringt diesen Aspekt fassa-denhafter Inszenierung in UB II HL auf den Begriff der ‚Dekoration‘ und der„dekorativen Cultur“ (KSA 1, 334, 13). Zur Bewältigung der Epigonen-Pro-blematik empfiehlt er hier eine redliche Selbstbesinnung und die Abkehr voneiner sterilen Imitation bereits vorgegebener kultureller Muster. Es gelte „zubegreifen, dass Cultur noch etwas Andres sein kann alsDekoration desLebens, dasheisst im Grunde doch immer nur Verstellung und Verhüllung“(KSA 1, 333, 32 – 334, 1).389, 29–30dass die modernen Menschen sich grenzenlos aneinander langwei-len]Die Thematik der Langeweile hat in Schopenhauers Philosophie besondereRelevanz. Auch in der Literatur der Restaurationszeit kommt ihr ein für dieKultur der Epoche charakteristischer Stellenwert zu. Bedeutsam sind Ennuiund Langeweile beispielsweise für symptomatische Handlungskonstellationenim Œuvre Georg Büchners. So ist der Protagonist Danton in Büchners Revoluti-onsdramaDantons Todin auffallendem Maße von Lebensüberdruss, Lethargieund Langeweile geprägt. Entsprechendes gilt phasenweise auch für die FigurLenz in Büchners gleichnamiger Erzählung sowie für den Prinzen Leonce inseinem LustspielLeonce und Lena. Indem Büchner die Konventionen undRituale der höfischen Gesellschaft als langweiliges, da mit maschinenartiger
214Schopenhauer als ErzieherMonotonie ablaufendes Zeremoniell charakterisiert und sie dadurch in einenGegensatz zu sinnvoller, selbstbestimmter Tätigkeit bringt, verbindet er dieLangeweile-Problematik inLeonce und Lenazugleich mit subversiver Sozialkri-tik. – Eine zentrale Bedeutung erhält die Thematik der Langeweile in der Wil-lensphilosophie Schopenhauers, der den Menschen einem leidensvollen Pro-zess ausgeliefert sieht: einem fortwährenden Wechsel von Begehren undBefriedigung. Wenn diese voluntative Dynamik durch das Ausbleiben neuerWünsche vorübergehend stagniert, ist der Mensch laut Schopenhauer mit derQual der Langeweile konfrontiert, solange sich der Wille des Subjekts nicht aufweitere begehrenswerte Objekte richten kann. Eine Alternative zum leidensvol-len Oszillieren zwischen Not und Langeweile erblickt Schopenhauer in der wil-lenlosen Kontemplation ästhetischer Einstellung, die seines Erachtens aller-dings nur momenthaft möglich ist und sich nicht zu einem Dauerzustandstabilisieren lässt. Zur Thematik der Langeweile bei Schopenhauer vgl. die Be-legstellen in NK 379, 32–34 und NK 397, 24.389, 30–31sich mit Hülfe aller Künste interessant zu machen]Schopenhauerschließt aus dem Gegenstandsbereich des Ästhetischen zwar eigentlich das(seit Friedrich Schlegel vieldiskutierte) ‚Interessante‘ aus, weil es sich nichtproblemlos mit der von ihm vorausgesetzten willenlosen Kontemplation in äs-thetischer Einstellung vereinbaren lässt. Denn wenn „das Objekt dem Indivi-duointeressant“ist, hat es laut Schopenhauer „ein Verhältniß zum Willen“(WWV I, § 33, Hü 208; analog: WWV I, § 57, Hü 370). Mit diesen Prämissenschließt Schopenhauer an das Konzept eines ‚interesselosen Wohlgefallens‘an, das Kant in derKritik der Urteilskraftentfaltet. Trotz der systemimmanen-ten Problematik des ‚Interessanten‘ im Bereich der Ästhetik sieht Schopenhau-er in den „Werken der Dichtkunst, namentlich der epischen und dramati-schen,“ immerhin Möglichkeiten einer Synthese „der Schönheit“ mit dem„Interessante[n]“, sofern „die dargestellten Begebenheiten und Handlungenuns einenAntheilabnöthigen“ (HN 3, 61) – so Schopenhauers These in ei-nem aufschlussreichen Nachlass-Manuskript von 1821, in dem er das Interes-sante ausführlich thematisiert: „Ueber das Interessante“ (HN 3, 61–68).Obwohl „das Interessante nicht nothwendig das Schöne herbeiführt“ und auch„das Schöne nicht nothwendig das Interessante“ (ebd., 65), hält Schopenhauer„bei dramatischen und erzählenden Werken eine Beimischung des Interessan-ten“ sogar für „nothwendig“, und zwar „als Bindemittel der Aufmerksamkeit“(ebd., 67).390, 2–5jeder soll bedient werden, ob ihm nun [...] nach Sublimirtem oder Bäu-risch-Grobem [...] gelüstet]Mit dem ‚Sublimierten‘ ist hier, wie N.s Gegenüber-stellung zeigt, das Verfeinerte gemeint.
Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 389–390215390, 12–13bei dem Verlangen einzelner Deutschen nach Eleganz und Manieren]Mit der ausführlichen Polemik gegen französisierende „Eleganz“, die er miteinem positiv gewerteten „deutschen Geist“ (391, 18) und der „alte[n] deut-sche[n] Art“ (391, 24) kontrastiert, nimmt N. einen nationalpatriotischen Toposder Sturm-und-Drang-Epoche auf, den er hier im Hinblick auf den erst wenigeJahre zurückliegenden deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und die ausihm resultierende antifranzösische Stimmung aktualisiert. Damit schließt N.zugleich an Richard Wagner an (391, 30), der sich vor allem in seinen währenddieses Krieges entstandenen Schriften in einen deutschtümelnden, antifranzö-sischen Nationalismus hineinsteigerte. Dies gilt etwa für die JubiläumsschriftBeethoven, die Wagner zu Beethovens 100. Geburtstag im Jahre 1870 verfasste.Im „Vorwort an Richard Wagner“ lobt N. zu Beginn seinerGeburt der Tragödieenthusiastisch „Ihre herrliche Festschrift über Beethoven“ (KSA 1, 23, 19). –Schon früher gab es in Deutschland Tendenzen zur Kultivierung von „Ele-ganz“, etwa in derZeitung für die elegante Welt, die der (auch N. gut bekannte)Publizist Laube seit den 1830er Jahren herausgab. Zu N.s Polemik gegen die„Eleganz“ (KSA 1, 130, 19–25) vgl. auch NK 1/1, 368–370.390, 17Seit dem letzten Kriege mit Frankreich]Hier spielt N. direkt auf dendeutsch-französischen Krieg von 1870/71 an, auf den er sich bereits in UB I DS(KSA 1, 159) und später auch im „Versuch einer Selbstkritik“ bezieht, den er1886 der Neuausgabe seiner SchriftDie Geburt der Tragödievoranstellte.390, 26–31selbst die deutsche Sprache soll, vermittelst einer nach französi-schem Muster gegründeten Akademie, sich „gesunden Geschmack“ aneignen undden bedenklichen Einfluss abthun, welchen Goethe auf sie ausgeübt habe – wieganz neuerdings der Berliner Akademiker Dubois-Reymond urtheilt]CosimaWagner notiert eine solche Äußerung N.s am 6. August 1874: „Pr[ofessor]N[ietzsche] erzählt, daß Herr Du Bois-Reymond in Berlin den Vorschlag zu ei-ner Akademie gemacht habe, worin Goethe als die deutsche Sprache verder-bend, Lessing gegenüber, geschildert wird!...“ (Cosima Wagner: Tagebücher,Bd. I, 1976, 843). Analoge Aussagen wie im vorliegenden Kontext von UB III SE(390, 16 – 391, 2) macht N. auch in einem nachgelassenen Notat (NL 1874, 35[12], KSA 7, 815–816). Hier wie dort rekurriert er auf die nachdrückliche Goethe-Kritik von Emil Du Bois-Reymond: Über eine Akademie der deutschen Sprache,1874, 26–27: „Endlich ist hier noch ein schweres Bekenntniss abzulegen. Unsergrösster Dichter hat auf den deutschen Stil lange keinen guten Einfluss geübt.Auch da er die Iphigenie ‚Zeile für Zeile, Periode für Periode regelmässig erklin-gen lies‘, war GOETHE in den grundlegenden Eigenschaften des Stils im All-gemeinen kein Muster. Er besass Alles, was der Himmel seinen Lieblingenschenkt, und was den Zauber der Darstellung ausmacht, aber ihm fehlte oft,
216Schopenhauer als Erzieherwas gesunder Geschmack so wenig entbehren mag, wie neben Leckerbissendas Brod, und was nur zähe Arbeit verschafft, Reinheit und Richtigkeit derSprache, straffe Verkettung der Gedanken, knappe Gedrungenheit. Er klagt, dieSprache habe sich unüberwindlich gezeigt. Die Spuren seines Ringens, Unaus-sprechliches auszusprechen, sind nur zu häufig in seinen Werken. Unstreitiggewann dabei in seinen Händen die Sprache an Reichthum und Biegsamkeit,aber die Nachlässigkeit und Willkür, mit welchen er sie, durch sein ungeheuresTalent verführt, in Prosa wie in Versen oft behandelte, waren nicht geeignet,erziehend auf das noch unmündige Volk zu wirken, das zu ihm als Lehrer undFührer emporblickte. Sieht man dann den alternden GOETHE mehr und mehrin seine bekannte Manier verfallen, zu behaglichster Breite zerflossene Phrasenvoll nichtssagenden Füllsels, gewohnheitsmässiger Beiwörter und Wendungenbequem aneinander zu hängen, so kann man nur den Gegensatz zu VOLTAIREbeklagen, der bis zuletzt ein unerreichtes Vorbild raschen, frischen, treffendenAusdruckes blieb. Und wenn lange nach GOETHE’S Tode halb Deutschlandnoch immer wie der alte GOETHE schrieb, so kann man sich nur wundern, wieein Volk von Kritikern das freilich schwerer nachzuahmende Beispiel wahrhaftclassischer Schreibart vergessen konnte, das doch schon von LESSING gegebenwar.“ Vgl. dazu den Quellennachweis von Antonio Morillas-Esteban 2011f, 326–327.391, 18den deutschen Geist]N. greift diese Formel wenig später (in 393, 15)nochmals auf. Schon im 23. Kapitel derGeburt der Tragödieist prononciert von„unserem deutschen Wesen“ die Rede (KSA 1, 146, 22). Außerdem beschwörtN. hier „dieWiedergeburt des deutschen Mythus“(KSA 1, 147, 11–12)durch Wagner und formuliert seine Hoffnung, „dass der deutsche Geist sichauf sich selbst zurückbesinnt“ (KSA 1, 149, 14–15).391, 30–33Richard Wagners Wort [...]: „der Deutsche ist eckig und ungelenk,wenn er sich manierlich geben will; aber er ist erhaben und allen überlegen,wenn er in das Feuer geräth“]Hier zitiert N. aus Wagners SchriftÜber das Dirigi-ren(GSD VIII, 387). Auch mit der für alle vierUnzeitgemässen Betrachtungenwichtigen Gegenüberstellung von genuiner ‚Bildung‘ und bloßer ‚Gebildetheit‘orientiert sich N. an dieser Schrift (vgl. GSD VIII, 313–315). Vgl. dazu ausführli-cher NK 366, 18–20 und NK 450, 8–13.392, 2–30jene in Deutschland überhandnehmende Neigung zur „schönen Form“[...] eine lügnerische Eleganz [...] das feindseligste Gegenbild der deutschen Kultur]Eine frühere Fassung dieser Partie in der Vorstufe zur Reinschrift des Druckma-nuskripts lautet: „Jene Rufer nach Eleganz verdienen wahrhaftig dass man sichüber sie erzürne; denn sie geben eine schnell bereite, unverschämte Antwort aufein edles und tiefsinniges Bedenken, das der Deutsche schon längst auf dem
Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 391–392217Herzen hat. Es klingt als ob man ihm zuriefe: lerne tanzen – während ihm jeneSehnsucht Faustens [...] erregt ist, sich in der Abendröthe zu baden [vgl.Faust I,V. 446: „Morgenrot“]. Hölderlin [imGesang des Deutschen] hat es gesagt, wiedem Deutschen zu Muthe ist ‚noch säumst und schweigst du, sinnest ein freudigWerk, das von dir zeuge, sinnest ein neu Gebild, das, einzig wie du selber, dasaus Liebe geboren und gut, wie du, sei.‘ Mit diesem Sinnen im Herzen, ist ihmfreilich seine Gegenwart verleidet; er mag es als Deutscher kaum noch unterDeutschen aushalten“ (KSA 14, 78). – Schon in derGeburt der TragödiekritisiertN. die modische „Eleganz“, die er mit der „Sprechweise des Journalisten“ verbin-det (KSA 1, 130, 23–24). Damit spielt er auch auf dieZeitung für die elegante Weltan, die Laube, den er gut kannte, herausgab (vgl. NK 1/1, 369). Zur Deutschen-Schelte in HölderlinsHyperionvgl. Waibel 2004, 48.Der kritischen Beurteilung der äußerlich „schönen Form“, die N. im Rah-men von UB III SE zuvor bereits in 389, 23–24 thematisiert hat, entspricht inUB IV WB die Opposition zwischen dem „gefälligen Anschein“ der äußerlichbleibenden „Form“ und dem ‚wahren‘ Begriff von „Form“ als einer „nothwen-digen Gestaltung“ (KSA 1, 457, 15–21). Gegen den Kult der „schönen Form“polemisiert N. vor allem im Hinblick auf Eduard Hanslick, der im 19. Jahrhun-dert ein berühmter Musik-Kritiker und Musik-Theoretiker, zugleich aber auchein Gegner Richard Wagners war. N. hatte Hanslicks WerkVom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst(1854, 3. Aufl. 1865)in seiner persönlichen Bibliothek (NPB 275). In diesem Buch differenziert Hans-lick zwischen Form und Inhalt der Musik und grenzt bereits in einer Kapitel-überschrift das „ästhetischeAufnehmen der Musik gegenüber dempathologi-schen“ ab. Seines Erachtens werden durch Melodie, Harmonie und RhythmusMusikalische Ideen“ ausgedrückt (Hanslick 2010, 52). Und Hanslick fährt fort:„In welcher Weise uns die Musikschöne Formenohne den Inhalt eines be-stimmten Affectes bringen kann, zeigt uns recht treffend ein Zweig der Orna-mentik in der bildenden Kunst: dieArabeske“, die „in sinnigem Wechsel vonRuhe und Anspannung“ das Auge immer wieder überrascht (ebd., 53). Analogcharakterisiert Hanslick die Musik, wenn er die rhetorische Frage formuliert:„Denken wir uns vollends diese lebendige Arabeske als thätige Ausströmungeines künstlerischen Geistes, der die ganze Fülle seiner Phantasie unablässigin die Adern dieser Bewegung ergießt, wird dieser Eindruck demmusikalischennicht sehr nahekommend sein?“ (ebd., 53). Hanslick grenzt die ästhetischeWirkung der Musik entschieden von der bloß pathologischen ab, welche dieHörer erfahren, die nur „das Elementarische der Musik in passiver Empfäng-lichkeit auf sich wirken lassen“ (ebd., 88). Dezidiert erklärt er: „Ein Erleidenunmotivirter ziel- und stoffloser Affecte durch eine Macht, die in keinem Rap-port zu unserm Wollen und Denken steht, ist des Menschengeistes unwürdig“(ebd., 91). Zu Wagners Musikästhetik vgl. NK 454, 11–14
218Schopenhauer als ErzieherDa Hanslick Jude war, enthält N.s Berufung auf die „deutsche Kultur“ unddie oben zitierte Textvariante „er mag es als Deutscher kaum noch unter Deut-schen aushalten“ (KSA 14, 78) zugleich einen antisemitischen Akzent. GegenHanslicks „Aesthetik“ der Musik wendet sich N. bereits im 6. Kapitel derGeburtder Tragödie(KSA 1, 50, 1–9). Außerdem erwähnt er Hanslick namentlich auchin mehreren Nachlass-Notaten, in denen er die Konzentration auf die „Form“thematisiert. Vgl. z. B.: „Die Musik ‚die subjektivste‘ Kunst: worin eigentlichnicht Kunst? In dem ‚Subjektiven‘ d. h. sie ist rein pathologisch, soweit sienicht reine unpathologischeFormist. Als Form ist sie derArabeske amnächsten verwandt. Dies der StandpunktHanslicks.DieKompositionen, beidenen die ‚unpathologisch wirkende Form‘ überwiegt, besondersMendels-sohn’s,erhalten dadurch einen classischen Werth“ (NL 1871, 9 [98], KSA 7,310). Zu konträren Musikkonzepten vgl. NK 497, 8–12.Zum weiteren kulturellen Hintergrund dieses musikästhetischen Diskursesgehört Wagners antisemitisches PamphletÜber das Judenthum in der Musik.Hier polemisiert Wagner explizit gegen Hanslicks „Libell über das ‚Musika-lisch-Schöne‘, in welchem er für den allgemeinen Zweck des Musikjudenthumsmit außerordentlichem Geschick verfuhr“: Wagner wirft Hanslick pseudo-intel-lektuelle Täuschungsmanöver vor, durch die er eine Dialektik „ganz nachfeinstem philosophischen Geiste“ simuliere und „die trivialsten Gemeinplätze“zu kaschieren versuche (GSD VIII, 243; vgl. auch 251).392, 9–11in unanständiger Sorglichkeit, als die geplagten Sklaven der drei M,des Moments, der Meinungen und der Moden]Bereits Schopenhauer verwendetdie Sklaven-Metaphorik mit ähnlichen Implikationen: In seinenAphorismenzur Lebensweisheitwird „der Sklave fremder Meinung und fremden Bedün-kens“ zum Thema (PP I, Hü 376). Indem N. in einer früheren Passage vonUB III SE die Problematik „öffentlich meinende[r] Scheinmenschen“ kritisiert(338, 34), betont er zugleich die Chance des Individuums auf Selbstentfaltungin einem Prozess geistiger Emanzipation: Das „Glück“ der Autonomie erlangtderjenige, der selbständig eine „Befreiung“ von den „Ketten der Meinungenund der Furcht“ vollzieht (338, 15–17). In anderem Zusammenhang gebrauchtN. die Sklaven-Metapher in derGeburt der Tragödie: Dort erscheint „der ‚Jour-nalist‘“ als „der papierne Sclave des Tages“ (KSA 1, 130, 20). In UB I DS undUB II HL dient die Sklaven-Metapher dazu, die entfremdenden Rahmenbedin-gungen der strapaziösen Arbeit der Gelehrten zu kritisieren, die pragmatischenZwecken unterworfen ist und ohne das kreativitätsfördernde Stimulans derMuße vonstatten geht. So vergleicht N. den in hektischem Aktionismus tätigenWissenschaftler-Typus in UB I DS mit einem neuen „Sclavenstand“ (KSA 1, 202,28). Und in UB II HL spricht er explizit von den „Sclaven“ (KSA 1, 300, 29), diein „der wissenschaftlichen Fabrik arbeiten“ (KSA 1, 300, 26). Die Vorstellung
Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 392–393219von Sklaverei mit diesen Implikationen und die Charakterisierung der „geplag-ten Sklaven der drei M, des Moments, der Meinungen und der Moden“ im vor-liegenden Kontext stimmen insofern überein, als ihnen eine Heteronomie ge-meinsam ist, die den Menschen deformiert und ihn seinem eigentlichen Wesenentfremdet. Nicht allein die Sklaven-Vorstellung adaptiert N. von Schopenhauer,darüber hinaus übernimmt er von ihm auch die despektierliche Beschreibungder großen Masse der Menschen als „Fabrikwaare der Natur, wie sie solchetäglich zu Tausenden hervorbringt“ (WWV I, § 36, Hü 220). Analog: PP I,Hü 189, 209. So erklärt N. in UB III SE unter Rekurs auf Schopenhauer: „Wennder grosse Denker die Menschen verachtet, so verachtet er ihre Faulheit: dennihrethalben erscheinen sie als Fabrikwaare“ (338, 5–7). Weitere Belege für dievon Schopenhauer angeregte Sklaven- und Fabrik-Metaphorik N.s finden sichin NK 300, 25–29. N. nutzt diese Vorstellungsbilder, um sie in verschiedenenZusammenhängen seiner frühen Werke kulturkritisch zu akzentuieren und siedabei zugleich mit seinem geistesaristokratischen Anspruch und seinem Postu-lat ‚unzeitgemäßer‘ Autonomie zu verbinden.392, 20–25Mehrmals ist mir schon, wenn ich Jemandem die Abwesenheit einerdeutschen Kultur vor Augen stellte, eingewendet worden: „aber diese Abwesen-heit ist ja ganz natürlich, denn die Deutschen sind bisher zu arm und bescheidengewesen. Lassen Sie unsre Landsleute nur erst reich und selbstbewusst werden,dann werden sie auch eine Kultur haben!“]Bei dieser Formulierung N.s scheintes sich nicht um ein Zitat zu handeln, sondern lediglich um eine dialogischeAuflockerung. Dafür sprechen auch die Textvarianten des Passus in den Vor-stufen. Vgl. NL 1874, 35 [12], KSA 7, 818. Noch stärkere textliche Abweichungenlässt eine weitere Fassung erkennen, über die der Kritische Apparat in KGW III5/2, 1267, 1–7 Auskunft gibt.392, 34Scheelsucht]Das Adjektiv ‚scheel‘ hat ein ganzes Spektrum von Be-deutungen: abschätzig, kritisch, missgünstig, misstrauisch, neidisch, schief,skeptisch. Das inzwischen veraltete Substantiv ‚Scheelsucht‘ wird heute vorallem durch ‚Neid‘ oder ‚Missgunst‘ ersetzt. (Wer jemanden mit scheelem Blickansieht, lässt damit eine auf Missgunst, Neid, Misstrauen oder Geringschät-zung beruhende ablehnende oder feindselige Haltung erkennen.)393, 9–10„Kultur der interessanten Form!“]Anzunehmen ist eine implizite Be-zugnahme auf Eduard Hanslicks WerkVom Musikalisch-Schönen. Ein Beitragzur Revision der Ästhetik der Tonkunst(1854, 3. Aufl. 1865), in dem wiederholtvon der ‚schönen Form‘ der Musik die Rede ist. Zu Hanslick vgl. NK 392, 2–30.393, 27–28das eigenthümliche Wesen ihrer Diener, derGelehrten]DiesesThema behandelt N. ausführlich (bis 400, 18). Dort, wo er den Gelehrten als
220Schopenhauer als ErzieherMixtur, ja geradezu als „chemische Verbindung“ (399, 24) heterogener „Antrie-be und Reize“ (394, 25–26) beschreibt, erhält seine Darstellung den Charaktereiner pointierten Gelehrtensatire (394, 26 – 399, 28). Indem N. „die Genie’s unddie Gelehrten“ kontrastiert (400, 1), nimmt er einen Topos auf, der sich bereitsin der Geniezeit des Sturm und Drang ausbildete und in GoethesFaustdanneine besonders prägnante Gestaltung fand: durch die Gegenüberstellung derFiguren Faust und Wagner. In UB III SE finden sich zahlreiche Reminiszenzenan GoethesFaust: durch implizite Zitate, Paraphrasen und Anspielungen (vgl.dazu 360, 10–11; 361, 30–33; 366, 23–27; 368, 26; 370, 4–5, 8–32; 371, 31–32; 417,19–21 und Kommentare dazu). – Von zentraler Bedeutung für N.s Ausführun-gen zum Gelehrtentypus in UB III SE sind Schopenhauers Darlegungen in Kapi-tel 21 „Ueber Gelehrsamkeit und Gelehrte“ derParerga und Paralipomena IIund einige Partien in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophie. DenTypus des akademischen Gelehrten kritisieren Schopenhauer und N. als ‚ver-schroben‘ (PP I, Hü 177, 179; SE 344, 407, 408, 412), überangepasst, schmeichle-risch, devot (PP I, Hü 206; SE 395, 411, 414), geltungssüchtig (PP I, Hü 162;SE 411) sowie als korrumpierbar durch Geld, Titel, Ämter und Reputation (PP I,Hü 164, 166, 167, 190, 196; SE 387, 388, 398, 400). Zu den Affinitäten zwischenSchopenhauers und N.s Gelehrtenkritik vgl. die ausführlichen Vergleiche inKapitel III.4 des Überblickskommentars.N. selbst greift auf seine Gelehrtenkritik später auch inJenseits von Gut undBösezurück (JGB 6): Dort charakterisiert er den „Erkenntnisstrieb“ der Gelehr-ten als „irgend ein kleines unabhängiges Uhrwerk, welches, gut aufgezogen,tapfer darauf los arbeitet,ohnedass die gesammten übrigen Triebe des Ge-lehrten wesentlich dabei betheiligt sind. Die eigentlichen ‚Interessen‘ des Ge-lehrten liegen deshalb gewöhnlich ganz wo anders, etwa in der Familie oderim Gelderwerb oder in der Politik; ja es ist beinahe gleichgültig, ob seine kleineMaschine an diese oder jene Stelle der Wissenschaft gestellt wird, und ob der‚hoffnungsvolle‘ junge Arbeiter aus sich einen guten Philologen oder Pilzeken-ner oder Chemiker macht; – esbezeichnet ihnnicht, dass er dieses oderjenes wird. Umgekehrt ist an dem Philosophen ganz und gar nichts Unpersönli-ches, und insbesondere giebt seine Moral ein entschiedenes und entscheiden-des Zeugniss dafür ab, wer er ist – dass heisst, in welcher Rangordnung dieinnersten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind“ (vgl. KSA 5, 20, 20–34). In diesem Sinne leitet N. JGB 6 mit der Feststellung ein, „jede grosse Philo-sophie bisher war [...] das Selbstbekenntniss ihres Urhebers“ (KSA 5, 19, 29–30), so dass nicht „ein ‚Trieb zur Erkenntniss‘ der Vater der Philosophie ist“,sondern „ein andrer Trieb“, der sich „der Erkenntniss (und der Verkenntniss!)nur wie eines Werkzeugs bedient hat“ (KSA 5, 20, 7–9).In seinen Aufzeichnungen zur Vorbereitung eines Freiburger Seminars zuN.s UB II HL (abgehalten im Wintersemester 1938/39) charakterisiert Heidegger
Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 393–394221den „‚Typus‘ des jetzigen ‚Professors‘, das Urbild der Charakterlosigkeit“, ganzim Sinne von N.s Gelehrtensatire durch das folgende Fehlverhalten: durch„Flucht in die Geltungsangelegenheit, völlige Wurschtigkeit gegenüber derWahrheitsfrage“ sowie durch den „Tanz um das papierne Kalb der ‚Ergebnisse‘und der Entdeckungsrekorde und das fortgesetzte ‚Besserwissen‘“ (Heidegger2003, 108). Diese pejorative Perspektive Heideggers auf die Mentalität des Pro-fessors, die seiner Meinung nach durch fragwürdige Sekundärmotivationenstatt durch ein genuines Wahrheitsethos bestimmt ist, korrespondiert auch mitder Gelehrtenkritik, die N. sowohl in UB II HL als auch in UB III SE entfaltet.394, 7–9Man gewöhne sich aber nur erst daran, jede Erfahrung in ein dialekti-sches Frage- und Antwortspiel und in eine reine Kopfangelegenheit zu überset-zen]Schon in derGeburt der Tragödiewendet sich N. explizit gegen die „Dia-lektik“ und den „logischen Schematismus“ (KSA 1, 94, 13). Er beschreibt siedort als Niedergangssymptome des „theoretischen Menschen“(KSA 1,115, 8–9), den er pejorativ darstellt. Diesen Typus sieht N. durch Sokrates als„dialektische[n] Held[en]“ repräsentiert (KSA 1, 94, 17). Vgl. dazu die einschlä-gigen Textpartien in den Kapiteln 14 und 15 derGeburt der Tragödie(KSA 1,94, 11–34; 101, 5–29) und die Stellenkommentare dazu in NK 1/1. Die kritischeBewertung des ‚theoretischen Menschen‘ überträgt N. dann auf den Typus desGelehrten. Die Reduktion von „Wissenschaft“ auf Dialektik und Logik, die N.in derGeburt der Tragödievollzieht, entspricht den Vorbehalten, die Wagnerund Schopenhauer gegen eine rationalistisch verengte Wissenschaft hegen.Dass N. seine Wissenschaftskritik in UB III SE radikalisiert und sie nun zueiner rigorosen, psychologisch akzentuierten Abrechnung mit dem Gelehrten-typus überhaupt verschärft, hängt auch mit seiner eigenen, nur fünf Jahrenach seiner Berufung auf die Professur in Basel bereits großen Distanz zurTätigkeit des Philologen zusammen. Zum biographischen Hintergrund gehörtaußerdem das für N. traumatische Erlebnis vernichtender Kritik, die seineGe-burt der Tragödiedurch führende Fachgelehrte erfahren hatte (vgl. dazu dieDarstellung zur Wirkungsgeschichte von GT in NK 1/1). Seither wendete sichN. auch in zahlreichen Nachlass-Notaten immer wieder polemisch gegen dasGelehrtenwesen. Bei Schopenhauer und N. waren analoge biographische Fak-toren von Bedeutung, die ihre eigenen Einschätzungen der Gelehrtenzunftmaßgeblich prägten: Beide litten über längere Zeit sehr unter einem Mangel anpositiver öffentlicher Resonanz auf ihre Werke. Und beide reagierten auf Signa-le von Anerkennung daher mit besonderem Enthusiasmus. So erklärt sich auchdie emphatische Zukunftsperspektive in Schopenhauers lateinischem Wort-spiel „legor et legar“ (Ich werde gelesen, und ich werde gelesen werden), mitdem er triumphal auf den beginnenden Ruhm reagiert. N. zitiert dieses selbst-
222Schopenhauer als Erzieherbewusste Diktum Schopenhauers in UB III SE (353, 17). Vgl. dazu NK 353, 17.Vgl. ergänzend auch NK 352, 34 – 353, 8.394, 16–18„Trieb zur Wahrheit“ [...] wie sollte es überhaupt einen Trieb nachder kalten, reinen, folgenlosen Erkenntniss geben können!]Mit den Ansichtender Philosophen, die von der Möglichkeit einer reinen, interesselosen, von sub-jektiven Motiven ganz unabhängigen Erkenntnis ausgehen, setzt sich N. auchin seiner nachgelassenen FrühschriftUeber Wahrheit und Lüge im aussermora-lischen Sinnekritisch auseinander. Hier bestimmt er Wahrheit als sprachlichvermittelte Konvention, die keineswegs dem Anspruch auf objektive Erkennt-nis genügt (vgl. KSA 1, 876, 880–881). N. hält „Wahrheit“ für ein „beweglichesHeer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summevon menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertra-gen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest,canonisch und verbindlich dünken“ (KSA 1, 880, 30–34). Konsequenterweiseverwendet N. den Wahrheitsbegriff anschließend sogar in der Pluralform:„die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie wel-che sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind“(KSA 1, 880, 34 – 881, 3). Zur Suspendierung des Wahrheitsanspruchs im Zu-sammenhang mit N.s Experimental-Metaphorik vgl. Neymeyr 2014a, 232–254und 2016b, 323–353.Obwohl N.s Skepsis gegenüber dem Konzept einer reinen, interesselosenErkenntnis den Prämissen Schopenhauers im Hinblick auf Kunst und Philoso-phie nicht entspricht, schließt N. hier doch an Schopenhauers prinzipielle Ein-schätzung der Relation zwischen Willen und Intellekt an: Beim Menschen fun-giert der Intellekt laut Schopenhauer als Erkenntnisinstrument, das der Willezur Befriedigung seiner komplexen Bedürfnisse ausgebildet hat. Die reine inte-resse- und willenlose Betrachtung im Zustand ästhetischer Kontemplation oderphilosophischer Reflexion beschreibt Schopenhauer demgegenüber als einenjeweils nur vorübergehend auftretenden Sonderfall von Erkenntnis, der sichvon der Normalität des durch den Willen instrumentalisierten Intellekts funda-mental unterscheidet. In seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophiebe-tont Schopenhauer die Aufgabe der Philosophie, sich für eine kompromisslose„Wahrheitsforschung“ zu engagieren (PP I, Hü 149, 158, 167, 190, 204).394, 21–22die Gelehrten zu untersuchen und zu seciren]N. vollzieht hier eineInversion der Perspektive: Er will die Gelehrten, die sonst Subjekt der For-schung sind und nach seiner Auffassung zu einer pietätlosen Okkupationsämtlicher Naturphänomene tendieren, nun selbst zum Objekt einer Sektionmachen. Die aus der Medizin stammende Metapher des Sezierens, die auchSchriftsteller wie Flaubert verwendeten, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 394223hunderts populär. Denn sie entspricht dem modernen Konzept empirischerWissenschaft, deren Objektivitätsanspruch mit einer Negation der subjektivenPerspektive des Beobachters einhergeht. Zugleich weist N.s medizinische Meta-phorik auf eine spätere Schaffensphase voraus, in der er Philosophie in Analo-gie zu naturwissenschaftlichem Experimentieren versteht und das Konzepteiner Experimentalphilosophie entwirft. So kontrastiert N. in derFröhlichenWissenschaftden Wunder-Glauben der „lieben Religiösen“ mit dem geistigenHabitus der Intellektuellen, die sich auf experimentelle Wissenschaft und rati-onale Analyse konzentrieren: „wir Anderen, Vernunft-Durstigen, wollen unse-ren Erlebnissen so streng in’s Auge sehen, wie einem wissenschaftlichen Ver-suche, Stunde für Stunde, Tag um Tag!“ (KSA 3, 551, 11–14). In seiner SchriftZur Genealogie der Moralüberträgt N. die empirische Methode der Sektion ausder Medizin in die Psychologie, indem er erklärt: „wir experimentiren mit uns,wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügtund neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf“ (KSA 5, 357, 31–34). Und inJenseits von Gut und Böseempfiehlt N.: „treibt Vivisektion [...] aneuch!“(KSA 5, 153, 30–31). In welchem Maße N.s Selbstverständnis mit der Tätigkeiteines ‚Vivisektors‘ verbunden ist, zeigt auch ein Brief, den er im Mai 1884, alsoein Jahrzehnt nach UB III SE, an Malwida von Meysenbug schrieb: „Ich nannteFrl. S<alomé> einstmals in Tautenburg mein ‚anatomisches Praeparat‘ – [...]auch ich bin ein arger, arger vivisector“ (KSB 6, Nr. 512, S. 504–505). – ZumParadigmenwechsel durch die experimentelle Forschung vor dem Horizont derWissenschaftsgeschichte in Relation zu N.s Metaphorik der Vivisektion, diesich inJenseits von Gut und BöseundZur Genealogie der Moralbesonders häu-fig findet, vgl. NK 396, 24 (auch zur Rezeption durch Musil).394, 31–33die jägerische Lust an verschmitzten Fuchsgängen des Gedankens,so dass nicht eigentlich die Wahrheit gesucht, sondern das Suchen gesucht wird]Das Stilmittel der Figura etymologica dient hier zur Hervorhebung einer Selbst-bezüglichkeit des Gelehrten, dem – N.s Darstellung zufolge – ein genuines,sachorientiertes Erkenntnisinteresse fehlt. In der Inszenierung des Suchprozes-ses, der als solcher genossen und zelebriert werde, verrate dieser Gelehrtentypseine letztlich egozentrische Motivation. – Die Thematik der Suche spielt schonin UB I DS eine wesentliche Rolle, und zwar im Zusammenhang mit N.s Kritikan einer philiströsen Mentalität. Diese kontrastiert er mit dem genuinen Such-impuls der „grossen heroischen Gestalten“ in der deutschen Kultur, die sichim Unterschied zu den bloßen ‚Bildungsphilistern‘ als „Suchende“erweisen(KSA 1, 167, 12–15) und insofern nicht dem gleichermaßen naiven wie sakro-sankten Bild von den angeblich immer schon fertigen „Klassiker[n]“ entspre-chen (KSA 1, 168, 7). Zur Thematik der Wahrheitssuche und deren Bedeutungim Zusammenhang mit Schopenhauers Kritik an der akademischen Philoso-
224Schopenhauer als Erzieherphie vgl. NK 398, 2–11. Den Begriff der Jagd verwendet N. später auch in derMorgenröthe, um denjenigen, der sich ohne intrinsische Motivation intellektu-ell beschäftigt, als einen „Don Juan der Erkenntniss“ zu charakterisieren: „Ihmfehlt die Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber er hat Geist, Kitzel undGenuss an Jagd und Intriguen der Erkenntniss – bis an die höchsten und fern-sten Sterne der Erkenntniss hinauf!“ (KSA 3, 232, 16–21).395, 1Trieb zum Widerspruch]Hier beleuchtet N. einen anderen Aspekt dessel-ben Grundproblems wie in 394, 31–33. Er beschreibt den Selbstgenuss des Ge-lehrten im erfolgreichen Kampf als sein vorrangiges Handlungsmotiv, das miteinem angeblichen „Kampf um die Wahrheit“ (395, 4) lediglich kaschiertwerde.395, 5–9Zu einem guten Theile ist sodann dem Gelehrten der Trieb beigemischt,gewisse „Wahrheiten“ zu finden, nämlich aus Unterthänigkeit gegen gewisseherrschende Personen, Kasten, Meinungen, Kirchen, Regierungen, weil er fühlt,dass er sich nützt, indem er die „Wahrheit“ auf ihre Seite bringt.]Im Kapitel 21„Ueber Gelehrsamkeit und Gelehrte“ derParerga und Paralipomena IIcharakte-risiert Schopenhauer den Gelehrten analog: Ähnlich wie N. in UB III SE betontbereits Schopenhauer pragmatische Strategien der Überanpassung, die letzt-lich auf Kosten der „Wahrheit“ gehen: „Der deutsche Gelehrte ist aber auch zuarm, um redlich und ehrenhaft seyn zu können. Daher ist drehn, winden, sichackommodiren und seine Ueberzeugung verleugnen, lehren und schreiben waser nicht glaubt, kriechen, schmeicheln, Partei machen und Kameradschaftschließen, Minister, Große, Kollegen, Studenten, Buchhändler, Recensenten,kurz, Alles eher, als die Wahrheit und fremdes Verdienst, berücksichtigen, –sein Gang und seine Methode. Er wird dadurch meistens ein rücksichtsvollerLump“ (PP II, Kap. 21, § 251, Hü 514). Schopenhauer sieht „in der deutschenLitteratur überhaupt und der Philosophie insbesondere“ die „Unredlichkeit sosehr“ dominieren, „daß zu hoffen steht, es werde damit den Punkt erreichen,wo sie, als unfähig, noch irgend Jemanden zu täuschen, unwirksam wird“(ebd.).395, 19–20in adiaphoris]Vgl. NK 367, 33.395, 24sensus recti]Der Sinn für das Rechte oder für das Richtige.395, 25Kopernikus]Der berühmte Astronom Nikolaus Kopernikus (1473–1543)ersetzte das traditionelle geozentrische Weltbild des Ptolemäus durch ein neu-es, heliozentrisches: Nicht die Erde bildet den Mittelpunkt der kreisförmigenPlanetenbahnen, sondern die Sonne. Das heliozentrische Weltsystem wirdnach seinem Entdecker auch als das kopernikanische Weltbild bezeichnet: DieErde kreist um die Sonne, dreht sich dabei täglich auch um ihre eigene Achse
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Stellenkommentar1.337, 1–5Jener Reisende, der viel Länder und Völker und mehrere Erdtheile ge-sehn hatte und gefragt wurde, welche Eigenschaft der Menschen er überall wie-dergefunden habe, sagte: sie haben einen Hang zur Faulheit.]In Schriften vonPausanias, Cook, Alexander von Humboldt oder Forster lässt sich ein „Hangzur Faulheit“ nicht nachweisen, wohl aber bei Benj. Graf von Rumford [sc.Benjamin Thompson, Reichsgraf von Rumford]; vgl.Kleine Schriften politi-schen, ökonomischen und philosophischen Inhalts(Bd. 1, 1797, 190). Hier heißtes: „Im Menschen liegt, wie nicht zu leugnen ist, ein natürlicher Hang zurFaulheit und Unthätigkeit“. – Dass diese Auffassung im 19. Jahrhundert sehrverbreitet war, zeigt beispielsweise auchImmanuel Kant’s Menschenkunde oderphilosophische Anthropologie. Nach handschriftlichen Vorlesungen(1831, 51):„Der fleißige Mann arbeitet hingegen langsam, aber beständig. Man mußsagen, alle Menschen haben einen Hang zur Faulheit, nämlich erst unbe-schreiblich viel zu arbeiten, um desto länger alsdann faul zu seyn. Hier ist dieFaulheit der Antrieb zur Arbeit, aber der wahrhaftig Fleißige vertheilet die Ar-beit, und macht keine Zwischenräume von Unthätigkeit, wie der Faule“.Bekannter ist Kants Feststellung in der SchriftIdee zu einer allgemeinenGeschichte in weltbürgerlicher Absichtvon 1784: „Der Mensch hat eine Neigungsich zuvergesellschaften:weil er in einem solchen Zustande sich mehrals Mensch, d. i. die Entwickelung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber aucheinen großen Hang sich zuvereinzelnen(isoliren): weil er in sich zugleichdie ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zuwollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbstweiß, daß er seinerseits zum Widerstande gegen andere geneigt ist. Dieser Wi-derstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahinbringt seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht,Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu ver-schaffen, die er nicht wohlleiden, vondenen er aber auch nichtlassenkann“(AA8,20–21).In seiner SchriftWas ist Aufklärung?von 1784 sieht Kant die „Unmündig-keit“ des Menschen wesentlich durch „Faulheit“ bedingt, die mithin zu einemfundamentalen Hindernis für die Aufklärung wird. Die menschliche „Faulheit“macht Kant bereits im zweiten Absatz dieser Schrift zum Thema, und zwardirekt im Anschluss an die berühmte Anfangspartie: „Aufklärung ist derAusgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Un-https://doi.org/10.1515/9783110677966-002
56Schopenhauer als Erziehermündigkeit. UnmündigkeitistdasUnvermögen, sich seines Verstandesohne Leitung eines anderen zu bedienen.Selbstverschuldetistdiese Un-mündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, son-dern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung einesandern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deineseigenen Verstan-des zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feig-heit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem siedie Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen [...] dennoch gern zeitle-bens unmündig bleiben“ (AA 8, 35).Cosima Wagner freilich erklärt N. am 26. Oktober 1874 in ihrem ansonstenganz enthusiastischen Brief über UB III SE: „Eine einzige Bezeichnung hätteich anders gewünscht, ich hätte Trägheit lieber als Faulheit gelesen, weil ichmit Faulheit den Begriff der Verwesung [...] nicht den der Schwerfälligkeit ver-binde“ (KGB II 4, Nr. 599, S. 594).337, 5–7Manchen wird es dünken, er hätte richtiger und gültiger gesagt: siesind alle furchtsam. Sie verstecken sich unter Sitten und Meinungen.]Indem N.Feigheit und Bequemlichkeit des Menschen als anthropologische Konstantendarstellt, beschreibt er sie zugleich als Hindernisse für die Entfaltung jenergeistigen Selbständigkeit, die Kant in seiner berühmten SchriftWas ist Aufklä-rung?postuliert. Zum programmatischen Kampf Kants gegen die Unmündigkeitvgl. die in NK 337, 1–5 zitierte Textpassage aus Kants Schrift. Die Abgrenzunggegenüber bloßen Meinungen verbindet N. im Anschluss an Schopenhauer mitdem Postulat geistiger Autonomie und innerer Unabhängigkeit (vgl. 338, 10–19), also mit dem Anspruch auf ein Leben „nach eignem Maass und Gesetz“(339, 15). In einer späteren Textpassage kritisiert N. „das Wühlen in zahllosenfremden und verkehrten Meinungen“ (416, 32). Zudem reflektiert er in UB III SEauch über „die geplagten Sklaven der drei M, des Moments, der Meinungenund der Moden“ (392, 10–11). Vgl. dazu NK 392, 9–11. Mit seiner Kritik an den„verkehrten Meinungen“ orientiert sich N. an ähnlichen Formulierungen inSchopenhauersAphorismen zur Lebensweisheit: Dort wird „der Sklave fremderMeinung und fremden Bedünkens“ zum Thema (PP I, Hü 376). Schopenhauerempfiehlt auch, „sich klar zu machen, wie ganz falsch, verkehrt, irrig und ab-surd die meisten Meinungen in den Köpfen der Menschen zu seyn pflegen,daher sie, an sich selbst, keiner Beachtung werth sind“ (PP I, Hü 381).337, 7–11Im Grunde weiss jeder Mensch recht wohl, dass er nur einmal, als einUnicum, auf der Welt ist und dass kein noch so seltsamer Zufall zum zweiten Malein so wunderlich buntes Mancherlei zum Einerlei, wie er es ist, zusammenschüt-teln wird]Mit „Unicum“ ist ein Phänomen gemeint, das nur in einem einzigenExemplar existiert. – Laut KSA 14, 74 spielt N. hier auf Lagarde an. Vgl. dazu
Stellenkommentar UB III SE 1, KSA 1, S. 337–33857Paul de Lagarde: „jeder mensch ist einzig in seiner art, denn er ist das resultateines nie wieder vorkommenden processes einziger art“ (Paul de Lagarde:Deutsche Schriften, 1878–1881, Bd. 1, 49). Da Individualitätskonzepte aller-dings schon im 18. Jahrhundert weit verbreitet sind, erscheint es fraglich, „obdie Parallele wirklich einschlägig sei“ (Sommer 1998, 181).337, 14–15heerdenmässig zu denken und zu handeln]Der despektierliche Blickdes Geistesaristokraten auf die bloße Herdenexistenz als Lebensform der über-wiegenden Masse der Menschen, die sich aufgrund ihrer Mediokrität primär fürdie eigene Bequemlichkeit interessiert, ist auch sonst für N. charakteristisch.Insbesondere in seinen späteren Werken finden sich zahlreiche Belegstellen.N. meint, der soziale Druck der Herdenmoral treibe den Einzelnen in Anpas-sung und Mittelmäßigkeit und motiviere ihn zum Kampf gegen jede höhereExistenzform. Vgl. z. B. die Texte 62, 199, 212 inJenseits von Gut und Böse(KSA 5, 81–83, 119–120, 145–147).337, 21–23Die Künstler allein hassen dieses lässige Einhergehen in erborgtenManieren und übergehängten Meinungen]Einen im positiven Sinne ‚unzeit-gemäßen‘ Sonderstatus spricht N. den (pauschal genannten) Künstlern inUB III SE auch an späterer Stelle zu, und zwar aufgrund ihrer unkonventionel-len Mentalität und ihrer Bereitschaft zur Rebellion gegen die „bestehendenFormen und Ordnungen“ (351, 19). Als paradigmatisch für eine solche Haltungbetrachtet N. Richard Wagner (351, 17). Bereits am 11. März 1870 würdigt N. ineinem Brief an Carl von Gersdorff in diesem Sinne die unzeitgemäße Sonder-stellung Wagners und Schopenhauers: „Zweierlei halte ich mir immer vor: derunglaubliche Ernst und die deutsche Vertiefung in der Welt- und Kunstan-schauung Wagners, wie sie aus jedem Tone quillt, ist den meisten Menschenunsrer ‚Jetztzeit‘ ein Greuel, wie Schopenhauer’s Askesis und Verneinung desWillens“ (KSB 3, Nr. 65, S. 105).338, 5–7Wenn der grosse Denker die Menschen verachtet, so verachtet er ihreFaulheit: denn ihrethalben erscheinen sie als Fabrikwaare]Diese Aussage zieltbereits konkret auf die misanthropischen und pessimistischen TendenzenSchopenhauers, den N. explizit erst einige Seiten später in UB III SE zum erstenMal erwähnt (341, 24). N. übernimmt hier Schopenhauers Industrie-Metapher„Fabrikwaare“. In derWelt als Wille und Vorstellung Ierklärt Schopenhauer:„Der gewöhnliche Mensch, diese Fabrikwaare der Natur, wie sie solche täglichzu Tausenden hervorbringt, ist [...] einer in jedem Sinn völlig uninteressirtenBetrachtung, welches die eigentliche Beschaulichkeit ist, wenigstens durchausnicht anhaltend fähig“ (WWV I, § 36, Hü 220). Auch in seiner SchriftUeber dieUniversitäts-Philosophiespricht Schopenhauer pejorativ von „der Fabrikwaareder Natur [...] mit ihrem Fabrikzeichen auf der Stirn“ (PP I, Hü 209). Ähnlich
58Schopenhauer als Erzieherwie später auch N. vertritt bereits Schopenhauer einen prononcierten Geistes-aristokratismus: „Hat ein Mal die Natur in günstigster Laune das seltenste ihrerErzeugnisse, einen wirklich über das gewöhnliche Maaß hinaus begabtenGeist, aus ihren Händen hervorgehn lassen [...], – da dauert es nicht lange, sokommen die Leute mit einem Erdenkloß ihres Gelichters herangeschleppt, umihn daneben auf den Altar zu stellen; eben weil sie nicht begreifen [...], wiearistokratisch die Naturist: sie ist es so sehr, daß auf 300 Millionenihrer Fabrikwaare noch nicht Ein wahrhaft großer Geist kommt“ (PP I, Hü 189).Und in derWelt als Wille und Vorstellung IIerklärt Schopenhauer: „EigentlicheBildung, bei welcher Erkenntniß und Urtheil Hand in Hand gehn, kann nurWenigen zugewandt werden, und noch Wenigere sind fähig sie aufzunehmen.Für den großen Haufen tritt überall an ihre Stelle eine Art Abrichtung“(WWV II, Kap. 6, Hü 74).In UB III SE beruft sich N. zweimal sogar explizit auf SchopenhauersSchriftUeber die Universitäts-Philosophie(413, 418). Zu den zahlreichen impli-ziten Bezugnahmen N.s auf diese Schrift vgl. die Nachweise in Kapitel III.4 desÜberblickskommentars. – Zuvor nimmt N. bereits in UB I DS Anstoß daran,dass sich David Friedrich Strauß „zum kecken Vertheidiger des Genies undüberhaupt der aristokratischen Natur des Geistes aufwirft“ (KSA 1, 199, 23–25).Und in einem Nachlass-Notat aus der Entstehungszeit von UB I DS attestiert erStrauß: „Sein ‚Aristokratismus der Natur‘ ist ganz inconsequent und ange-schwindelt“ (NL 1873, 27 [23], KSA 7, 593). Wenn N. in UB I DS „dem Philisterdas Genie“ gegenüberstellt (KSA 1, 199, 20), dann greift er auf eine bereits seitder Epoche des Sturm und Drang in der Kulturgeschichte etablierte Oppositionzurück. Bereits im zweiten seiner nachgelassenen VorträgeUeber die Zukunftunserer Bildungsanstaltenkritisiert N. 1872 die „lauten Herolde des Bildungsbe-dürfnisses“, die er selbst – entgegen ihrer Programmatik – für „eifrige, ja fana-tische Gegner der wahren Bildung“ hält, weil diese seines Erachtens „an deraristokratischen Natur des Geistes festhält: denn im Grunde meinen sie, als ihrZiel, die Emancipation der Massen von der Herrschaft der großen Einzelnen,im Grunde streben sie darnach, die heiligste Ordnung im Reiche des Intellektesumzustürzen, die Dienstbarkeit der Masse, ihren unterwürfigen Gehorsam, ih-ren Instinkt der Treue unter dem Scepter des Genies“ (KSA 1, 698, 8–17). ZurFabrik- und Sklaven-Metaphorik bei Schopenhauer und N. vgl. auch NK 202,24–28.338, 11sei du selbst!]Der hier imperativisch formulierte Anspruch auf Authen-tizität kehrt in UB III SE an späterer Stelle wieder: in der Vorstellung, die Größedes unzeitgemäßen Menschen bestehe darin, „frei und ganz er selbst zu sein“(362, 17–18). In denAphorismen zur Lebensweisheit(5.B.9), Schopenhauers po-pulärstem Werk, heißt es: „Ganz erselbst seyndarf Jeder nur so lange er
Stellenkommentar UB III SE 1, KSA 1, S. 338–33959allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit:denn nur wann man allein ist, ist man frei“ (PP I, Hü 447). Vgl. dazu auchNK 362, 11–18.338, 27–29Periode, welche ihr Heil auf die öffentlichen Meinungen, das heisstauf die privaten Faulheiten setzt]Hier paraphrasiert N. den Untertitel derBie-nenfabel, eines Werkes, das der englische Arzt und Philosoph Bernard de Man-deville (1670–1733) veröffentlichte. Vgl. Bernard de MandevillesThe Fable ofthe Bees: or, Private Vices Public Benefitsvon 1714 (Die Bienenfabel oder privateLaster, öffentliche Vorteile). – Später nimmt N. inMenschliches, Allzumenschli-cheserneut auf dieses Werk Bezug: „Oeffentliche Meinungen – private Faulhei-ten“ (KSA 2, 316, 8–9). Zur Thematik der „öffentlichen Meinung“, die in N.sFrühwerk von Bedeutung ist und von ihm in UB I DS sogar bereits in der An-fangspassage reflektiert wird, vgl. ausführlich NK 159, 2, außerdem NK 425, 27.Georg Brandes äußert sich kritisch zu N.s These, indem er in seinem BuchFriedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus(1889,zunächst auf Dänisch) zu bedenken gibt: „Ein Aphorismus von Nietzsche lau-tet: ‚Was sind öffentliche Meinungen? Es sind private Faulheiten.‘ Der Satz istnicht unbedingt wahr. Es gibt einzelne Fälle, wo die öffentliche Meinung etwaswert sein kann. John Morley hat ein gutes Buch darüber geschrieben. In gewis-sen sehr unzweifelhaften Fällen, wo Treu und Glauben gebrochen werden, undbei gewissen grob-niederträchtigen Kränkungen des Menschenrechts kann dieöffentliche Meinung ein seltenes Mal sich wie eine Macht erheben, die es ver-dient, daß man ihr folgt. Sonst ist sie in der Regel ein Fabrikat, das im Dienstdes Bildungsphilistertums hergestellt wird“ (Brandes, 2004, 36).338, 29–30dass eine solche Zeit wirklich einmal getödtet wird]N. nimmt hierden Ausdruck ‚die Zeit totschlagen‘ wörtlich und kodiert ihn kulturkritisch imSinne der Epigonenproblematik um: Aus der von ihm imaginierten Perspektiveder Nachwelt sieht er seine eigene Gegenwart als eine Periode unauthentischlebender „Scheinmenschen“. Seiner Ansicht nach wird sie aufgrund ihrer Be-deutungslosigkeit von späteren Epochen aus der Kulturgeschichte eliminiert(vgl. 338, 26 – 339, 3). Zugleich orientiert sich N. an den Darlegungen zur Lan-geweile in derWelt als Wille und Vorstellung I: Hier konstatiert Schopenhauer,„daß sobald Noth und Leiden dem Menschen eine Rast vergönnen, die Lange-weile gleich so nahe ist, daß er des Zeitvertreibes nothwendig bedarf“; daherversuche er „die Last des Daseyns los zu werden, es unfühlbar zu machen, ,dieZeit zu tödten‘, d. h. der Langenweile zu entgehn“ (WWV I, § 57, Hü 369). ZurThematik der Langeweile bei Schopenhauer vgl. ausführlicher NK 379, 32–34und vor allem NK 397, 24.339, 7–12Wie hoffnungsvoll dürfen dagegen alle die sein, welche sich nicht alsBürger dieser Zeit fühlen; denn wären sie dies, so würden sie mit dazu dienen,
60Schopenhauer als Erzieherihre Zeit zu tödten und sammt ihrer Zeit unterzugehen – während sie die Zeitvielmehr zum Leben erwecken wollen, um in diesem Leben selber fortzuleben.]Mit diesem Lob des Anachronismus verbindet N. insofern eine Umwertung der‚Unzeitgemäßheit‘ ins Positive, als er durch sie die Zukunft ermöglicht sieht.Dabei entspricht der individuellen Perspektive seines Erachtens die kulturge-schichtliche Dimension: Denjenigen, die nicht über die Gegenwart hinauszu-denken vermögen, zieht N. die Unzeitgemäßen vor, die durch ihren Beitrag zurkünftigen kulturellen Entwicklung auch selbst über die endliche Lebensdauerhinaus weiterexistieren können. So erscheint Unzeitgemäßheit als ein Quali-tätskriterium sui generis, das fortwährende Präsenz im kulturellen Gedächtnisermöglicht. – In der Reinschrift, die als Vorlage des Druckmanuskripts fungier-te, findet sich die folgende Variante, die durch das Personalpronomen der 1.Person Plural N.s identifikatorisches Verhältnis zur Thematik der Unzeitgemäß-heit noch deutlicher erkennen lässt: „dürfen wir dagegen sein, die wir nichtBürger dieser Zeit sind! denn wären wir dies, so würden wir mit dazu dienen,ihre Zeit zu tödten – während wir als Thätige“ (KSA 14, 74).339, 20–22folglich wollen wir auch die wirklichen Steuermänner dieses Daseinsabgeben und nicht zulassen, dass unsre Existenz einer gedankenlosen Zufällig-keit gleiche]Die Leitmetapher der Seefahrt als bildhafte Vorstellung für denwechselhaften, durch vielfältige Risiken gefährdeten Lebensweg weist auf einebis in die Antike zurückreichende Tradition, die auch in Goethes GedichtSee-fahrtweiterwirkt (vgl. Neymeyr 1998, 29–44 und 2017, 230–240). In der stoi-schen Philosophie gehört der Topos der Seefahrt zum Repertoire. Seneca be-schreibt den Weisen wiederholt als ‚Steuermann‘. Vgl. dazu seine SchriftenEpistulae morales(85, 37; 88, 7; 108, 37),De providentia(4, 5; 5, 9–10)Ad Marci-am de consolatione(6, 3). – Im Rahmen der stoischen Philosophie steht fortunafür das Zufallsprinzip, das unkalkulierbare, unzuverlässige Schicksal, dasGlück und Unglück einschließt. Gemäß den Postulaten der stoischen Ethik sollder Mensch den Widrigkeiten des Schicksals mit virtus und fortitudo begeg-nen, also mit Tugend und Tapferkeit, um den Einfluss der ‚Zufälligkeit‘ aufsein Leben zu reduzieren (vgl. Neymeyr/Schmidt/Zimmermann 2008a).Auch N. greift auf das facettenreiche semantische Feld der Seefahrtsmeta-phorik zurück, die zu den wirkungsmächtigen Topoi der Kulturgeschichtezählt. In derFröhlichen Wissenschaftsetzt er die Seefahrtsmetaphorik ein, umdie Vorstellung einer Abenteurer-Existenz mit dem Postulat intellektueller Er-oberung neuer Denkwelten zu amalgamieren und zugleich mit der Imago einesmediterranen Lebensgefühls von besonderer Intensität zu vermitteln. So for-muliert N. die emphatischen Imperative: „gefährlich leben!Baut eureStädte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere!“ (KSA 3, 526,31–32). Das existentielle Wagnis der Seefahrer angesichts der Gefahr von Stür-
Stellenkommentar UB III SE 1, KSA 1, S. 339–34061men und Schiffbruch (KSA 3, 636, 16) erfordert Mut, Willensenergie und einekraftvolle Souveränität, die N. auch in der ersten Strophe seines Gedichts„Nach neuen Meeren“zumAusdruck bringt: „Dorthin –willich; und ichtraue / Mir fortan und meinem Griff. / Offen liegt das Meer, in’s Blaue / Treibtmein Genueser Schiff“ (KSA 3, 649, 1–9). Das Ethos individueller Selbstbestim-mung verbindet diese lyrische Inszenierung der Seefahrt mit dem Eroberer-Gestus seefahrender Abenteurer und mit N.s Postulat in UB III SE, die Men-schen sollten „Steuermänner dieses Daseins“ sein, statt sich gedankenlos derKontingenz zu überlassen. Zu N.s Experimental-Metaphorik vgl. Neymeyr2014a, 232–254 und 2016b, 323–353.340, 4–7Zwar giebt es zahllose Pfade und Brücken und Halbgötter, die dichdurch den Fluss tragen wollen; aber nur um den Preis deiner selbst; du würdestdich verpfänden und verlieren.]Dieser Passus spielt auf eine Episode im antikenHerakles-Mythos an: Mit seiner Gattin Deianeira gelangt Herakles an den FlussEuenos, an dem Nessos, ein Kentaur, also ein halbtierischer Naturdämon mitmenschlichem Oberkörper und Pferdeleib, die vorüberkommenden Wandererüberzusetzen pflegt. Während er Deianeira über den Fluss trägt, versucht ersich an ihr zu vergreifen. Herakles, der den Fluss bereits durchquert hat, tötetNessos daraufhin mit einem Pfeil.340, 9–11Wer war es, der den Satz aussprach: „ein Mann erhebt sich niemalshöher, als wenn er nicht weiss, wohin sein Weg ihn noch führen kann“?]DiesesZitat von Oliver Cromwell stammt aus einer Emerson-Ausgabe, die N. in seinerBibliothek hatte: Ralph Waldo Emerson: Versuche, 1858, 237 (NPB 211–212). VonN.s intensiver Beschäftigung mit diesem Werk zeugen zahlreiche Randnotizen,Unterstreichungen und Randstriche (vgl. NPB 212), auch das von ihm vollstän-dig mit Notizen ausgefüllte Titelblatt dieser Emerson-Edition (vgl. die Abbil-dung: NPB 215). Die im vorliegenden Kontext von UB III SE zitierte Stelle ausEmersons Essays hat N. mehrfach angestrichen (KSA 14, 75). Auch in einer spä-teren Textpassage von UB III SE (426, 11–25) beruft er sich mit einem langenwörtlichen Zitat auf Emerson. Und in einem nachgelassenen Notat erklärt N.unter dem Titel „Emerson“ emphatisch: „Ich habe mich nie in einem Buch sozu Hause und in meinem Hause gefühlt als – ich darf es nicht loben, es stehtmir zu nahe“ (NL 1881, 12 [68], KSA 9, 588).340, 12–13Wie kann sich der Mensch kennen?]Die Problematik der Selbster-kenntnis reflektiert N. auch in seiner nachgelassenen FrühschriftUeber Wahr-heit und Lüge im aussermoralischen Sinne(KSA 1, 877, 2–15), in der er die rheto-rische Frage formuliert: „Was weiss der Mensch eigentlich von sich selbst!“(KSA 1, 877, 2–3).
62Schopenhauer als Erzieher340, 16–20Zudem ist es ein quälerisches gefährliches Beginnen, sich selbst der-artig anzugraben und in den Schacht seines Wesens auf dem nächsten Wegegewaltsam hinabzusteigen. Wie leicht beschädigt er sich dabei so, dass kein Arztihn heilen kann.]Mit dieser Metaphorik knüpft N. an das Bergwerksmotiv an,das in der Literatur der Romantik besondere Bedeutung hatte und in Novalis’RomanHeinrich von Ofterdingen, Tiecks ErzählungDer Runenbergund E.T.A.Hoffmanns ErzählungDie Bergwerke zu Faluneine zentrale Rolle spielt. In sym-bolischer Verdichtung repräsentiert das Bergwerk für die Romantiker sowohldas Faszinosum der Innerlichkeit als auch das Risiko, sich in ihr wie in einemSchacht zu verlieren und dadurch zugrunde zu gehen.340, 33 – 341, 1dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondernunermesslich hoch über dir]Hier erweitert N. den Wesensbegriff über die bloßeFaktizität des bereits Vorhandenen hinaus um die Dimension des Idealen: Das‚wahre Wesen‘ des Menschen bestimmt er als ein ideales Telos, das als Impulsfür seine künftige Entwicklung fungieren soll – als eine Utopie der Selbstver-vollkommnung. – Hölderlin, der zu den Lieblingsdichtern N.s gehörte (vgl.KSB 3, Nr. 28, S. 51), entwickelte dieses Konzept in seinem BriefromanHyperionund brachte es zugleich auch im programmatischen Namen seines Protagonis-ten zum Ausdruck: Hyper-ion, der ‚Darüberhingehende‘, in der Höhe Wandeln-de, ist ein Beiname des Sonnengottes Helios. Sich ihm anzunähern, sollte dasidealistische Ziel Hyperions sein. Vermutlich ist N.s Vorstellung des ‚wahrenWesens‘ im vorliegenden Kontext von UB III SE auch durch HölderlinsHyper-ionangeregt. – Vor allem aber hatte er eine Maxime im Sinn, die sich in derZweiten Pindarischen Ode findet. N. selbst hat diesen Appell des Autors Pin-dar, auf den er im Zeitraum von 1869 bis 1888 wiederholt zu sprechen kommt,mehrfach so übersetzt: „Werde der, der du bist“. In den Jahren von 1876 bis1882 finden sich mehrere Belege dafür. So konstatiert N. in einem nachgelasse-nen Notat von 1876: „‚Werde der, der du bist‘: das ist ein Zuruf, welcher im-mer nur bei wenig [sic] Menschen erlaubt, aber bei den allerwenigsten dieserWenigen überflüssig ist“ (NL 1876, 19 [40], KSA 8, 340). Später zitiert er dieseantike Maxime in einem Brief an Lou von Salomé auch explizit unter Berufungauf Pindar. So schreibt er ihr vermutlich am 10. Juni 1882: „Pindar sagt einmal‚werdeder, der du bist!‘ / Treulich und ergeben / F N.“ (KSB 6, Nr. 239,S. 203).341, 2–6Deine wahren Erzieher und Bildner verrathen dir, was der wahre Ur-sinn und Grundstoff deines Wesens ist, etwas durchaus Unerziehbares und Un-bildbares, aber jedenfalls schwer Zugängliches, Gebundenes, Gelähmtes: deineErzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier.]Der auch autobiographi-sche Bezug dieser Aussage erhellt daraus, dass N. Schopenhauer wenig später
Stellenkommentar UB III SE 1, KSA 1, S. 340–34163als seinen eigenen „Erzieher und Bildner“ exponiert (KSA 1, 341, 22) und des-sen besonderer Qualität als seines „Lehrers und Zuchtmeisters [...] eingedenksein“ will (341, 23–24). Im vorliegenden Kontext schließt N. an Grundtendenzenund Konzepte verschiedener Autoren der Literatur- und Kulturgeschichte an.Affinitäten ergeben sich etwa zu Hölderlins BriefromanHyperion: durch dieFunktion, die der Erzieher Adamas dort für den jugendlichen Protagonistenhat. Hölderlin seinerseits orientiert sich in dieser Hinsicht an Jean-JacquesRousseaus BuchÉmile ou De l’éducation, das großen Einfluss auf neuzeitlicheErziehungstheorien hatte, weil es auf eine Überwindung traditioneller Erzie-hungsmethoden und auf eine freie Entfaltung des Kindes zielt. Vgl. dazu aus-führlich NK 369, 18–25, daneben auch NK 341, 13–15 und NK 369, 28–30. Durchden Einfluss der Erzieher soll das Individuum nicht heteronom überformt, son-dern zur Autonomie seines eigenen Wesens befreit werden, das N. als prinzipi-ell unerziehbare Essenz versteht. Wenig später charakterisiert er das Individu-um so: „Ein Jeder trägt eine productive Einzigkeit in sich, als den Kern seinesWesens“ (359, 20–21). Die unaufhebbare individuelle Prägung betont schon N.sLieblingsphilosoph Heraklit: vgl. Frg. 22 B 119 (Diels/Kranz). – In der deutschenLiteratur ist Goethes AltersgedichtUrworte. Orphischein repräsentatives Zeug-nis dieser Vorstellung.N. greift im vorliegenden Kontext auf anthropologische Prämissen zurück,die auch Schopenhauer in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophiefor-muliert: Seines Erachtens wird der „Erziehung und Bildung“ (PP I, Hü 209) zuUnrecht oft ein höherer Stellenwert für die Entstehung ‚echter‘ Philosophenzugesprochen als den genetischen Faktoren. Demgegenüber hält Schopenhau-er selbst die durch Vererbung „angeborenen Talente“ für prioritär (PP I,Hü 209), teilt also Prämissen, die bereits Kants Definition des Genies in derKritik der Urtheilskraftbestimmen (vgl. § 46): „Genie ist die angeborne Gemüths-anlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt“ (AA 5,307). – Zwar richtet N. sein kulturkritisches Interesse generell auf historischeEntwicklungsprozesse: So propagiert er in UB III SE eine sukzessive Entfaltungdes Individuums durch Erziehung und Bildung (341–343) und legt im Hinblickauf die kulturelle Entwicklung (380–387, 402) Wert auf eine Konstellation, inder das „Ideal [...] uns erzieht, während es uns aufwärts zieht“ (376, 7–19). Aberseine These, „der wahre Ursinn und Grundstoff“ des Individuums sei „etwasdurchaus Unerziehbares und Unbildbares“ (341, 3–4), korrespondiert mit Scho-penhauers anthropologischen Grundsätzen. Schopenhauer betont zwar denPrimat der Naturanlage (vgl. PP I, Hü 209), spricht zugleich aber der Lektüre„der selbsteigenen Werke wirklicher Philosophen“ (PP I, Hü 208) eine wesent-liche Funktion zu. Vgl. NK 341, 22–24. – Zum Bildungskonzept N.s allgemeinvgl. Christian Niemeyer 2002.
64Schopenhauer als ErzieherZwar ändert N. im Spätwerk seine Einstellung zu UB III SE fundamental,wenn er inEcce homobehauptet, hier komme „im Grunde nicht ‚Schopenhauerals Erzieher‘, sondern seinGegensatz,‚Nietzsche als Erzieher‘, zu Worte“(KSA 6, 320, 29–31). Aber eine Kontinuität zwischen Früh- und Spätwerk lässtsich insofern feststellen, als N. auch in derGötzen-Dämmerungnoch die Bedeu-tung genuiner ‚Erzieher‘ betont und eine kulturelle Krisensituation, ja einen‚Niedergang‘ gerade auf das Fehlen echter Erzieher zurückführt: „Dass Erzie-hung,Bildungselbst Zweck ist [...], dass es zu diesem Zweck derErzieherbedarf – undnicht derGymnasiallehrer und Universitäts-Gelehrten – manvergass das ... Erzieher thun noth, dieselbst erzogensind, überlegene,vornehme Geister, in jedem Augenblick bewiesen, durch Wort und Schweigenbewiesen, reife,süssgewordene Culturen [...]. Die Erzieherfehlen,dieAus-nahmen der Ausnahmen abgerechnet, dieersteVorbedingung der Erziehung:daher derNiedergang der deutschen Cultur“ (KSA 6, 107, 7–17). In diesemKontext substituiert N. die Perspektive auf ‚Schopenhauer als Erzieher‘ durchden Hinweis auf Burckhardt als Erzieher, indem er emphatisch erklärt: „Einejener allerseltensten Ausnahmen ist mein verehrungswürdiger Freund JakobBurckhardt in Basel: ihm zuerst verdankt Basel seinen Vorrang von Humanität“(KSA 6, 107, 18–20). Die Fortsetzung dieser Überlegung in derGötzen-Dämme-runglässt zugleich erkennen, wie nachhaltig N.s kritisches Urteil auch jetztnoch implizit durch die Polemik in Schopenhauers SchriftUeber die Universi-täts-Philosophiebeeinflusst ist (vgl. dazu die zahlreichen Belegstellen in Kapi-tel III.4 des Überblickskommentars). Denn N. schließt an Schopenhauers geis-tesaristokratische Position und an sein Verdikt über die Universitätsgelehrtenan, indem er konstatiert, anstelle genuiner Bildung dominiere „eine brutaleAbrichtung, um, mit möglichst geringem Zeitverlust, eine Unzahl junger Män-ner für den Staatsdienst nutzbar,ausnutzbar zumachen. ‚Höhere Erzie-hung‘ undUnzahl–daswiderspricht sich von vornherein. Jede höhere Erzie-hung gehört nur der Ausnahme“ (KSA 6, 107, 21–26).341, 9Afterbild der Erziehung]In der Reinschrift, die als Vorlage für das Druck-manuskript zu UB III SE fungierte, findet sich die folgende Variante: „Schatten-und Afterbild der Bildung“ (KSA 14, 75).341, 13–15sie [sc. die Erziehung] ist Nachahmung und Anbetung der Natur, wodiese mütterlich und barmherzig gesinnt ist, sie ist Vollendung der Natur]Scho-penhauer betont in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophiedie Bedeu-tung der Erbanlagen für die Genese ‚echter‘ Philosophen, indem er darauf in-sistiert, „daß Alles darauf ankommt, wie Einer aus den Händen der Naturhervorgegangen sei, welcher Vater ihn gezeugt und welche Mutter ihn empfan-gen habe“ (PP I, Hü 209). Dem von Schopenhauer behaupteten Primat der „an-
Stellenkommentar UB III SE 1, KSA 1, S. 34165geborenen Talente“ (PP I, Hü 209) trägt N. Rechnung, indem er bei der Betrach-tung der idealen Entstehungsbedingungen für ‚echte‘ Philosophen einen Blickauf Schopenhauers Eltern wirft (408–409). – Implizit steht hier auch bereitsRousseaus Naturkonzept im Hintergrund, das N. später im Vergleich mit denanthropologischen Vorstellungen Goethes und Schopenhauers expliziert (369–371). In seinem pädagogischen BuchÉmile ou De l’éducation(Emile oder überdie Erziehung) von 1762 plädiert Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) für einenatürliche Erziehung, welche die freie Entfaltung der kindlichen Persönlichkeitintendiert. Durch detaillierte Anweisungen will er die geistige und körperlicheEntwicklung gleichermaßen fördern. In einer idealen Lehrer-Schüler-Bezie-hung kann der Lehrer nach Rousseaus Überzeugung zur Entwicklung der kind-lichen Individualität auf der Basis von Natur und Empfindung beitragen, in-dem er die ‚guten‘ Fähigkeiten des Kindes behutsam lenkt und wachsen lässt.Zu Rousseaus Lehren und zu N.s Vorbehalten gegen ihn vgl. NK 369, 18–25 undNK 369, 28–30.341, 22–24so will ich denn heute des einen Lehrers und Zuchtmeisters, dessenich mich zu rühmen habe, eingedenk sein,Arthur Schopenhauer’s]ObwohlSchopenhauer schon in der Anfangspassage von UB III SE implizit als Vorbild-figur präsent ist (z. B. als „der grosse Denker“: 338, 5–7), retardiert N. die Nen-nung des Namens bis zum Ende des 1. Kapitels. Erst hier exponiert er Schopen-hauer in markanter Schlussstellung und mit rhetorischer Emphase (vgl. auchKSA 1, 778–782, 808 und einen Brief N.s vom 13. Dezember 1875 in KSB 5,Nr. 495, S. 129). Dem existentiellen Pathos dieser Inszenierung steht die nach-trägliche Umdeutung diametral gegenüber, die N. aufgrund seiner späterenAbwendung von Schopenhauer inEcce homovornimmt. Vgl. dazu N.s Selbst-aussagen zu denUnzeitgemässen Betrachtungeninsgesamt: KSA 6, 316–321, da-rin konkret über UB III SE und UB IV WB: KSA 6, 319–321. Während N. Scho-penhauer in UB III SE 1874 emphatisch als den lange ersehnten „Erzieher“preist (350, 15) und ihn sogar als seinen ‚Zuchtmeister‘ apostrophiert (341, 23),der auf geradezu idealtypische Weise den ‚echten‘ Philosophen repräsentiere,ändert sich seine Perspektive nach der Abkehr vom eigenen Schüler-Statusfundamental: So behauptet N. 1888 inEcce homorückblickend, in UB III SEkomme „im Grunde nicht ‚Schopenhauer als Erzieher‘, sondern seinGegen-satz,‚Nietzsche als Erzieher‘, zu Worte“ (KSA 6, 320, 29–31). „Die Schrift ‚Wag-ner in Bayreuth‘ ist eine Vision meiner Zukunft; dagegen ist in ‚Schopenhauerals Erzieher‘ meine innerste Geschichte, meinWerdeneingeschrieben. VorAllem meinGelöbniss!...“ (KSA 6, 320, 9–12), also eine Antizipation der eige-nen künftigen Entwicklung.Schopenhauer selbst insistiert in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philo-sophieauf dem Primat der Naturbegabung vor der Sozialisation und erklärt,
66Schopenhauer als Erzieherdie Bedeutung von „Erziehung und Bildung“ (PP I, Hü 209) für die Entstehung‚echter‘ Philosophen werde oftmals auf Kosten der genetischen Prädispositio-nen überschätzt. Stattdessen komme „alles darauf“ an, „wie Einer aus denHänden der Natur hervorgegangen sei“ (PP I, Hü 209). Vgl. auch NK 341, 2–6.Allerdings hält Schopenhauer die Lektüre „der selbsteigenen Werke wirklicherPhilosophen“ (PP I, Hü 208) für ein wesentliches Stimulans zu autonomer in-tellektueller Tätigkeit. In seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophieemp-fiehlt er, „einenwirklichenPhilosophen zur Hand“ zu nehmen, „gleichvielaus welcher Zeit [...]: immer begegnet man einem schönen und gedankenrei-chen Geiste, der Erkenntniß hat und Erkenntniß wirkt“ (PP I, Hü 174).Dieser Einschätzung entsprechen die Erfahrungen, die N. selbst mit Scho-penhauer als Erzieher gemacht hat und die er in UB III SE expliziert (vgl. 341–350). Hier ergeben sich Affinitäten zu Schopenhauers Darlegungen im Kapitel„Ueber Philosophie und ihre Methode“ derParerga und Paralipomena II,woerdie Rezeptionssituation so beschreibt: „Der philosophische Schriftsteller ist derFührer und sein Leser der Wanderer. Sollen sie zusammen ankommen, so müs-sen sie, vor allen Dingen, zusammen ausgehn: d. h. der Autor muß seinen Le-ser aufnehmen auf einem Standpunkt, den sie sicherlich gemein haben: diesaber kann kein anderer seyn, als der des uns Allen gemeinsamen, empirischenBewußtseyns. Hier also fasse er ihn fest an der Hand und sehe nun, wie hochüber die Wolken hinaus er, auf dem Bergespfade, Schritt vor Schritt, mit ihmgelangen könne“ (PP II, Kap. 1, § 5, Hü 6–7). Zur Gipfel-Metaphorik bei Scho-penhauer und N. vgl. NK 366, 30–31 und NK 381, 5–6.2.341, 27–28Will ich beschreiben, welches Ereigniss für mich jener erste Blickwurde, den ich in Schopenhauer’s Schriften warf]Hier zeichnen sich Affinitätenzur Einschätzung Schopenhauers ab, der sich in seiner SchriftUeber die Uni-versitäts-Philosophiezur stimulierenden Wirkung philosophischer Lektüre äu-ßert: Der zur Philosophie „Befähigte und eben daher ihrer Bedürftige“ werdedurch „jedes Buch irgend eines ächten Philosophen, das ihm in die Händefällt, mächtiger und wirksamer“ angeregt als durch den „Vortrag eines Kathe-derphilosophen“ (PP I, Hü 149).342, 5–14Dann fragte ich mich wohl: welches wären wohl die Grundsätze, nachdenen er dich erzöge? und ich überlegte mir, was er zu den beiden Maximen derErziehung sagen würde, welche in unserer Zeit im Schwange gehen. Die eine for-dert, der Erzieher solle die eigenthümliche Stärke seiner Zöglinge bald erkennenund dann alle Kräfte und Säfte und allen Sonnenschein gerade dorthin leiten, um
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 341–34267jener einen Tugend zu einer rechten Reife und Fruchtbarkeit zu verhelfen. Dieandre Maxime will hingegen, dass der Erzieher alle vorhandenen Kräfte heranzie-he, pflege und unter einander in ein harmonisches Verhältniss bringe.]Mittelseiner dialektischen Argumentation entfaltet N. die unterschiedlich akzentuier-ten Bildungskonzepte seiner Zeit: Der Thesis (Perfektionierung von Spezialbe-gabungen, auch auf Kosten der Gesamtpersönlichkeit) folgt als Antithesis dashumanistische Bildungsideal, das auf eine harmonische Ausbildung allerFähigkeiten des Schülers zielt. Mit dem Beispiel des Goldschmieds Cellini be-gründet N. einerseits den Anspruch dominanter Spezialbegabungen auf ange-messene Förderung, um andererseits aber gerade vor dem Hintergrund einessolchen Sonderfalls die ausgewogene Entfaltung sämtlicher Persönlichkeits-komponenten und ihre harmonische Balance als „Vollendung der Natur“ (341,14–15) zu postulieren. Indem N. letztlich die Synthesis beider Erziehungsprinzi-pien zum erstrebenswerten Bildungsideal erklärt, formuliert er seine pädagogi-sche Zielsetzung, „Zentralkraft“ und „Peripherie“ zu einer lebendigen Einheitzu vermitteln. – Ausgehend vom Ideal „der harmonischen Persönlichkeiten“(KSA 1, 299, 4), formuliert N. bereits in UB II HL seine Kritik am gesellschaftli-chen Primat bloßer Nützlichkeitskriterien. So distanziert er sich von einer ‚Ab-richtung‘ der Menschen zugunsten „der gemeinsamen möglichst nutzbaren Ar-beit“, indem er erklärt: „Das heisst eben doch nur: die Menschen sollen zuden Zwecken der Zeit abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Handanzulegen; sie sollen in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten, bevorsie reif sind, ja damit sie gar nicht mehr reif werden – weil dies ein Luxuswäre, der ‚dem Arbeitsmarkte‘ eine Menge von Kraft entziehen würde“ (KSA 1,299, 5–11). Diese Problematik unterscheidet sich von der in UB III SE exponier-ten Alternative der Erziehungsmaximen. Dabei geht es N. letztlich um „die har-monische Ganzheit und den vielstimmigen Zusammenklang in Einer Natur“(342, 26–27).Johann Gottfried von Herder hatte mit seinem HauptwerkIdeen zur Philoso-phie der Geschichte der Menschheit(1784–1791) maßgeblichen Einfluss auf dasHumanitätsdenken der Weimarer Klassik. Er sieht den Menschen in einemSpannungsfeld von Notwendigkeit und Freiheit: Einerseits sei er existentiellvon naturalen und historischen Faktoren abhängig, andererseits verfüge er je-doch auch über Freiräume zu autonomer Selbstgestaltung und individuellerSelbstverwirklichung innerhalb sozialer Kontexte. Im Anschluss an den Fort-schrittsoptimismus der Aufklärung betont Herder, der Mensch könne durch dieAusbildung zu einer allseitigen Persönlichkeit zur Selbstvervollkommnung ge-langen. Dazu sei es notwendig, dass er Einseitigkeit vermeide, indem er seinganzes Potential entwickle und dabei zugleich emotionale und rationale Kräf-te, also Erkennen und Empfinden, sowie alle sonstigen Fähigkeiten in ein aus-
68Schopenhauer als Erziehergewogenes Verhältnis zueinander bringe. – Die Affinität von N.s Konzepten mitPrämissen Herders, gegen den er gleichwohl heftig polemisierte, erscheint alsAusdruck einer „Wahlverwandtschaft wider Willen“ (vgl. dazu v. Rahden 2007,473–477).N.s intensive Beschäftigung mit den ästhetischen Schriften Schillers, dievor allem in seiner frühen Schaffensphase auffällt, manifestierte sich bereitsin derGeburt der Tragödieund später auch inMenschliches, AllzumenschlichesII. (Zur zentralen Bedeutung von N.s Schiller-Rezeption und zu seiner späterenAbkehr von ihm, die in derGötzen-Dämmerungsogar in Polemik gegen denangeblichen „Moral-Trompeter von Säckingen“ Ausdruck fand (KSA 6, 111, 5–6), vgl. Venturelli 2003). – Schiller reflektiert die Problematik einseitiger Ent-wicklung vor allem in seiner SchriftÜber die ästhetische Erziehung des Men-schen in einer Reihe von Briefen. Vgl. hier insbesondere den Sechsten Brief, indem Schiller die immer weiter fortschreitende Spezialisierung kulturgeschicht-lich begründet und sowohl Vorteile als auch Nachteile hervorhebt: Ähnlich wieN. betont bereits Schiller den „Kontrast [...] zwischen der heutigen Form derMenschheit“ und der „ehemaligen, besonders der griechischen“ (Schiller: FA,Bd. 8, 570). Er betrachtet es als Charakteristikum der Moderne, dass „nichtbloß einzelne Subjekte sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teilihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen, wie bei verkrüppelten Ge-wächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind“ (ebd., 571): „Ewig nur an eineinzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Menschselbst nur als Bruchstück aus“ (ebd., 572–573); so „entwickelt er nie die Harmo-nie seines Wesens“ (ebd., 573).Aber „so wenig es auch den Individuen bei dieser Zerstückelung ihres We-sens wohl werden kann“: „die Gattung [hätte] auf keine andere Art [...] Fort-schritte machen können“ (ebd., 575). „Die mannigfaltigen Anlagen im Men-schen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegen zusetzen. Dieser Antagonism der Kräfte ist das große Instrument der Kultur, aberauch nur das Instrument; denn solange derselbe dauert, ist man erst auf demWege zu dieser“ (ebd., 576). „Einseitigkeit in Übung der Kräfte führt zwar dasIndividuum unausbleiblich zum Irrtum, aber die Gattung zur Wahrheit. Da-durch allein, daß wir die ganze Energie unsers Geistes in Einem Brennpunktversammeln, und unser ganzes Wesen in eine einzige Kraft zusammenziehen,setzen wir dieser einzelnen Kraft gleichsam Flügel an, und führen sie künstli-cherweise weit über die Schranken hinaus, welche die Natur ihr gesetzt zuhaben scheint“ (ebd., 576). „Wieviel also auch für das Ganze der Welt durchdiese getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag,so ist nicht zu leugnen, daß die Individuen, welche sie trifft, unter dem Fluchdieses Weltzweckes leiden. Durch gymnastische Übungen bilden sich zwar ath-
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 34269letische Körper aus, aber nur durch das freie und gleichförmige Spiel der Glie-der die Schönheit. Eben so kann die Anspannung einzelner Geisteskräfte zwaraußerordentliche, aber nur die gleichförmige Temperatur derselben glücklicheund vollkommene Menschen erzeugen“ (ebd., 577).Aus diesen Erwägungen zu den Vor- und Nachteilen der Spezialisierungdes Menschen im Laufe des Zivilisationsprozesses zieht Schiller die folgendeQuintessenz: „Es muß also falsch sein, daß die Ausbildung der einzelnen Kräf-te das Opfer ihrer Totalität notwendig macht; oder wenn auch das Gesetz derNatur noch so sehr dahin strebte, so muß es bei uns stehen, diese Totalität inunsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wiederherzustellen“ (ebd., 578). – Das Ideal, das Schiller im Siebzehnten Brief seinerSchriftÜber die ästhetische Erziehung des Menschenformuliert, zielt darauf,„den Menschen zu einem in sich selbst vollendeten Ganzen“ zu machen (ebd.,620). Analog dazu sieht N. „die Aufgabe“ von „Erziehung“ darin, Einzelbega-bungen so zu fördern, dass „alle vorhandenen Kräfte [...] unter einander in einharmonisches Verhältniss“ gebracht werden (342, 13–14). Zum Bildungsgedan-ken bei N. und Schiller vgl. auch Ulrichs 2005, 111–124.N.s Reflexion über die konträren pädagogischen Maximen, die einerseitsdie einseitige Kultivierung des Spezialistentums, andererseits jedoch eine har-monische Integration unterschiedlicher Begabungen favorisieren, weist eineaufschlussreiche Affinität auch zu Goethes BildungsromanWilhelm MeistersLehrjahreauf, den N. in UB III SE mehrmals nennt (vgl. NK 371, 15–17 undNK 376, 19–29). Im 5. Kapitel des 8. Buches vonWilhelm Meisters Lehrjahre,aus dem N. auch in 371, 15–17 zitiert, berichtet Natalie über retrospektive Le-bensbetrachtungen ihres Oheims: „Wenn ich nicht, pflegte er oft zu sagen, mirvon Jugend auf so sehr widerstanden hätte, wenn ich nicht gestrebt hätte, mei-nen Verstand ins Weite und Allgemeine auszubilden, so wäre ich der be-schränkteste und unerträglichste Mensch geworden, denn nichts ist unerträgli-cher als abgeschnittene Eigenheit an demjenigen, von dem man eine reine,gehörige Tätigkeit fordern kann“ (Goethe: FA, Bd. 9, 919).Das synthetische Konzept, das N. als eine zwischen den beiden Alternati-ven – Spezialisierung vs. allseitige Bildung – vermittelnde Option favorisiert(342–343), ist auch in diesem Kapitel von Goethes RomanWilhelm MeistersLehrjahrebereits Gegenstand der Reflexion. So erklärt die Figur Jarno über denAbbé: „Was ihn uns so schätzbar macht, [...] was ihm gewissermaßen die Herr-schaft über uns alle erhält, ist der freie und scharfe Blick, den ihm die Naturüber alle Kräfte, die im Menschen nur wohnen, und wovon sich jede in ihrerArt ausbilden läßt, gegeben hat. Die meisten Menschen, selbst die vorzügli-chen, sind nur beschränkt, jeder schätzt gewisse Eigenschaften an sich undandern, nur die begünstigt er, nur die will er ausgebildet wissen: Ganz entge-
70Schopenhauer als Erziehergengesetzt wirkt der Abbé, er hat Sinn für alles, Lust an allem, es zu erkennenund zu befördern. [...] Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alleKräfte zusammengenommen die Welt. Diese sind unter sich oft im Widerstreit,und indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie die Natur zusammen, undbringt sie wieder hervor. [...] Jede Anlage ist wichtig, und sie muß entwickeltwerden. Wenn einer nur das Schöne, der andere nur das Nützliche befördert,so machen beide zusammen erst einen Menschen aus. Das Nützliche befördertsich selbst, denn die Menge bringt es hervor, und alle könnens nicht entbeh-ren; das Schöne muß befördert werden, denn wenige stellens dar, und vielebedürfens. [...] Eine Kraft beherrscht die andere, aber keine kann die anderebilden; in jeder Anlage liegt auch allein die Kraft sich zu vollenden; das verste-hen so wenig Menschen, die doch lehren und wirken wollen“ (Goethe: FA,Bd. 9, 932–933). – Während ein humanistisch-individualistisches Ideal der har-monisch ausgebildeten Persönlichkeit in seinem RomanWilhelm Meisters Lehr-jahreals Zielvorstellung dominiert, ändert Goethe das Grundkonzept für denspäteren RomanWilhelm Meisters Wanderjahreangesichts der sozioökonomi-schen Folgen der beginnenden Industrialisierung nachhaltig, und zwar zu-gunsten eines gesellschaftlich orientierten, arbeitsteilig organisierten Gemein-schaftsprojekts, das auf den Nutzen zielt. Vgl. dazu NK 299, 3–9.342, 17Benvenuto Cellini’s Vater]Benvenuto Cellini wurde im Jahre 1500 inFlorenz geboren und war von 1545 bis zu seinem Tod 1571 in Florenz als Gold-schmied und Bildhauer tätig, nachdem er zuvor Lehr- und Studienjahre in Flo-renz, Pisa, Lucca und Rom verbracht hatte. Am Hof der Päpste in Rom fandBenvenuto Cellini, der heutzutage als berühmter Vertreter des Manierismusund als ein typischer ‚uomo universale‘ der Renaissance gilt, hochgestellteAuftraggeber und Mäzene, die für seine künstlerische Existenz von großer Be-deutung waren. Als Cellinis Hauptwerk gilt die von ihm 1555 vollendete Statuedes Perseus. Sein ereignisreiches und zugleich wechselvolles Leben, zu demzahlreiche Reisen, ausgeprägte Konflikte auch mit seinen Auftraggebern undsogar mehrere Kerkeraufenthalte gehörten, stellt er in seiner zwischen 1558und 1566 entstandenen, aber von ihm selbst nicht veröffentlichten Autobiogra-phie (Vita) dar, die erst 1728 publiziert und später durch Goethes Übersetzung(1803) bekannt wurde. Außergewöhnlich ist, dass Cellinis Karriere als Künstlerbis zum Alter von nahezu sechzig Jahren von einer kriminellen Laufbahn be-gleitet wurde, die auch Gewalttaten und Kapitalverbrechen wie Mord ein-schloss. – In der vorliegenden Passage nimmt N. auf eine Episode von Benve-nuto CellinisVitaBezug, die dieser im 2. Kapitel des Ersten Buches seinerAutobiographie darstellt: Hier schildert er die vergeblichen Bemühungen sei-nes musikbegeisterten Vaters, aus ihm einen großen Musiker zu machen. Ge-gen seinen Vater setzte Benvenuto Cellini bereits in jugendlichem Alter seinen
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 342–34471Berufswunsch durch, bildender Künstler zu werden. Vgl. dazu Goethes Über-setzung dieser Autobiographie:Leben des Benvenuto Cellini(vgl. Goethe: FA,Bd. 11, 1998). – Auch Schopenhauer erwähnt Benvenuto Cellini in derWeltals Wille und Vorstellung, und zwar im Zusammenhang mit den wechselndenEinstellungen gegenüber dem Willen zum Leben, die jeweils von konkretenSituationen abhängig sind (WWV I, § 68, Hü 467). Außerdem weist Schopen-hauer auf die Biographie „das Leben des Benvenuto Cellini“ in der „Bibliotecade’ Classici Italiani (Milano 1804 [...])“ hin (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 569).342, 25–27Aber wo finden wir überhaupt die harmonische Ganzheit und denvielstimmigen Zusammenklang in Einer Natur]Das pädagogische Ideal der all-seitigen harmonischen Ausbildung aller Kräfte entspricht Herders Humanitäts-schriften und zentralen Aspekten von Schillers theoretischen Abhandlungen.Vgl. dazu NK 342, 6–14.343, 4–8vielmehr wäre die Aufgabe seiner Erziehung, [...] den ganzen Men-schen zu einem lebendig bewegten Sonnen- und Planetensysteme umzubildenund das Gesetz seiner höheren Mechanik zu erkennen.]Indem N. sein Bildungs-ideal mit kosmologischer Metaphorik beschreibt, transponiert er das pädagogi-sche Ideal einer ganzheitlichen Persönlichkeitsausbildung auf eine Metaebene:Individuum und Weltall, Anthropologie und Kosmologie erscheinen im Medi-um einer gleichnisartigen Konstellation harmonisch vermittelt. Vgl. auchNK 349, 29–32 und NK 350, 7–8.343, 28Sammelsurium von verschrobenen Köpfen]Zur Verschrobenheit des Ge-lehrten vgl. mehrere Belege in UB III SE (344, 407–408). In SchopenhauersSchriftUeber die Universitäts-Philosophiefinden sich ähnliche Formulierun-gen: „Sind nicht unzählige Köpfe der gegenwärtigen Gelehrtengeneration [...]verschroben und verdorben?“ (PP I, Hü 177). „Daraus erwächst denn so eineGeneration impotenter, verschrobener [...] Köpfe“ (PP I, Hü 179).344, 8der ökonomische Lehrsatz des laisser faire]Bei der Maxime ‚Laisser fai-re‘ handelt es sich um das Prinzip des Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhun-dert. Diesem Konzept zufolge entwickelt sich eine freie Wirtschaft nach denGesetzmäßigkeiten des Marktes, d. h. am besten ohne staatliche Lenkung undIntervention. Als Schlagwort fand der Grundsatz des Laisser faire weite Ver-breitung; er wurde aus der ökonomischen Sphäre auf den Bereich der Erzie-hung und Bildung übertragen. N. reflektiert hier primär die pädagogisch-mora-lische Version des Laisser faire und bewertet sie kritisch: Durch den Primatdes Quantitätskriteriums in Strategien enthemmter Maximierung „nach demGrundsatze ‚je mehr desto besser‘“ (344, 6) wird die Entwicklung von Individu-en und Kulturgemeinschaften ebenso gefährdet wie durch die Indifferenz eines
72Schopenhauer als Erzieherbloßen Laisser faire. N. reflektiert vor diesem Hintergrund auch die Problema-tik der Sozialisation des Wissenschaftlers auf Kosten der Menschlichkeit undhält eine „höhere Maxime der Erziehung“ (344, 5) für unentbehrlich. Zur Mise-re der zeitgenössischen Gelehrtengeneration vgl. Schopenhauer (PP I, Hü 177–179) und das Kapitel III.4 im Überblickskommentar.344, 22–23die Wissenschaft, also ein unmenschliches Abstractum]Eine unper-sönliche Sozialisation des einzelnen durch die Institution der Wissenschafthält N. für problematisch, weil sie den Gelehrten als Menschen verkümmernlasse. Nach seiner Überzeugung ist die Gestaltung einer lebendigen Kultur al-lein durch die Orientierung an „sittlichen Vorbilder[n]“ möglich. In diesemKontext sieht N. Schopenhauer als paradigmatischen Erzieher.344, 31–34man zehrt thatsächlich an dem ererbten Capital von Sittlichkeit, wel-ches unsre Vorfahren aufhäuften und welches wir nicht zu mehren, sondern nurzu verschwenden verstehen]Hier erweitert N. seine kritische Kulturdiagnose,indem er sie auf die zeitgenössische Epigonenproblematik bezieht, die seit den1830er Jahren zum kulturkritischen Repertoire gehörte. Dabei transferiert erden ästhetisch akzentuierten Epigonenbegriff in die ethische Sphäre. – Dermoderne, pejorativ gefärbte Begriff des Epigonen entstand am Ende der Goe-thezeit; er bezeichnet den durch einen Mangel an Originalität gekennzeichne-ten unschöpferischen Nachahmer, der sich eklektizistisch an ‚klassischen‘Vorbildern orientiert, zugleich aber an deren Übergröße leidet. TraditionellenDenkschemata verhaftet, gelangt der Epigone weder zu eigenständigen künst-lerischen Ausdrucksformen noch zu einer kritisch-konstruktiven Auseinander-setzung mit der jeweils aktuellen Zeitsituation.Autoren wie Grillparzer, Keller, Stifter und Fontane reflektierten die Epigo-nenproblematik in theoretischen Texten und in fiktionalen Werken (vgl. Ney-meyr 2004). Schon Immermann hatte den Begriff des Epigonen, der auf dasaltgriechische Wort ‚epigonos‘ (ἐπίγονος) zurückgeht und wertneutral den Sohnoder Nachkommen bezeichnet, aus dem genealogischen Bedeutungshorizont indie geistig-künstlerische Sphäre übertragen. Die eigene Generation betrachtetKarl Immermann als epigonal, weil sie sich auf eine unkreative Nachahmungder geistigen Vorfahren in der Epoche der Klassik und Romantik beschränke.In seinem RomanDie Epigonen(1836) lässt er eine Figur das Epigonen-Elendfolgendermaßen diagnostizieren: „Die große Bewegung im Reiche des Geistes,welche unsre Väter [...] unternahmen, hat uns eine Menge von Schätzen zuge-führt [...]. Aber es geht mit geborgten Ideen, wie mit geborgtem Gelde, wer mitfremdem Gut leichtfertig wirtschaftet, wird immer ärmer“ (Immermann: Werkein fünf Bänden, Bd. 2, 1971, 121, 122). Wie N. in UB III SE betont bereits Immer-manns Romanfigur mithilfe ökonomischer Metaphorik den Mangel an Solidität,
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 344–34573den Verlust genuiner Substanz, der epigonale Schattenexistenzen entstehenlässt. – Im Jahre 1847 diagnostiziert der Schriftsteller und Literaturhistoriker Ro-bert Prutz die Epigonenproblematik. In seinenVorlesungen über die deutscheLiteratur der Gegenwartspricht er von „Epigonen“, „welche die Erbschaft ihrergroßen Vorfahren weder zu erhalten wissen, noch wissen sie dieselbe zu entbeh-ren! die nicht leben könnten ohne die Größe und den Ruhm ihrer Vorgänger“,von denen sie sich zugleich „erdrückt fühlen“ (Prutz 1975, 248).In UB II HL kritisiert N. den „lähmende[n]“ Glauben, „ein Spätling der Zei-ten zu sein“ (KSA 1, 308, 12), und empfiehlt anstelle epigonaler Retrospektiveeinen „vorwärts“ gerichteten Blick: „Formt in euch ein Bild, dem die Zukunftentsprechen soll, und vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein“ (KSA 1,295, 6–7). Trotz der problematischen Folgen einer historisierenden Bildungs-kultur deutet N. die Situation der „Erben und Nachkommen klassischer understaunlicher Mächte“ sogar positiv (KSA 1, 307, 21–22): als Stimulans, um demGeist einer „neuen Zeit“ den Boden zu bereiten, in der „wirklich etwas Neues,Mächtiges, Lebenverheissendes und Ursprüngliches ist“ (KSA 1, 306, 11–13).Symptomatisch erscheint auch die psychologisch pointierte Kulturdiagnose,die N. in UB I DS entwirft: Hier kritisiert er diejenigen, die „den Begriff desEpigonen-Zeitalters“ benutzen, „nur um Ruhe zu haben und bei allem unbe-quemen Neueren sofort mit dem ablehnenden Verdikt ‚Epigonenwerk‘ bereitsein zu können“ – aus Hass gegen „den dominirenden Genius und die Tyranniswirklicher Kulturforderungen“ (KSA 1, 169, 15–31).345, 1–2mit einer naturalistischen Ungeübtheit und Unerfahrenheit]Im vorlie-genden Kontext kritisiert N. einen unbefriedigenden Reduktionismus in denempiristischen Konzepten der Naturalisten, die moralischen Wertungskriteriennicht gerecht werden und ein angemessenes „Nachdenken über sittliche Fra-gen“ (344, 28) nicht zu fördern vermögen. – Beim Naturalismus handelt es sichum ein sehr facettenreiches Phänomen in der Philosophie, Literatur und Kunstseit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entscheidende programmatischeImpulse für den Naturalismus gingen von Taine aus, der etwa ab 1853 einenParadigmenwechsel für die Geisteswissenschaften propagierte: Ausgehend voneiner durchgehenden Kausalverkettung alles Realen, sollten sie sich ebenfallsan naturwissenschaftlichen Prinzipien und Methoden orientieren, mithin demIdeal einer wertfreien Deskription folgen und kausale Erklärungen bieten. Cha-rakteristisch für naturalistische Tendenzen in der Philosophie ist eine Bevorzu-gung realistischer Ansätze gegenüber idealistischen Konzepten, die Ausrich-tung an naturwissenschaftlichen Methoden und positivistischen Prämissensowie eine entschiedene Abkehr von metaphysischen, religiösen und mysti-schen Weltdeutungen. In diesem Sinne bestimmt eine naturalistische Argu-mentation die Religionskritik Feuerbachs. Und durch Darwins Evolutionstheo-
74Schopenhauer als Erzieherrie wurde ein naturalistisches Menschenbild popularisiert. Zu den LehrenDarwins vgl. NK 194, 24–26. Zu N.s Darwin-Rezeption vgl. Stegmaier 1987, 264–287 und Sommer 2012b, 223–240. Zum Darwinismus-Diskurs im 19. Jahrhundertgenerell vgl. die umfassende Darstellung von Bayertz/Gerhard/Jaeschke, Bd. 2,2007.In der bildenden Kunst entwickelte sich der Naturalismus etwa ab 1850, inder Literatur erreichte er seinen Höhepunkt hingegen erst in den 1880er und1890er Jahren. Die naturalistischen Strömungen, die in der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts zunächst insbesondere von Autoren in Frankreich, Skandina-vien und Russland initiiert wurden (etwa von Zola und den Brüdern de Gon-court sowie von Ibsen und Tolstoi), propagierten eine präzise Darstellung derWirklichkeit, vor allem die genaue literarische Gestaltung sozialer Milieus. ImNaturalismus versuchten sich die Autoren auch in der Literatur an experimen-tellen, induktiven Methoden der Naturwissenschaften zu orientieren, um sozi-alpsychologische Mechanismen aufzudecken und dadurch zugleich Gesell-schaftskritik zu üben. In der deutschen Literatur gilt dies in besonderem Maßefür die sozialen Dramen Gerhart Hauptmanns (vgl. z. B. sein DramaVor Sonnen-aufgang). Unter Verzicht auf jedwede metaphysische Deutung wollten die Na-turalisten das real Gegebene mithilfe positivistischer Verfahren auf seine histo-rischen, biologischen und soziologischen Ursachen hin analysieren. Dabeiverbanden sie ihren Anspruch auf detailgetreue Mimesis der Realität mit einemausgeprägten sozialkritischen Engagement.345, 15–16die antiken Moralsysteme und die in allen gleichmässig waltendeNatürlichkeit]N.s Formulierung lässt offen, welche Moralsysteme der Antike erkonkret im Sinn hat, wenn er christliche Ideale mit der „antiken Tugend“ (345,20) konkurrieren sieht, so dass der moderne Mensch unschlüssig, friedlos undresignativ zwischen beiden Optionen changiert. Vor allem die von Zenon vonKition begründete Philosophie der Stoiker, die in der Antike zu den einfluss-reichsten Philosophenschulen zählte und eine facettenreiche Wirkungsge-schichte bis in die Moderne aufweist, propagiert ein ‚naturgemäßes Leben‘:durch die Maxime ‚secundum naturam vivere‘. Zur stoischen Tradition und ih-ren vielfältigen Transformationen vgl. das zweibändige WerkStoizismus in dereuropäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte vonder Antike bis zur Moderne(Hg. Neymeyr/Schmidt/Zimmermann 2008a). – AlsTherapeutikum gegen die Wechselfälle des Lebens, vor allem gegen Schmerzund Tod, empfahlen die Stoiker eine Haltung der Ataraxia, mithin der Uner-schütterlichkeit der Seele, die der Mensch durch vernunftgeleitete Selbstbe-herrschung erringen soll. Der Maxime eines ‚naturgemäßen Lebens‘ entsprichtdieses Konzept aufgrund der stoischen Prämissen: Denn die Stoiker hieltenden Logos für das dynamische Ordnungsprinzip, das die gesamte Natur durch-
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 345–34675waltet. Der von N. in UB III SE entfaltete Anspruch auf individuelle Selbstver-vollkommnung korrespondiert im Grundansatz auch mit stoischen Autonomie-Vorstellungen und wirkt in UB IV WB dann in der Auffassung weiter, dass „derunfreie Mensch eine Schande der Natur ist“ und „dass Jeder, der frei werdenwill, es durch sich selber werden muss“ (KSA 1, 506, 33 – 507, 2).Dass N. in UB IV WB jedoch bereits eine deutliche Reserve gegenüber demstoischen Ideal der Apatheia und den auf Affektbeherrschung zielenden Postu-laten der Stoiker erkennen lässt, erklärt sich auch durch seine Begeisterungfür die Musik Richard Wagners, der er „Leidenschaft“ als Ausdruck authenti-scher „Natur“ zuspricht (vgl. KSA 1, 491, 9 – 495, 8). Daher behauptet N. inUB IV WB, „dass die Leidenschaft besser ist, als der Stoicismus und die Heu-chelei“ (KSA 1, 506, 29–30). Später kritisiert er in derFröhlichen Wissenschaftund inJenseits von Gut und Bösedie Glückssuggestionen stoischer Moralpredi-ger, die „Recepte“ gegen Leidenschaften aller Art formulieren (KSA 5, 118, 1–6). Aus der Empfehlung von „Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen diehitzige Narrheit der Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten“(KSA 5, 118, 20–22), sieht N. eine „beständige Reizbarkeit bei allen natürlichenRegungen und Neigungen“ hervorgehen (KSA 3, 543, 17–18). Daher befürchteter seelische Verarmung und eine Reduktion der natürlichen Erlebnisfähigkeitdurch stoische Selbstdisziplinierung (vgl. dazu KSA 3, 543, 22–24). In diesemSinne konstatiert N. zuvor bereits inMenschliches, Allzumenschliches II:Diestoische Erstarrung „verkehrt endlich die Natur“ (KSA 2, 471, 4). Und inJen-seits von Gut und Bösehinterfragt N. das stoische Prinzip eines ‚naturgemäßenLebens‘ in einer mehrgliedrigen subversiven Argumentation (KSA 5, 21, 25 –22, 28). Vgl. auch NK 261, 11–18. – Zu N.s Ambivalenzen gegenüber dem Stoi-zismus vgl. Neymeyr 2008c, Bd. 2, 1165–1198 und 2009a, 65–92. Vgl. außerdemNK 351, 2–5, NK 375, 9–10 und NK 506, 29 – 507, 3.346, 12–14einfach und ehrlich, im Denken und Leben, also unzeitgemässzu sein, das Wort im tiefsten Verstande genommen]Der ursprünglich tendenziellpejorative (bestenfalls neutrale) Begriff ‚unzeitgemäß‘ wird hier von N. um-gewertet und mit positiver Bedeutung ausgestattet. Indem er Schopenhauerdie Qualitäten Einfachheit und Ehrlichkeit attestiert, stellt er ihn als unzeit-gemäßen Antipoden moderner Kompliziertheit und Unehrlichkeit dar. Wenigspäter hebt N. den Anspruch auf „Wahrheit und Ehrlichkeit“ als Spezifikumder „Einsamen und Freien im Geiste“ hervor (354, 13–15). Vgl. dazu NK 354,13–16. Dabei greift er zugleich auf Einschätzungen Schopenhauers zurück, derwiederholt über die Relation zwischen Mitwelt und Nachwelt reflektiert und inderWelt als Wille und Vorstellung Ischreibt: „Man lese die Klagen großer Geis-ter, aus jedem Jahrhundert, über ihre Zeitgenossen: stets lauten sie wie vonheute; weil das Geschlecht immer das selbe ist“ (WWV I, § 49, Hü 279). – Im
76Schopenhauer als ErzieherKapitel 20 „Ueber Urtheil, Kritik, Beifall und Ruhm“ derParerga und Paralipo-mena IIantizipiert Schopenhauer sogar bereits N.s Postulat der ‚Unzeitgemäß-heit‘ (346, 13; 361, 9–14), wenn er behauptet: „um etwas Großes zu leisten,etwas, das seine Generation und sein Jahrhundert überlebt“, sei es „eineHauptbedingung, daß man seine Zeitgenossen, nebst ihren Meinungen, An-sichten und daraus entspringendem Tadel und Lobe, für gar nichts achte“,weil sie „vom rechten Wege abführen. Daher muß, wer auf die Nachwelt kom-men will, sich dem Einflusse seiner Zeit entziehn, dafür aber freilich auchmeistens dem Einfluß auf seine Zeit entsagen und bereit seyn, den Ruhm derJahrhunderte mit dem Beifall der Zeitgenossen zu erkaufen“ (PP II, Kap. 20,§ 242, Hü 503). In diesem Sinne werde „die Reise zur Nachwelt durch eine ent-setzlich öde Gegend zurückgelegt“ (PP II, Kap. 20, § 242, Hü 505). Hingegenseien „die Werke gewöhnlichen Schlages [...] mit dem Geiste der Zeit, d. h. dengerade herrschenden Ansichten, genau verbunden und auf das Bedürfniß desAugenblicks berechnet“, so dass sie rasch Anerkennung finden (PP II, Kap. 20,§ 242, Hü 504). Vgl. auch NK 407, 29–31 und NK 364, 7–11.In seinem späteren WerkDie fröhliche Wissenschaftgreift N. im Text 99unter dem Titel „DieAnhänger Schopenhauer’s“einerseits affirmativauf positive Charakteristika Schopenhauers zurück, die er bereits in UB III SEhervorgehoben hat, ergänzt sie andererseits aber um kritische Überlegungen.So stellt er sich die Frage, was die deutschen „AnhängerSchopenhauer’s“von „ihrem Meister zuerst anzunehmen“ pflegen und erwägt mehrere möglicheAntworten: „Ist es sein harter Thatsachen-Sinn, sein guter Wille zu Helligkeitund Vernunft [...]? Oder die Stärke seines intellectuellen Gewissens, das einenlebenslangen Widerspruch zwischen Sein und Wollenaushieltundihndazuzwang, sich auch in seinen Schriften beständig und fast in jedem Puncte zuwidersprechen? Oder seine Reinlichkeit in Dingen der Kirche und des christli-chen Gottes?“ (KSA 3, 453, 22 – 454, 1). Und nachdem N. zusätzlich noch meh-rere zentrale „Lehren“ Schopenhauers in Betracht gezogen hat, lautet sein Fa-zit: „Nein, diess Alles bezaubert nicht [...]: aber die mystischen Verlegenheitenund Ausflüchte Schopenhauer’s, an jenen Stellen, wo der Thatsachen-Denkersich vom eitlen Triebe, der Enträthseler der Welt zu sein, verführen und verder-ben liess, die unbeweisbare Lehre vonEinem Willen[...], dieLeugnungdes Individuums[...], die Schwärmerei vomGenie[...], der Unsinn vomMitleide[...]alsderQuelle aller Moralität: diese und ähnlicheAusschwei-fungen undLaster des Philosophen werden immer am ersten angenommenund zur Sache des Glaubens gemacht“; weil sie „immer am leichtesten nachzu-ahmen“ sind (KSA 3, 454, 6 – 455, 1). In dieser Darstellung relativiert N. diezunächst von ihm betonte Ehrlichkeit und intellektuelle Redlichkeit Schopen-hauers, und zwar durch den Hinweis auf eine durch Geltungsbedürfnis beding-
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 34677te Korrumpierung, die er als „Laster des Philosophen“ betrachtet, aber zu-gleich auch für die Ursache seiner Breitenwirkung hält.346, 20Ich gehöre zu den Lesern Schopenhauers]Durch seine Schopenhauer-Lektüre folgte N. dem Ratschlag des Philosophen selbst, der in der Vorrede zur2. Auflage derWelt als Wille und Vorstellung Izu dem „heillosen Irrthum“ Stel-lung nimmt, man „könne Kants Philosophie aus den Darstellungen Andererdavon kennen lernen“, und dezidiert erklärt: „Die Kantische Lehre also wirdman vergeblich irgend wo anders suchen, als in Kants eigenen Werken [...]. InFolge seiner Originalität gilt von ihm im höchsten Grade was eigentlich vonallen ächten Philosophen gilt: nur aus ihren eigenen Schriften lernt man siekennen; nicht aus den Berichten Anderer“ (WWV I, Hü XXV). Und in seinerSchriftUeber die Universitäts-Philosophiebetont Schopenhauer generalisie-rend, „die eigentliche Bekanntschaft mit den Philosophen“ ermögliche alleindie Lektüre ihrer Werke, die sich durch philosophiegeschichtliche Darstellun-gen keineswegs substituieren lasse (PP I, Hü 208). In diesem Sinne distanziertsich N. in UB III SE ebenfalls von der Haltung des Lesers, der „zwischen sichund die Dinge Begriffe, Meinungen, Vergangenheiten, Bücher treten lässt“(410, 3–4). Vgl. auch NK 410, 3–5.346, 23–25Mein Vertrauen zu ihm war sofort da und ist jetzt noch dasselbe wievor neun Jahren. Ich verstand ihn als ob er für mich geschrieben hätte]N. hattedas Werk Schopenhauers bereits im Jahre 1865 kennengelernt, also neun Jahrevor der Publikation von UB III SE im Jahre 1874. In einem Nachlass-Notat des-selben Jahres gesteht N. allerdings: „Ich bin fern davon zu glauben, dass ichSchopenhauer richtig verstanden habe, sondern nur mich selber habe ichdurch Schopenhauer ein weniges besser verstehen gelernt; das ist es, weshalbich ihm die grösste Dankbarkeit schuldig bin“; dann erklärt er, es sei ihm„nicht so wichtig [...], dass bei irgend einem Philosophen genau ergründet undan’s Licht gebracht werde, was er eigentlich im strengsten Wortverstande ge-lehrt habe“ (NL 1874, 34 [13], KSA 7, 795–796). Diese Aussagen dokumentierenden hohen Stellenwert einer identifikatorischen Schopenhauer-Lektüre für N.,dem die Vorbildfunktion des authentischen Beispiels in seiner Frühphase vielbedeutete. In diesem Sinne erklärt N. in UB III SE prononciert: „Ich mache miraus einem Philosophen gerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu ge-ben“ (350, 23–24).346, 26–28Daher kommt es, dass ich nie in ihm eine Paradoxie gefunden habe,obwohl hier und da einen kleinen Irrthum]Das positive, mitunter enthusiasti-sche Schopenhauer-Bild, das auch etliche Briefe N.s belegen, hatte sich kaummehr als zwei Jahre nach der Publikation von UB III SE bereits deutlich verän-dert. So fragt er Cosima Wagner am 19. Dezember 1876: „werden Sie sich wun-
78Schopenhauer als Erzieherdern, wenn ich Ihnen eine allmählich entstandene, mir fast plötzlich in’s Be-wußtsein getretene Differenz mit Schopenhauer’s Lehre eingestehe? Ich stehefast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite; schon als ich über Sch.schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lagalles amMenschen“(KSB 5, Nr. 581, S. 210). Gerade die Reflexionen überden „Schopenhauerischen Menschen“ (371, 20) richtet N. dann allerdings baldgegen seinen einstigen ‚Erzieher‘: „DerSchopenhauersche Menschtriebmich zur Skepsis gegen alles Verehrte Hochgehaltene, bisher Vertheidigte(auch gegen Griechen Schopenhauer Wagner) Genie Heilige – Pessimismus derErkenntniss“ (NL 1878, 27 [80], KSA 8, 500). In einem Kapitel derGötzen-Däm-merungmit dem symptomatischen Titel „Streifzüge eines Unzeitgemässen“ po-lemisiert N. sogar heftig gegen Schopenhauer, indem er ihm „die grösste psy-chologische Falschmünzerei“ unterstellt, weil er die „Exuberanz-Formen desLebens“ wie Kunst, Heroismus, Schönheit, Erkenntnis, Wahrheitsstreben undTragödie auf eine ‚Verneinung des Willens‘ zurückgeführt habe (KSA 6, 125, 9–15). Vgl. ergänzend das heterogene Spektrum von Selbstaussagen N.s in KapitelIII.3 des Überblickskommentars.346, 31 – 347, 5Schopenhauer will nie scheinen: denn er schreibt für sich, undniemand will gern betrogen werden, am wenigsten ein Philosoph, der sich sogarzum Gesetze macht: betrüge niemanden, nicht einmal dich selbst! Selbst nichtmit dem gefälligen gesellschaftlichen Betrug, den fast jede Unterhaltung mit sichbringt und welchen die Schriftsteller beinahe unbewusst nachahmen; noch weni-ger mit dem bewussteren Betrug von der Rednerbühne herab und mit den künstli-chen Mitteln der Rhetorik.]Im Kontext dieser Aussage bringt N. Redlichkeit,Wahrheitsethos und Authentizität mit der von Schopenhauer als eine Art von‚Selbstgespräch‘ (347, 5–6) verstandenen Philosophie in Verbindung. In seinerSchriftUeber die Universitäts-Philosophieerklärt Schopenhauer in einer Fußno-te dezidiert: „Ich habe dieWahrheitgesucht, und nicht eine Professur“ (PP I,Hü 151–152). Im Text 99 derFröhlichen Wissenschaftvollzieht N. teilweise einenachträgliche Relativierung der intellektuellen Redlichkeit als charakterlicherQualität Schopenhauers: vgl. dazu NK 346, 12–14.Im Kapitel 23 „Ueber Schriftstellerei und Stil“ derParerga und Paralipo-mena IIunterscheidet Schopenhauer „zweierlei Schriftsteller: solche, die derSache wegen, und solche, die des Schreibens wegen schreiben. Jene habenGedanken gehabt, oder Erfahrungen gemacht, die ihnen mittheilenswerthscheinen; Diese brauchen Geld [...]. Sie denken zum Behuf des Schreibens.Man erkennt sie daran, daß sie ihre Gedanken möglichst lang ausspinnenund auch halbwahre, schiefe, forcirte und schwankende Gedanken ausfüh-ren, auch meistens das Helldunkel lieben, um zu scheinen was sie nicht sind;weshalb ihrem Schreiben Bestimmtheit und volle Deutlichkeit abgeht“ (PP II,
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 34679Kap. 23, § 272, Hü 532). Laut Schopenhauer gilt dies für literarische und philo-sophische Autoren gleichermaßen. Im Kapitel 21 „Ueber Gelehrsamkeit undGelehrte“ derParerga und Paralipomena IIschreibt Schopenhauer über dieIllusion, „das so große Gedränge von Schülern und Meistern“ signalisiere,„daß es dem Menschengeschlechte gar sehr um Einsicht und Wahrheit zuthun sei“; seines Erachtens „trügt der Schein. Jene lehren, um Geld zu verdie-nen und streben nicht nach Weisheit, sondern nach dem Schein und Kreditderselben: und Diese lernen nicht, um Kenntniß und Einsicht zu erlangen,sondern um schwätzen zu können und sich ein Ansehn zu geben“ (PP II,Kap. 21, § 244, Hü 509).Den Begriff der ‚Rhetorik‘, die Techniken zur elaborierten und überzeugen-den Formulierung von Erkenntnissen, Ansichten und Appellen bereitstellt, ver-wendet N. im vorliegenden Kontext pejorativ, wenn er von den „künstlichenMitteln der Rhetorik“ spricht. Denn er sieht mit der Rhetorik auch die Gefahrverbunden, dass ihre Praktiken in den Dienst einer suggestiven oder sogardemagogischen Beeinflussung der Adressaten gestellt werden. Demgegenübererblickt N. das spezifische Charakteristikum von Schopenhauers Schreibweisegerade darin, dass er „das Tiefsinnige einfach, das Ergreifende ohne Rhetorik“zu sagen vermag (347, 31–32). Dabei folgt N. dem Stilideal Schopenhauers (vgl.dazu NK 347, 31–32).Im Kontext dieser Aussage erklärt Schopenhauer, „jeder Mediokre“ suche„seinen, ihm eigenen und natürlichen Stil zu maskiren. Dies nöthigt ihn zu-nächst, auf alleNaivetätzuverzichten; wodurch diese das Vorrecht der über-legenen und sich selbst fühlenden, daher mit Sicherheit auftretenden Geisterbleibt. Jene Alltagsköpfe nämlich können schlechterdings sich nicht entschlie-ßen, zu schreiben, wie sie denken; weil ihnen ahndet, daß alsdann das Dingein gar einfältiges Ansehn erhalten könnte“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 548). Undin derWelt als Wille und Vorstellung Ierklärt Schopenhauer: So „wird jederschöne und gedankenreiche Geist sich immer auf die natürlichste, unumwun-denste, einfachste Weise ausdrücken, [...] umgekehrt nun aber wird Geistesar-muth, Verworrenheit, Verschrobenheit sich in die gesuchtesten Ausdrücke unddunkelsten Redensarten kleiden, um so in schwierige und pomphafte Phrasenkleine, winzige, nüchterne, oder alltägliche Gedanken zu verhüllen“ (WWV I,§ 47, Hü 270–271). Vgl. auch die Belege in NK 347, 31–32.Obwohl N. im vorliegenden Kontext deutliche Vorbehalte gegenüber derRhetorik zum Ausdruck bringt, kultiviert er beim Schreiben selbst einen rheto-risch geprägten Stil. Nachdem seine Tragödienschrift in der altphilologischenFachwelt sehr kritisch rezipiert worden war, versuchte N. fortan mithilfe rheto-rischer Stilisierung besondere Publikumswirksamkeit zu erlangen und studier-te zu diesem Zweck sowohl traditionelle Rhetoriken (Aristoteles, Cicero, Quinti-
80Schopenhauer als Erzieherlian) als auch zeitgenössische Rhetorik-Lehrbücher von Richard Volkmann, dieer für seine eigenen Rhetorik-Vorlesungen an der Universität Basel nutzte,nämlichHermagoras oder Elemente der Rhetorik(1865) undDie Rhetorik derGriechen und Römer in systematischer Übersicht(1872). – Zu den rhetorischenStrategien, mit denen N. in UB II HL Pathos erzeugen wollte, gehört der Rück-griff auf eine Vielzahl von rhetorischen Figuren (vgl. in UB II HL z. B. KSA 1,252, 34 – 253, 9 sowie KSA 1, 277–278). Mit auffallender Häufigkeit verwendetN. insbesondere Wiederholungs-, Häufungs-, Erweiterungs- und Steigerungsfi-guren (Iteratio, Accumulatio, Amplificatio und Anaphern) sowie ausdrucks-starke Metaphern. Vgl. dazu exemplarisch NK 1/2, 294–298.347, 25höfische Anmuth der guten französischen Schriftsteller]Hier kontrastiertN. bereits Eleganz und Esprit der Franzosen mit dem „Schwer- und Tiefsinn“der Deutschen (391). Diese Opposition vertieft er im 6. Kapitel von UB III SE,um sie dann ganz auf Kosten der Franzosen zu radikalisieren. Der Wechsel vonneutraler zu pejorativer Charakterisierung klingt in dem Verb „verschmähen“(347, 26) bereits an, wenn N. die Ansicht vertritt, dass „Schopenhauer’s rauheund ein wenig bärenmässige Seele die Geschmeidigkeit und höfische Anmuthder guten französischen Schriftsteller nicht sowohl vermissen als verschmä-hen“ lehre (347, 23–26). Anschließend polemisiert er dann sogar gegen Imitati-onsversuche deutscher Autoren, die sich auf das „nachgemachte gleichsamübersilberte Scheinfranzosenthum [...] so viel zu Gute thun“ (347, 27–28). Damitschließt N. tendenziell auch an literarische Debatten der Sturm-und-Drang-Epoche an: So wendete sich etwa Jakob Michael Reinhold Lenz 1774 in seinerdramentheoretischen SchriftAnmerkungen übers Theaterdezidiert gegen dieNormen der AristotelischenPoetikund gegen die Autoren des französischenKlassizismus, die sich strikt an den Prinzipien derPoetikorientierten; im Sturmund Drang avancierte Shakespeare nicht nur für Lenz, sondern auch für Goethezum paradigmatischen Vorbild. – Zu den Kontroversen der Realisten und Idea-listen (Goethe, Lenz, Büchner versus Aristoteles, Winckelmann, Schiller) vgl.Neymeyr 2012a, 198–220.347, 29–30Schopenhauers Ausdruck erinnert mich hier und da ein wenig anGoethe, sonst aber überhaupt nicht an deutsche Muster.]Eine aufschlussreicheVariante hierzu bietet die Reinschrift, die als Vorlage des Druckmanuskriptsfungierte: „an die Engländer mehr als an irgend welche“ (KSA 14, 75).347, 31–32das Tiefsinnige einfach, das Ergreifende ohne Rhetorik, das Streng-Wissenschaftliche ohne Pedanterie zu sagen]Indem N. Schopenhauers Schreib-weise auf diese Weise charakterisiert, folgt er zugleich dessen Stilideal. Im Ka-pitel 23 „Ueber Schriftstellerei und Stil“ derParerga und Paralipomena IIbe-zeichnet Schopenhauer den Stil als „die Physiognomie des Geistes“ (PP II,
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 34781Kap. 23, § 282, Hü 547). Hier kontrastiert er „das Prägnante“ mit dem Prätentiö-sen, „Platte[n] und Seichte[n]“ (PP II, Kap. 23, § 273, Hü 535) und erklärt expli-zit, es sei „ein Lob, wenn man einen Autornaivnennt; indem es besagt, daßer sich zeigen darf, wie er ist. [...] Auch sehn wir jeden wirklichen Denker be-müht, seine Gedanken so rein, deutlich, sicher und kurz, wie nur möglich,auszusprechen. Demgemäß ist Simplicität stets ein Merkmal, nicht allein derWahrheit, sondern auch des Genies gewesen. [...] Ist doch der Stil der bloßeSchattenriß des Gedankens: undeutlich, oder schlecht schreiben, heißt dumpf,oder konfus denken“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 550).Am Anfang dieses Kapitels statuiert Schopenhauer: „jeder Schriftstellerwird schlecht, sobald er irgend des Gewinnes wegen schreibt“ (PP II, Kap. 23,§ 272, Hü 532). Die pragmatischen Autoren, die ökonomische Interessen verfol-gen und beim Schreiben primär an den Profit denken, erkennt er an ihrem Stil:an fehlender Deutlichkeit, an redundanter Darstellung und an diffusen oderschiefen Gedanken (PP II, Kap. 23, § 272, Hü 532). Entschieden kritisiert Scho-penhauer das „Bestreben, Worte für Gedanken zu verkaufen“ und mit ihnen„den Schein des Geistes hervorzubringen, um den so schmerzlich gefühltenMangel desselben zu ersetzen“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 549). Er sieht „dieGeistlosigkeit und Langweiligkeit der Schriften der Alltagsköpfe“ dadurch be-dingt, dass ihnen der „Sinn ihrer eigenen Worte“ nicht klar ist: Da „der Präge-stempel“ zu „deutlich ausgeprägten Gedanken“, nämlich „das eigene klareDenken, ihnen abgeht“, produzieren sie bloß „ein unbestimmtes dunkles Wort-gewebe, gangbare Redensarten, abgenutzte Wendungen und Modeausdrücke“(PP II, Kap. 23, § 283, Hü 552–553).Schopenhauers Maxime lautet: „Man brauche gewöhnliche Worte undsage ungewöhnliche Dinge“; bei „deutschen Schriftstellern“ konstatiert er al-lerdings eine problematische Tendenz, „ihre sehr gewöhnlichen Gedanken indie ungewöhnlichsten Ausdrücke, die gesuchtesten, preziösesten und selt-samsten Redensarten zu kleiden. Ihre Sätze schreiten beständig auf Stelzeneinher“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 554). Schopenhauer selbst sieht die Vorliebefür den „Bombast“ und das Wohlgefallen „am hochtrabenden, aufgedunsenen,preziösen, hyperbolischen und aerobatischen Stile“ (PP II, Kap. 23, § 283,Hü 554) sogar als Indiz für den trivialen Denker an: Seines Erachtens erkenntman „am preziösen Stil den Alltagskopf“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 555). Und erstellt fest: „Die Wahrheit ist nackt am schönsten, und der Eindruck, den siemacht, um so tiefer, als ihr Ausdruck einfacher war; theils, weil sie dann dasganze, durch keinen Nebengedanken zerstreute Gemüth des Hörers ungehin-dert einnimmt; theils, weil er fühlt, daß er hier nicht durch rhetorische Künstebestochen, oder getäuscht ist, sondern die ganze Wirkung von der Sache selbstausgeht“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 556).
82Schopenhauer als ErzieherInwiefern Schopenhauer mit seiner Kritik am prätentiösen, künstlich ver-klausulierten oder verschroben-pedantischen Stil mehrere repräsentative Phi-losophen attackiert, erhellt ebenfalls aus dem Kapitel 23 „Ueber Schriftstellereiund Stil“ derParerga und Paralipomena II: „Da sieht man die Schriftstellerbald dithyrambisch, wie besoffen, und bald, ja schon auf der nächsten Seite,hochtrabend, ernst, gründlich-gelehrt, bis zur schwerfälligsten, kleinkauen-desten Weitschweifigkeit, gleich der des weiland Christian Wolf, wiewohl immodernen Gewande. Am längsten aber hält die Maske der Unverständlichkeitvor, jedoch nur in Deutschland, als wo sie, vonFichteeingeführt, vonSchellingvervollkommnet, endlich inHegelihren höchsten Klimax er-reicht hat: stets mit glücklichstem Erfolge. Und doch ist nichts leichter, als sozu schreiben, daß kein Mensch es versteht; wie hingegen nichts schwerer, alsbedeutende Gedanken so auszudrücken, daß Jeder sie verstehn muß. DasUnverständliche ist dem Unverständigenverwandt“ (PP II, Kap. 23,§ 283, Hü 549–550).348, 6–7„ein Philosoph muss sehr ehrlich sein, um sich keiner poetischen oderrhetorischen Hülfsmittel zu bedienen.“]N. zitiert hierAus Arthur Schopenhauer’shandschriftlichem Nachlaß. Abhandlungen, Anmerkungen, Aphorismen undFragmentevon 1864 (NPB 543), 371: „Ein Philosoph muß sehr ehrlich seyn, umsich keiner poetischen oder rhetorischen Hülfsmittel zu bedienen.“ N. hat dieStelle in seinem Handexemplar nicht markiert. – Auch sinngemäß findet sichbereits bei Schopenhauer diese von N. goutierte Auffassung. Die Ehrlichkeitund Redlichkeit, die N. vom Philosophen fordert (347, 348), postuliert Schopen-hauer in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophie(PP I, Hü 202). Undim Kapitel 23 „Ueber Schriftstellerei und Stil“ derParerga und Paralipomena IIwarnt er den Autor „vor dem sichtbaren Bestreben, mehr Geist zeigen zu wol-len, als er hat; weil Dies im Leser den Verdacht erweckt, daß er dessen sehrwenig habe, da man immer und in jeder Art nur Das affektirt, was man nichtwirklich besitzt“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 550). Nach Schopenhauers Überzeu-gung signalisieren gerade „Naivetät“ und„Simplicität“ den Wert eines Au-tors (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 548, 550). Vom heutzutage pejorativen Begriffdes Naiven (im Sinne von einfältig, töricht oder kindisch) unterscheidet sichSchopenhauers positive Vorstellung der Naivität fundamental, die eine natürli-che Schlichtheit und ursprüngliche Klarheit impliziert: „Ueberhaupt zieht dasNaive an: die Unnatur hingegen schreckt überall zurück“ (PP II, Kap. 23, § 283,Hü 550). Daher ringe jeder genuine „Denker“ fortwährend um einen möglichstklaren und prägnanten Stil, der seinen Gedanken einen adäquaten Ausdruckverleihen solle. „Simplicität“ sei mithin ein wesentliches Charakteristikum der„Genies“ (ebd.). „Ein guter, gedankenreicher Schriftsteller“ wird „sich stets aufdie einfachste und entschiedenste Weise ausdrücken; weil ihm daran liegt, ge-
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 34883rade den Gedanken, den er jetzt hat, auch im Leser zu erwecken und keinenandern“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 551). Vgl. auch die Belege in NK 346, 31 –347, 5 und NK 347, 31–32.348, 15Ehrlichkeit]N. attestiert seinem Lehrer Schopenhauer hier und auf denfolgenden Seiten die moralische Qualität, die dieser selbst in seiner SchriftUe-ber die Universitäts-Philosophiefür den seriösen Philosophen postuliert: eine„Redlichkeit“ (PP I, Hü 202, 204), für die sogar Leiden in Kauf genommen wird.Vgl. auch 371, 20–22: „DerSchopenhauerische Mensch nimmt dasfreiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich.“ Ähnlich wie N.(366, 20, 22) kontrastiert auch Schopenhauer in der SchriftUeber die Universi-täts-Philosophie(PP I, Hü 202) ein unbedingtes Wahrheitsethos mit einer prag-matischen, durch andersgeartete Zwecke bedingten Verlogenheit. – Dass N.in UB III SE so dezidiert die charakterlichen Qualitäten Schopenhauers betont,insbesondere „Ehrlichkeit, „Heiterkeit und „Beständigkeit“ (350, 1), ist durchseine am Paradigma der „Philosophen Griechenlands“ (350, 29) ausgerichteteIdealvorstellung des Philosophen bedingt. Infolgedessen schreibt N. dem exis-tentiellen Bezug der Philosophie und der Vorbildfunktion des authentischenBeispiels zentrale Bedeutung zu. Diese Priorität erhellt in UB III SE insbesonde-re aus dem Beginn des 3. Kapitels: „Ich mache mir aus einem Philosophengerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben“ (350, 23–24). DiesePräferenz bestimmt auch ein Nachlass-Notat aus der Entstehungszeit vonUB III SE, in dem N. keineswegs den Anspruch erhebt, „Schopenhauer richtigverstanden“ zu haben; stattdessen betont er die wichtige Funktion, die sein‚Erzieher‘ Schopenhauer als Stimulans für seine eigene Selbsterkenntnis ge-habt habe (NL 1874, 34 [13], KSA 7, 795–796). Bezeichnenderweise akzentuiertN. hier die Strategie zur Selbstfindung durch persönliche Orientierung am phi-losophischen Vorbild, die gerade „für Menschen geeignet“ ist, „welche einePhilosophie für ihr Leben“ suchen (ebd.). Zur partiellen nachträglichen Relati-vierung der intellektuellen Redlichkeit Schopenhauers, die N. in derFröhlichenWissenschaftvollzieht, vgl. NK 346, 12–14.348, 16Montaigne]Michel Eyquem de Montaigne (1533–1592) begründete mitseinenEssais(1580) die Gattung des Essays. Unter ‚Essai‘ verstand er primärein methodisches Experimentieren mit intellektuellen Möglichkeiten. In seinenmeditativen und skeptischenEssais, in deren Zentrum zumeist der reflektieren-de Mensch steht, versucht sich Montaigne seinen Themen durch permanentePerspektivenwechsel ohne ein konkret vorgegebenes Erkenntnisziel prozessualzu nähern. Auf diese Weise will er die Leser zu eigenem Nachdenken anregen,statt sie moraldidaktisch zu belehren. – N. war mit MontaignesEssaisdurchWagner bekannt geworden, der sie ihm zu Weihnachten 1870 geschenkt hatte.
84Schopenhauer als ErzieherVgl. N.s Brief vom 30. Dezember 1870: „Zu Weihnachten bekam ich [...] einestattliche Ausgabe des ganzen Montaigne (den ich sehr verehre)“ (KSB 3,Nr. 116, S. 172). In N.s Bibliothek befinden sich zwei Ausgaben von MontaignesEssais. Vgl. Michel de Montaigne: Essais, 1864 (NPB 393) und die deutscheÜbersetzung: Michel de Montaigne [Auf dem Titelblatt: Michaels Herrn vonMontagne (sic)]: Versuche, nebst des Verfassers Leben, 3 Theile, 1753–1754(NPB 393–394). – Zu einem Übersetzungsproblem in N.s UB III SE vgl. NK 348,18–22. Im Hinblick auf Montaigne spricht N. von seinem „Bekanntwerden mitdieser freiesten und kräftigsten Seele“ (348, 18–19). Zu N.s Montaigne-Rezep-tion im Zusammenhang mit der Thematik des freien Geistes vgl. Vivetta Viva-relli 1998.348, 20Plutarch]Griechischer Schriftsteller (ca. 45–125 n. Chr.) aus Chaironeia(Böotien). Von seinen Werken gehörten vor allem die Parallel-Biographien be-deutender Griechen und Römer seit dem Humanismus zum europäischen Bil-dungskanon. Traditionell galt die Plutarch-Lektüre als obligatorischer Bestand-teil des Erziehungswesens. Oft beruft sich auch Montaigne auf Plutarch, der indenParallelen Lebensläufenbedeutende Persönlichkeiten der griechischen undrömischen Antike miteinander vergleicht, etwa Alexander den Großen und Cä-sar. Dabei korreliert Plutarch das individuelle Ethos der dargestellten Persön-lichkeiten mit ihren politischen Leistungen. – N. empfiehlt in UB II HL Plutarchals Antidot gegen die Missstände seiner eigenen Zeit und stilisiert die humanis-tische Tradition ins Heroisch-Idealische, indem er Plutarchs Helden zu ‚unzeit-gemäßen‘ Vorbildern für den modernen Menschen erhebt. Sein Schlussplädo-yer im 6. Kapitel der Historienschrift lautet: „Sättigt eure Seelen an Plutarchund wagt es an euch selbst zu glauben, indem ihr an seine Helden glaubt. Miteinem Hundert solcher unmodern erzogener, das heisst reif gewordener undan das Heroische gewöhnter Menschen ist jetzt die ganze lärmende Afterbil-dung dieser Zeit zum ewigen Schweigen zu bringen“ (KSA 1, 295, 18–23).348, 18–22Mir wenigstens geht es seit dem Bekanntwerden mit dieser freiestenund kräftigsten Seele[sc. Montaigne]so, dass ich sagen muss, was er von Plut-arch sagt:kaum habe ich einen Blick auf ihn geworfen, so ist mir ein Bein oderein Flügel gewachsen“.]In seinem Zitat unterlief N. ein Übersetzungsfehler, aufden ihn Marie Baumgartner am 3. April 1875 in einem Brief hinwies (KGB II 6/I, Nr. 660, S. 94–95). Marie Baumgartner schrieb u. a. Folgendes an N. [inKSA 14, 75 ist dieser Brief irrtümlich auf den 7. April 1875 datiert]: „[...] Der Sinnscheint mir nicht mehr der zu sein daß dem Montaigne selbst ein Bein oderFlügel wachse, als Zeichen seiner eigenen, zunehmenden Tüchtigkeit und Fül-le durch den Umgang mit Plutarch; sondern der: daß vielmehr dem Plutarchein solch unerschöpflicher Vorrath und Reichthum des Köstlichsten inne
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 348–34985wohnt daß derjenige der noch so flüchtig, noch so auf gerathewohl bei ihmschöpft, ganz unfehlbar Etwas Gutes erobert; etwa so, wie wenn Jemand blind-lings mit der Gabel in eine Platte sticht, und doch einen ‚Schenkel oder Flügel‘(vom Geflügel) erwischt, (also einguterBrocken) dieses ein Beweis ist daßdie Platte lauter gute Stücke enthält. – Diese Auffassung ist zwar realistischerund lange nicht so poetisch als das deutsche Wachsen der geistigen Flügel;aber dem Gutsbesitzer und Jäger Montaigne mag dieser Gedankengang den-noch nahe genug gelegen sein. So viel ich bis jetzt beobachten konnte, glaubeich daß eine ernstgemeinte Uebersetzung von Montaigne sich sehr hüten müß-te, seine Ur-Einfachheit und Keckheit zu idealisiren; diese Methode müßte ihnganz entstellen. Wenn man ihn je mit deutschen Worten reden lassen kann, sowird man doch von vielen Franzosen am allerwenigsten ihndeutsch auf-fassendürfen. Er denkt zu sehr französisch!“N. gestand seinen Irrtum vier Tage später in seinem Antwortbrief vom7. April 1875 ein: „Die Montaigne-Stelle hat eine gewisse Perplexität erzeugt:nämlich: diedeutsche Übersetzunglautet ganz anders als ich die Stelleim ‚Schopenhauer‘ angeführt habe; falsch ist sie aber auch, wie die meinigeAuffassung, nur in ganz anderer Weise falsch. / Ich empfehle nun in der fran-zösischen Ausgabe die Sache so zu wenden: wirstreichen dieWorte p. 17‚was er von Plutarch sagt‘ und führen den Gedanken ‚Kaum habe ich einenBlick usw.‘ so ein, dass er von mir herrührt: was ja auch im Grunde das Richti-ge ist, da Montaigne jedenfalls etwas anderes sagt und seine Worte hier geradenicht in den Ton meiner Stelle passen. / Der Entdeckerin meines Irrthumsvielen Dank; es steht eben schlecht mit meinem Französisch, und bevor ichMontaigne idealisire, sollte ich ihn wenigstens richtig verstehen. / [...] Auchlassen wir das ‚Bein‘ weg und begnügen uns mit dem ‚Flügel‘.“ (KSB 5, Nr. 438,S. 39–40.)348, 26Aliis laetus, sibi sapiens.]Lateinische Sentenz unbekannter Herkunft.Übersetzung: für die anderen heiter (bzw. ein Heiterer, Fröhlicher), für sichselbst weise (ein Weiser). – Vermutlich orientiert sich N. hier an einem (insDeutsche übersetzten) Werk des von ihm sehr geschätzten Ralph Waldo Emer-son: Die Führung des Lebens. Gedanken und Studien, 1862, 184: „Es ist einealte Regel für verständiges Betragen: ‚Aliis laetus, sapiens sibi,‘ welche das eng-lische Sprichwort wiedergibt durch: ‚Sei fröhlich und weise.‘“ – Vgl. Campioni/Morillas Esteban (2008), 292. Zu N.s besonderer Wertschätzung für Emersonvgl. auch die Erläuterungen in NK 340, 9–11.349, 4David Straussens Heiterkeit]N. kritisiert die oberflächliche Heiterkeitdes Bildungsphilisters David Friedrich Strauß, gegen den er in UB I DS heftigpolemisiert. (Zum Themenkomplex ‚Philister‘/‘Bildungsphilister‘ in N.s Werken
86Schopenhauer als Erzieherund seinem Rückgriff auf Schopenhauers Begriffsverständnis vgl. ausführlichNK 352, 27.)349, 14das Problem des Daseins]Hier verwendet N. eine Formulierung, diesein einstiger ‚Erzieher‘ wiederholt gebraucht – auch in der SchriftUeber dieUniversitäts-Philosophie, auf die N. in UB III SE zweimal ausdrücklich hinweist(413, 418). Hier ist explizit die Rede vom „Problem des Daseyns“ bzw. vom„Problem des Lebens“ (vgl. PP I, Hü 153, 169, 171, 203). Mit exklamatorischemNachdruck schreibt Schopenhauer: „O! daß man solchen Spaaßphilosopheneinen Begriff beibringen könnte von dem wahren und furchtbaren Ernst, mitwelchem das Problem des Daseyns den Denker ergreift und sein Innerstes er-schüttert!“ (PP I, Hü 169). Und im Kapitel „Selbstdenken“ seinerParerga undParalipomena IIformuliert er in diesem Zusammenhang sogar anthropologi-sche Implikationen: „Wenn man wohl erwägt, wie groß und wie nahe liegenddasProblem des Daseynsist, dieses zweideutigen, gequälten, flüchtigen,traumartigen Daseyns; – so groß und so nahe liegend, daß, sobald man esgewahr wird, es alle andern Probleme und Zwecke überschattet und ver-deckt; – und wenn man nun dabei vor Augen hat, wie alle Menschen, – einigewenige und seltene ausgenommen, – dieses Problems sich nicht deutlichbewußt sind, ja, seiner gar nicht inne zu werden scheinen, sondern um allesAndere eher, als darum, sich bekümmern, und dahinleben, nur auf den heuti-gen Tag und die fast nicht längere Spanne ihrer persönlichen Zukunft bedacht,indem sie jenes Problem entweder ausdrücklich ablehnen, oder hinsichtlichdesselben sich bereitwillig abfinden lassen mit irgend einem Systeme derVolksmetaphysik und damit ausreichen; – wenn man [...] Das wohl erwägt; sokann man der Meinung werden, daß der Mensch doch nur sehr im weiternSinne eindenkendes Wesenheiße, und wird fortan über keinen Zug vonGedankenlosigkeit, oder Einfalt, sich sonderlich wundern, vielmehr wissen,daß der intellektuelle Gesichtskreis des Normalmenschen zwar über den desThieres, – dessen ganzes Daseyn, der Zukunft und Vergangenheit sich nichtbewußt, gleichsam eine einzige Gegenwart ist, – hinausgeht, aber doch nichtso unberechenbar weit“, wie man meint (PP II, Kap. 22, § 271, Hü 530). Hierrelativiert Schopenhauer den Sonderstatus des ‚animal rationale‘.349, 17–21während dem Menschen nichts Fröhlicheres und Besseres zu Theilwerden kann, als einem jener Siegreichen nahe zu sein, die, weil sie das Tiefstegedacht, gerade das Lebendigste lieben müssen und als Weise am Ende sichzum Schönen neigen]N. paraphrasiert hier die Schlusspartie von Hölderlinszweistrophiger OdeSokrates und Alcibiades: „Wer das Tiefste gedacht, liebt dasLebendigste, / Hohe Jugend versteht, wer in die Welt geblickt / Und es neigendie Weisen / Oft am Ende zu Schönem sich“ (Hölderlin: Gedichte, 1992, 205).
Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 349–35087Den ersten dieser Schlussverse zitiert N. wörtlich und mit expliziter NennungHölderlins in einem nachgelassenen Notat (NL 1873, 29 [202], KSA 7, 711).349, 29–32Ich schildere nichts als den ersten gleichsam physiologischen Ein-druck, welchen Schopenhauer bei mir hervorbrachte, jenes zauberartige Ausströ-men der innersten Kraft eines Naturgewächses auf ein anderes]Eine ähnlicheEinschätzung im Hinblick auf die Natur des Philosophen formuliert bereitsSchopenhauer in der Schlusspartie seiner SchriftUeber die Universitäts-Philo-sophie, an die N. hier anzuschließen scheint. Allerdings betont er die Relevanzder Pädagogik mit größerem Nachdruck als Schopenhauer, der die „Natur“ imSinne der „angeborenen Talente“ für erheblich wichtiger hält als die „Erzie-hung und Bildung“ (PP I, Hü 209). – Zugleich antizipiert N. in der Darstellungeiner quasi-physiologischen Wirkung schon Aspekte der späteren Schaffens-phase, in der er auch für den Umgang mit philosophischen Themen die Aus-richtung an Prinzipien naturwissenschaftlichen Experimentierens postuliert.Zu N.s Experimental-Philosophie vgl. Volker Gerhardt 1986, 45–61.Den „gleichsam physiologischen Eindruck“ reflektiert N. anschließend(349, 33 – 350, 1) methodisch nach dem Modell einer naturwissenschaftlichenFaktorenanalyse: Die sympathetische Anziehungskraft Schopenhauers auf sichselbst analysiert N., indem er zwischen drei Komponenten differenziert. Dabeinähert er sich in dreifacher Hinsicht naturwissenschaftlicher Begrifflichkeit an:erstens indem er von seiner „gleichsam physiologischen“ Wirkung spricht,zweitens dadurch, dass er diesen „Eindruck nachträglich [zu] zerlege[n]“sucht, und drittens insofern, als er ihn (wie ein Chemiker) „aus drei Elementengemischt“ findet (349, 33–34). Demgemäß beschreibt N. Schopenhauers „Be-ständigkeit“, die an das stoische Ideal der constantia erinnert, als eine imma-nente Notwendigkeit, die mit der Gravitation, einem physikalischen Prinzip,vergleichbar sei: nämlich „wie durch ein Gesetz der Schwere gezwungen“ (350,7–8). Und Schopenhauers „Kraft“ erscheint ihm als „aufwärts“ strebend „wieeine Flamme bei Windstille“ (350, 4–5).349, 26–28„Was ist doch ein Lebendiges für ein herrliches köstliches Ding! wieabgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend!“]N. zitiert an dieserStelle nicht ganz exakt aus GoethesTagebuch der italienischen Reise IV, Vene-dig. Am 9. Oktober 1786 schreibt Goethe hier über die „Wirtschaft der Seeschne-cken, Patellen und Taschenkrebse“ am Meer: „Was ist doch ein Lebendiges fürein köstliches, herrliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wiewahr, wie seiend!“ (Goethe: FA, Bd. 15/1, 99).350, 7–8wie durch ein Gesetz der Schwere gezwungen]Auf das Prinzip derGravitation nimmt N. hier Bezug, indem er die intuitive Sicherheit, mit derSchopenhauer „seinen Weg“ fand, mit dem Gesetz der Schwerkraft analogi-
88Schopenhauer als Erziehersiert. Eine ähnliche Darstellungsstrategie findet sich am Anfang von UB III SE(343, 5–8), wo N. die Funktion einer ganzheitlichen „Erziehung“ darin erblickt,den „Menschen zu einem lebendig bewegten Sonnen- und Planetensystemeumzubilden und das Gesetz seiner höheren Mechanik zu erkennen.“ Vgl. auchNK 349, 29–32.350, 10Tragelaphen-Menschheit]Der Begriff ‚Tragelaph‘, der im Altgriechi-schen ein Fabeltier (Bockhirsch) bezeichnet, wird in übertragenem Sinne fürein heterogenes literarisches Werk verwendet, das sich mehreren Gattungenzuordnen lässt. – N. erweitert den Begriff über das Feld der Literatur hinausund verwendet ihn, um die Menschen seiner eigenen Epoche als Mischwesenzu charakterisieren. Diese Zeitdiagnose formuliert N., um Schopenhauer alspositives Gegenbeispiel zu profilieren: als ein „Naturwesen“, das gerade in derdekadenten Moderne durch seine homogene Ganzheit als Vorbild fungierenkann. Entsprechende Thesen finden sich in Schopenhauers SchriftUeber dieUniversitäts-Philosophiezur „Natur“ des Philosophen (PP I, Hü 209).350, 14–16ich ahnte, in ihm jenen Erzieher und Philosophen gefunden zu haben,den ich so lange suchte. Zwar nur als Buch: und das war ein grosser Mangel.]Diese Einschätzung N.s entspricht tendenziell der Auffassung Schopenhauers,der in der SchriftUeber die Universitäts-Philosophiefeststellt: „die eigentlicheBekanntschaft mit den Philosophen läßt sich durchaus nur in ihren eigenenWerken machen und keineswegs durch Relationen aus zweiter Hand [...]. Zu-dem hat das Lesen der selbsteigenen Werke wirklicher Philosophen jedenfallseinen wohlthätigen und fördernden Einfluß auf den Geist, indem es ihn inunmittelbare Gemeinschaft mit so einem selbstdenkenden und überlegenenKopfe setzt“ (PP I, Hü 208). Und in denParerga und Paralipomena IIerklärt er:Wenn „wir, von der Bewunderung eines großen Geistes, dessen Werke unseben beschäftigt haben, ergriffen, ihn zu uns heranwünschen, ihn sehn, spre-chen, und unter uns besitzen möchten; so bleibt auch diese Sehnsucht nichtunerwidert: denn auch er hat sich gesehnt nach einer anerkennenden Nach-welt, welche ihm die Ehre, Dank und Liebe zollen würde, die eine neiderfüllteMitwelt ihm verweigerte“ (PP II, Kap. 20, § 242, Hü 506–507).Allerdings erscheint Schopenhauer die Lektüre eines Buches als Ersatz füreine persönliche Bekanntschaft mit einem bewunderten großen Geist nicht alsDefizit oder gar – wie für N. – als „grosser Mangel“. So erklärt Schopenhauerin denParerga und Paralipomena IIim Kapitel „Ueber Lesen und Bücher“: „DieWerkesind dieQuintessenzeines Geistes: sie werden daher, auch wenner der größte ist, stets ungleich gehaltreicher seyn, als sein Umgang, auch die-sen im Wesentlichen ersetzen, – ja, ihn weit übertreffen und hinter sich lassen“(PP II, Kap. 24, § 296a, Hü 594). – N. selbst zieht an einer späteren Stelle von
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 35089UB III SE die erfahrungsgesättigte Menschenkenntnis einer bloßen Bücher-Ge-lehrsamkeit vor, indem er gerade am Beispiel von Schopenhauers Jugend allge-mein die „Begünstigungen“ dessen hervorhebt, „welcher nicht Bücher, son-dern Menschen kennen, nicht eine Regierung, sondern die Wahrheit verehrenlernen soll“ (408, 30–32).350, 20–21Erben [...]: nämlich seine Söhne und Zöglinge]N. überträgt den ur-sprünglich aus der genealogisch-biologischen Sphäre stammenden Begriff des‚Epigonen‘, der nach der sogenannten ‚Kunstperiode‘ der Klassik und Roman-tik von Immermann kulturkritisch umkodiert wurde und in der neuen Bedeu-tung eines unkreativen Nachahmers bei zahlreichen Zeitgenossen Verwendungfand, hier in den früheren Bedeutungszusammenhang zurück. Mit dem Pro-blem der Epigonalität im übertragenen kulturkritischen Sinne setzt sich auchN. selbst auseinander. So rät er im Kontext seiner Historismus-Kritik in UB IIHL seinen Zeitgenossen: „vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein“ (KSA 1,295, 7). Dazu und zum Epochenhorizont vgl. ausführlich NK 344, 31–34.3.350, 25–27die indische Geschichte, die beinahe die Geschichte der indischenPhilosophie ist, beweist es]Hier stellt N. einen impliziten Bezug zur PhilosophieSchopenhauers her. Im Vierten Buch seines HauptwerksDie Welt als Wille undVorstellung I/IIerhält die indische Philosophie im Kontext der Verneinung desWillens zum Leben zentrale Bedeutung. Vgl. auch Schopenhauers Vorwort zurersten Auflage derWelt als Wille und Vorstellung I. Nachdem er dem Leser vorallem die Kantische und Platonische Philosophie als Basis für die Lektüre sei-nes eigenen Werkes empfohlen hat, schreibt Schopenhauer: „Ist er aber garnoch der Wohlthat der Veda’stheilhaft geworden, deren uns durch die Upa-nischaden eröffneter Zugang, in meinen Augen, der größte Vorzug ist, den die-ses noch junge Jahrhundert vor den früheren aufzuweisen hat, indem ich ver-muthe, daß der Einfluß der Sanskrit-Litteratur nicht weniger tief eingreifenwird, als im 15. Jahrhundert die Wiederbelebung der Griechischen: hat also,sage ich, der Leser auch schon die Weihe uralter Indischer Weisheit empfangenund empfänglich aufgenommen; dann ist er auf das allerbeste bereitet zu hö-ren, was ich ihm vorgetragen habe“ (WWV I, Hü, XII). Und mittels einer Para-lipse formuliert Schopenhauer ein selbstbewusstes Understatement, indem ererklärt, dass er, „wenn es nicht zu stolz klänge, behaupten möchte, daß jedervon den einzelnen und abgerissenen Aussprüchen, welche die Upanischadenausmachen, sich als Folgesatz aus dem von mir mitzutheilenden Gedanken
90Schopenhauer als Erzieherableiten ließe, obgleich keineswegs auch umgekehrt dieser schon dort zu fin-den ist“ (WWV I, Hü XII–XIII).350, 23–31Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel als er im Standeist ein Beispiel zu geben. [...] Aber das Beispiel muss durch das sichtbare Lebenund nicht bloss durch Bücher gegeben werden, also dergestalt, wie die Philoso-phen Griechenlands lehrten, durch Miene, Haltung, Kleidung, Speise, Sitte mehrals durch Sprechen oder gar Schreiben.]Diesen Aspekt führt N. an späterer Stel-le weiter: „Die einzige Kritik einer Philosophie, die möglich ist und die auchetwas beweist, nämlich zu versuchen, ob man nach ihr leben könne, ist nieauf Universitäten gelehrt worden“ (417, 26–29). – Von der bei N. durch dasVorbild antiker Philosophen angeregten Idealvorstellung einer Einheit vonTheorie und Praxis unterscheidet sich die Auffassung Schopenhauers funda-mental, der in derWelt als Wille und Vorstellunggerade die Differenz betontund sie auch für legitim hält: Es sei „so wenig nöthig, daß der Heilige einPhilosoph, als daß der Philosoph ein Heiliger sei: so wie es nicht nöthig ist,daß ein vollkommen schöner Mensch ein großer Bildhauer, oder daß ein gro-ßer Bildhauer auch selbst ein schöner Mensch sei. Ueberhaupt ist es eine selt-same Anforderung an einen Moralisten, daß er keine andere Tugend empfeh-len soll, als die er selbst besitzt. Das ganze Wesen der Welt abstrakt, allgemeinund deutlich in Begriffen zu wiederholen, und es so als reflektirtes Abbild inbleibenden und stets bereit liegenden Begriffen der Vernunft niederzulegen:dieses und nichts anderes ist Philosophie“ (WWV I, § 68, Hü 453).351, 2–5und doch ist es nur ein Wahn, dass ein Geist frei und selbständig sei,wenn diese errungene Unumschränktheit – die im Grunde schöpferische Selbst-umschränkung ist – nicht durch jeden Blick und Schritt von früh bis Abend neubewiesen wird.]Mit dieser Spezifikation des Freiheitsbegriffs grenzt N. hier kre-ative Autonomie von bloßem laisser faire ab. Indem N. Freiheit mit Selbstbe-stimmung im Sinne bewusster „Selbstumschränkung“ korreliert, schafft er eineAffinität zu wichtigen Aspekten der stoischen Philosophie. Obwohl er später inJenseits von Gut und Bösewiederholt Vorbehalte gegenüber der stoischen„Selbst-Tyrannei“ (KSA 5, 22, 20–21) und „Bildsäulenkälte“ (KSA 5, 118, 21) for-muliert, betont er zugleich auch das kreative Potential stoischer Selbstdis-ziplin. In einer dialektischen Argumentation geht N. davon aus, dass geradeaus moralischem „Zwang“, „beschränkten Horizonten“ und selbstauferlegter„Zucht“ Freiheit, Souveränität und geistige Stärke resultieren können (KSA 5,108–109). Mit „allzugrosse[r] Freiheit“ (KSA 5, 109, 33) hingegen sieht er dieGefahr geistiger Diffusion verbunden, die zur Ursache einer unkreativen Ver-fassung werden und auf diese Weise letztlich sogar die kulturelle Weiterent-wicklung behindern kann. Da die Bündelung schöpferischer Energien eine
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 350–35191Konzentration durch „VerengerungderPerspektive“voraussetze (KSA 5,110, 1–2), erweitere eine kluge Selbstbeschränkung des Menschen in diesemSinne auch seinen geistigen Aktionsradius. Moralische Selbstformierung (etwanach Prinzipien der stoischen Philosophie) wird nach N.s Vorstellung zum un-entbehrlichen Movens kultureller Entwicklung und erhält überdies – geradeangesichts drohender Décadence und affektiver Überreizung – eine wichtigeStabilisierungsfunktion. (Vgl. dazu Neymeyr 2008c, Bd. 2, 1165–1198 und2009a, 65–92.)351, 6–7Kant hielt an der Universität fest, unterwarf sich den Regierungen]Im8. Kapitel von UB III SE ergänzt N. diese Einschätzung durch das kritische Ur-teil: „Aber schon Kant war, wie wir Gelehrte zu sein pflegen, rücksichtsvoll,unterwürfig und, in seinem Verhalten gegen den Staat, ohne Grösse: so dasser jedenfalls, wenn die Universitätsphilosophie einmal angeklagt werden soll-te, sie nicht rechtfertigen könnte“ (414, 15–19). Indem N. Kant eine devote Kom-promissbereitschaft vorwirft, unterstellt er ihm implizit ein inkonsequentesVerhalten, das den aufklärerischen Autonomie-Prinzipien seiner philosophi-schen Lehre nicht entspreche. Vgl. dazu allerdings die Hintergrundinformatio-nen in NK 414, 15–19, die N.s Behauptungen über Kants angeblichen Opportu-nismus als eine durch unzureichende Kenntnis der Schriften Kants und seinesVerhaltens als Universitätsprofessor bedingte Fehleinschätzung erweisen.N.s kritische Perspektive auf Kant in UB III SE unterscheidet sich übrigensvon dem Urteil Schopenhauers in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philoso-phie. Denn während N. behauptet, Kant habe sich durch devotes Verhaltengegenüber dem Staat als repräsentativer Vertreter der akademischen Philoso-phie erwiesen, beschreibt Schopenhauer den Philosophieprofessor Kant alseine singuläre Ausnahmeexistenz im Universitätsbetrieb: Es gehöre „zu denseltensten Fällen, daß ein wirklicher Philosoph zugleich ein Docent der Philo-sophie“ sei; laut Schopenhauer stellt „geradeKantdiesen Ausnahmsfall“ dar(PP I, Hü 151–152). In diesem Zusammenhang verweist Schopenhauer selbst je-doch zugleich auf einen aufschlussreichen Passus in derWelt als Wille undVorstellung II, der die Bedeutung des zeitgeschichtlichen Kontextes für KantsWerk hervorhebt und durch eine kritische Bemerkung zur Person Kants wohlauch N.s Perspektive auf Kant beeinflusste. Hier erklärt Schopenhauer: „DaßjedochKantzugleich von und für die Philosophie leben konnte, beruhte aufdem seltenen Umstande, daß, zum ersten Male wieder, [...] ein Philosoph aufdem Throne saß: nur unter solchen Auspicien konnte die Kritik der reinen Ver-nunft das Licht erblicken. Kaum war der König todt, so sehn wir auch schonKanten,weil er zur Gilde gehörte, von Furcht ergriffen, sein Meisterwerk inder zweiten Ausgabe modificiren, kastriren und verderben, dennoch aber baldin Gefahr kommen, seine Stelle zu verlieren“ (WWV II, Kap. 17, Hü 179).
92Schopenhauer als ErzieherIn mehrfacher Hinsicht sind die Perspektiven Schopenhauers und N.s aufKants Philosophie durch Analogien und Differenzen bestimmt (vgl. Neymeyr1995a, 225–248 und 1996a, 215–263). Dies gilt auch im Hinblick auf den StatusKants als Universitätsphilosoph. So treten Affinitäten hervor, wenn Schopen-hauer selbst seine Kant-Verehrung relativiert: In seiner SchriftUeber die Univer-sitäts-Philosophiemerkt er kritisch an, „daß auch Kants Philosophie eine groß-artigere, entschiedenere, reinere und schönere geworden seyn würde, wenn ernicht jene Professur bekleidet hätte“ (PP I, Hü 161–162). Und analog zu Scho-penhauers Einschätzung betont N. in UB III SE ebenfalls das revolutionäre Po-tential, das der Kantischen Lehre durch die Infragestellung des traditionellenWahrheitsbegriffs innewohne (355–356). – Gleichwohl erscheinen die Differen-zen in den von Schopenhauer und N. formulierten Einschätzungen fundamen-tal: Während Schopenhauer Kant mit seinen „Hauptschriften“ zur „wichtigstenErscheinung“ erklärt, „welche seit zwei Jahrtausenden in der Philosophie her-vorgetreten ist“, und deren „Wirkung“ auf kongeniale Rezipienten „der Staar-operation am Blinden gar sehr zu vergleichen“ findet (WWV I, Hü XI),behauptet N., dass Kants „Beispiel“ von Überanpassung „vor allem Universi-tätsprofessoren und Professorenphilosophie erzeugte“ (351, 9–10). Vgl. im Kon-trast dazu aber die Belegstellen in NK 414, 15–19, die N.s Opportunismus-Vor-würfe gegen Kant widerlegen, indem sie ein von Zivilcourage zeugendesVerhalten Kants gegenüber obrigkeitsstaatlichen Forderungen dokumentieren.351, 10–13Schopenhauer macht mit den gelehrten Kasten wenig Umstände, se-parirt sich, erstrebt Unabhängigkeit von Staat und Gesellschaft – dies ist seinBeispiel, sein Vorbild]Hier bezieht sich N. insbesondere auf die SchriftUeberdie Universitäts-Philosophie, in der Schopenhauer dezidiert erklärt: „Das wirkli-che Philosophiren verlangt Unabhängigkeit“ (PP I, Hü 206). „Der Wahrheit istdie Atmosphäre der Freiheit unentbehrlich“ (PP I, Hü 161). Unter diesen Prä-missen konstatiert er eine Depravation der zeitgenössischen Universitätsphilo-sophie, die den Wahrheitsanspruch bloßen Staatsinteressen unterordnet. Vonsich selbst behauptet Schopenhauer: „Ich habe dieWahrheitgesucht undnicht eine Professur“ (PP I, Hü 151–152).In seiner Kritik an der Universitätsphilosophie beleuchtet Schopenhauerzum einen die fundamentale Problematik der akademischen „Professionsphilo-sophen“ generell (PP I, Hü 182), zum anderen polemisiert er konkret gegen eini-ge zeitgenössische Repräsentanten, vor allem gegen die drei nachkantischenIdealisten Fichte, Schelling und Hegel, daneben aber auch gegen Herbart undSchleiermacher. In deutlicher Übereinstimmung mit Schopenhauers SchriftUe-ber die Universitäts-Philosophiewertet N.den Typusdesakademischen Gelehrtenin UB III SE ebenfalls ab. (Belegstellen dazu finden sich in Kapitel III.4 des Über-blickskommentars, das erstmals einen ausführlichen Vergleich dieser beiden
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 35193Schriften durchführt.) Schopenhauer und N. kritisieren Universitätsphiloso-phen, die sich auf die Interessen der Regierung, die Zwecke der Religion oder dieTendenzen des Zeitgeistes ausrichten (PP I, Hü 159; SE 425) und dadurch ihre ei-gentliche Aufgabe vernachlässigen: die kompromisslose „Wahrheitsforschung“(PP I,Hü 149,158,167,190,204;SE 411).WährendSchopenhauervorallemgegendie Vereinnahmung der Philosophie als „ancilla theologiae“ (PP I, Hü 200) undals „Apologie der Landesreligion“ polemisiert (PP I, Hü 151, 154, 159, 194, 203,204), gelten N.s Vorbehalte primär der Depravation der Universitätsphilosophiedurch Staatsinteressen (SE 365, 368, 415, 422).Auch in den radikalen Konsequenzen, die sie jeweils aus ihrer kritischenEinschätzung ziehen, stimmen Schopenhauer und N. überein: Mit Nachdruckplädieren sie für die Abschaffung (PP I, Hü 167, 192–193, 207–208; SE 421) derallzu „lukrativen Philosophie“ (PP I, Hü 159, 201), um ihre Perversion zumstaatlich subventionierten universitären ‚Brotgewerbe‘ (PP I, Hü 164, 196, 207;SE 398, 400, 411, 413) künftig zu verhindern (PP I, Hü 167) und die Würde derPhilosophie, ihr heroisches Potential und ihre produktive Gefährlichkeit wie-derherzustellen (PP I, Hü 154; SE 366, 426–427). (Zu den Unterschieden imGesamtduktus der beiden Schriften sowie zu Analogien und Differenzen beiEinzelaspekten vgl. den detaillierten Vergleich in Kapitel III.4 des Überblicks-kommentars.)Allerdings übergeht N. den (zumindest teilweise) reaktiven Charakter vonSchopenhauers SchriftUeber die Universitäts-Philosophie, deren polemischerDuktus auch vor dem Hintergrund seiner eigenen erfolglosen Versuche zuverstehen ist, sich an der Berliner Universität beruflich zu etablieren. Bekannt-lich trug zum Scheitern einer möglichen Karriere als Universitätsdozent maß-geblich die selbstbewusste Entscheidung Schopenhauers bei, seine Vorlesun-gen synchron zum Hauptkolleg über „Logik und Metaphysik“ anzukündigen,das der damals – im Gegensatz zu Schopenhauer – bereits berühmte Hegel ander Berliner Universität abhielt. Vgl. dazu detaillierter NK 406, 28–30. – Aufdiese für Schopenhauer traumatische und folgenreiche Erfahrung spielt N. inUB III SE an, wenn er mit Bezug auf die einstige Konkurrenzsituation und aufdie seit etwa 1850 einsetzende Popularität Schopenhauers betont: „ich glaubedass jetzt bereits mehr Menschen seinen Namen als den Hegels kennen“ (406,28–30).Schopenhauers Leiden an der fehlenden akademischen Anerkennungspiegelt auch seine SchriftUeber die Universitäts-Philosophiewider. Die Hal-tung der Universitätsphilosophen ihm selbst gegenüber beschreibt Schopen-hauer hier folgendermaßen: „Der Spaaß bei der Sache aber ist, daß diese Leu-te sich Philosophen nennen, als solche auch über mich urtheilen, und zwarmit der Miene der Superiorität, ja, gegen mich vornehm thun und vierzig Jah-
94Schopenhauer als Erzieherre lang gar nicht würdigten [...], mich keiner Beachtung werth haltend“ (PP I,Hü 152). – Auch die unerbittliche Schärfe von Schopenhauers Polemik vorallem gegen die (zunächst viel erfolgreicheren) Philosophen Fichte, Schellingund Hegel, die sich nicht nur in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philoso-phie, sondern auch in anderen Werken findet, lässt sich aus dem Trauma derNichtbeachtung erklären.351, 16–21Unsre Künstler leben kühner und ehrlicher; und das mächtigste Bei-spiel, welches wir vor uns sehn, das Richard Wagners, zeigt, wie der Genius sichnicht fürchten darf, in den feindseligsten Widerspruch mit den bestehenden For-men und Ordnungen zu treten, wenn er die höhere Ordnung und Wahrheit, diein ihm lebt, an’s Licht herausheben will.]Hier greift N. auf einen Aspekt derEingangspartie von UB III SE zurück: „Die Künstler allein hassen dieses lässigeEinhergehen in erborgten Manieren und übergehängten Meinungen“ (337, 21–23). Schon hier spricht N. den (pauschal genannten) Künstlern aufgrund ihrerunkonventionellen Mentalität einen im positiven Sinne ‚unzeitgemäßen‘ Son-derstatus zu. Dass sich mit dem künstlerischen Habitus auch eine Bereitschaftzur Rebellion gegen die etablierten Ordnungen und ihre Repräsentanten ver-bindet, macht N. erst später explizit, indem er diese Haltung an RichardWagner exemplifiziert (351, 16–21). Nach Schopenhauer erscheint hier bereitsWagner als zweite paradigmatische Vorbildfigur; ihm widmet sich N. inUB IV WB. – Die von N. verwendete Lichtmetaphorik findet sich wiederholtauch bei Schopenhauer, etwa dort, wo er zwischen unterschiedlichen Denker-typen differenziert: „man kann die Denker eintheilen in solche, die fürsichselbst, undsolche, die fürAnderedenken: diese sind die Regel, jene dieAusnahme. Erstere sind demnach Selbstdenker im zwiefachen, und Egoistenim edelsten Sinne des Worts: sie allein sind es, von denen die Welt Belehrungempfängt. Denn nur das Licht, welches Einer sich selber angezündet hat,leuchtet nachmals auch Andern“ (PP I, Hü 163). Zur Lichtmetaphorik bei Scho-penhauer und N. vgl. auch NK 366, 13–16 und NK 387, 7–9.351, 27–30Also: ich wollte sagen, dass die Philosophie in Deutschland es mehrund mehr zu verlernen hat, „reine Wissenschaft“ zu sein: und das gerade sei dasBeispiel des Menschen Schopenhauer.]Hier übt N. implizit Kritik an ImmanuelKant, der in der Einleitung zur zweiten Auflage derKritik der reinen Vernunftvon 1787 die „Idee einer besondern Wissenschaft“ entwirft, „dieKritik derreinen Vernunftheißen kann“ (AA 3, 42). Wenig später schreibt Kant: „DieTranscendental-Philosophie ist die Idee einer Wissenschaft, wozu die Kritik derreinen Vernunft den ganzen Planarchitektonisch,d.i.ausPrincipien, ent-werfen soll“ (ebd., 44). „Die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft ist nunin der Frage enthalten:Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 351–35295(ebd., Bd. 3, 39). Erkenntnisse „a priori“ definiert Kant als solche, die „vonaller Erfahrung unabhängig stattfinden“ (ebd., 28). Dann formuliert er eineKapitelüberschrift als These: „DiePhilosophie bedarf einer Wissen-schaft, welche die Möglichkeit, die Principien und den Um-fang aller Erkenntnisse a priori bestimme“(ebd., 30). Und schon1783 spricht Kant in seinenProlegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik,die als Wissenschaft wird auftreten könnenvon „der Metaphysik, als einer spe-culativen Wissenschaft der reinen Vernunft“ (AA 4, 371).N. betont im vorliegenden Textzusammenhang das vorbildliche Beispieldes Philosophen Schopenhauer und kontrastiert dessen Philosophie mit einervon empirischer Erfahrung abgelösten esoterisch-weltfernen Vorstellung vonWissenschaft und Philosophie. Damit schließt er an Thesen an, die er inUB III SE bereits zuvor formuliert hat (vgl. 350, 23–31). Vgl. außerdem 417, 26–29. Den existentiellen Bezug N.s zu Schopenhauer als „Vaterfigur, Vorbild,Begleiter und Gesprächspartner, Leitfigur wie Arzt und Helfer dieser frühenJahre“ betont Wachendorff 1998, 58. – Schopenhauers eigenem Philosophie-Verständnis entspricht diese Einschätzung N.s allerdings nicht. Das erhellt bei-spielsweise aus einer These in Schopenhauers Hauptwerk: „Das ganze Wesender Welt abstrakt, allgemein und deutlich in Begriffen zu wiederholen, und esso als reflektirtes Abbild in bleibenden und stets bereit liegenden Begriffen derVernunft niederzulegen: dieses und nichts anderes ist Philosophie“ (WWV I,§ 68, Hü 453). Und im Kontext dieser These, die Kants Prämissen näher stehtals der Vorstellung von Philosophie, die N. in UB III SE entwirft, beschreibtSchopenhauer die Differenz von Theorie und Praxis als legitim (ebd.). Vgl. dazuNK 350, 23–31.352, 6–12Ein neuerer Engländer schildert die allgemeinste Gefahr ungewöhnli-cher Menschen, die in einer an das Gewöhnliche gebundenen Gesellschaft leben,also: „solche fremdartige Charaktere werden anfänglich gebeugt, dann melan-cholisch, dann krank und zuletzt sterben sie. Ein Shelley würde in England nichthaben leben können, und eine Rasse von Shelley’s würde unmöglich gewesensein“.]Mit der Paraphrase „Ein neuerer Engländer“ ist Walter Bagehot (1826–1877) gemeint. N. zitiert hier aus Bagehots WerkDer Ursprung der Nationen.Betrachtungen über den Einfluß der natürlichen Zuchtwahl und der Vererbungauf die Bildung politischer Gemeinwesen(1874, 167). An späterer Stelle vonUB III SE nimmt N. explizit auf Bagehot Bezug (420, 13–14), und zwar mit ei-nem längeren Zitat, das – ganz in N.s Sinne – eine massive Kritik an den Sys-temphilosophen formuliert (420, 14–29). Percy Bysshe Shelley (1792–1822), denWalter Bagehot in N.s Zitat erwähnt, war ein englischer Schriftsteller, der inseiner Lyrik entschieden gegen Tyrannei und Unterdrückung protestierte.
96Schopenhauer als ErzieherBei der Abschrift der deutschen Übersetzung unterläuft N. im Hinblick aufden geographischen Bezug ein Zitat-Fehler, auf den Jörg Salaquarda hinweist.Bei Bagehot heißt es: „Ein Shelley würde in Neu-England [sic!] nicht habenleben können“. Vgl. dazu die Aussage in der englischen Originalausgabe: Ba-gehotsPhysics and Politics, or Thoughts on the Application of the Principle of‚Natural Selection‘ and ‚Inheritance‘ to Political Society: „societies tyranicallycustomary, uncongenial minds become first cowed, then melancholy, then outof health, and at last die. A Shelley in New England could hardly have lived,and a race of Shelley’s would have been impossible“ (The Collected Works ofWalter Bagehot, VIII vol.s, 1974 ff., Bd. VII, 100). Auch das einschränkende„hardly“ im englischen Text entfällt in der deutschsprachigen Version N.s. Vgl.dazu Salaquarda 1979, 396–397. – Kritischer als im vorliegenden Kontext vonUB III SE äußert sich N. in einem nachgelassenen Notat von 1885 über Shelley.Dort wendet er sich energisch „Gegen denfalschen Idealismus,wodurchübertriebene Feinheit sich die besten Naturen der Welt entfremden“, um dannfortzufahren: „Und daß solche Shelleys, Hölderlins, Leopardis zu Grundegehn, ist billig, ich halte gar nicht viel von solchen Menschen“ (NL 1885, 34[95], KSA 11, 451). Dieser despektierliche Gestus unterscheidet sich grundle-gend von dem empathischen Ton, mit dem N. im vorliegenden Kontext vonUB III SE auf die Fragilität und melancholische Disposition von Ausnahmeexis-tenzen wie „Shelley“ oder „Hölderlin und Kleist“ eingeht, die an „ihrer Unge-wöhnlichkeit“ zugrunde gingen (352, 10–13).In diesem Zusammenhang greift N. auch auf den seit der Antike etabliertenTopos von der Melancholie des Genies zurück, der sich in der Kulturgeschichtebis zum 19. Jahrhundert durch zahlreiche Aussagen belegen lässt, etwa von Aris-toteles und Cicero sowie Goethe und Schopenhauer als prominenten Beispielen.In derWelt als Wille und Vorstellung IIrekurriert Schopenhauer auf diesen Tradi-tionszusammenhang: „SchonAristoteleshat, nach Cicero (Tusc., I, 33), be-merkt, omnes ingeniosos melancholicos esse; welches sich, ohne Zweifel, aufdie Stelle in des Aristoteles Problemata, 30, 1, bezieht“ (WWV II, Kap. 31,Hü 438). Analoge Aussagen finden sich in SchopenhauersAphorismen zur Le-bensweisheit(PP I, Hü 346–347). Vgl. das Zitat in NK 354, 21. Anschließend zi-tiert er ein Gedicht Goethes, das mit den Versen endet: „Darum behagt demDichtergenie / Das Element der Melancholie“ (WWV II, Kap. 31, Hü 438). Undüber die Rezeption seiner eigenen Philosophie schreibt Schopenhauer: „Manhat geschrieen über das Melancholische und Trostlose meiner Philosophie“(WWV II, Kap. 46, Hü 666). – Anders akzentuiert N. die Korrelation zwischenMelancholie und Genialität, wenn er an späterer Stelle von UB III SE konsta-tiert, der Mensch sei aufgrund seiner „Begrenztheit“ von „Sehnsucht und Me-lancholie erfüllt“ und trage daher „ein tiefes Verlangen nach dem Genius in
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 35297sich. Hier ist die Wurzel aller wahren Cultur“ (358, 1–4). Zur Thematik der Geni-alität bei Schopenhauer vgl. NK 358, 29–33 und NK 386, 21–22.352, 19–23Jener geübte Diplomat, der Goethe nur überhin angesehn und ge-sprochen hatte, sagte zu seinen Freunden: Voilà un homme, qui a eu de grandschagrins! – was Goethe so verdeutscht hat: „das ist auch einer, der sich’s hatsauer werden lassen!“]Die wörtliche Übersetzung des französischen Zitats lau-tet: Hier steht ein Mann, der viel Kummer gehabt hat. – Mit dem Goethe-Zitatnimmt N. auf den kleinen AufsatzAntik und modernBezug, in dem JohannWolfgang von Goethe diese Episode mitteilt: „Bejahrten Personen fällt, aus derFülle der Erfahrung, oft bei Gelegenheit ein, was eine Behauptung erläuternund bestärken könnte; deshalb sey folgende Anekdote zu erzählen vergönnt.Ein geübter Diplomat, der meine Bekanntschaft wünschte, sagte, nachdem ermich bei dem ersten Zusammentreffen nur überhin angesehen und gespro-chen, zu seinen Freunden: Voilà un homme qui a eu de grands chagrins! DieseWorte gaben mir zu denken: der gewandte Gesichtsforscher hatte recht gese-hen, aber das Phänomen blos durch den Begriff von Duldung ausgedrückt,was er auch der Gegenwirkung hätte zuschreiben sollen. Ein aufmerksamer,gerader Deutscher hätte vielleicht gesagt: Das ist auch einer, der sich’s hatsauer werden lassen!“ (Goethe: Sämmtliche Werke in vierzig Bänden, Bd. 30,1857, 464–465). N. hat diese Seite durch ein ‚Eselsohr‘ markiert. – Der erste Teildes französischen Zitats „Voilà un homme“ kommt noch in einer anderen Epi-sode von Goethes Biographie vor: bei seiner Begegnung mit Napoleon. Auf die-se Situation nimmt N. inJenseits von Gut und BöseBezug, indem er den Ab-schnitt 209 folgendermaßen enden lässt: „Man verstehe doch endlich dasErstaunen Napoleon’s tief genug, als er Goethen zu sehen bekam: es verräth,was man sich Jahrhunderte lang unter dem ‚deutschen Geiste‘ gedacht hatte.‚Voilà un homme!‘ – das wollte sagen: ‚Das ist ja einMann!Undichhatte nureinen Deutschen erwartet!‘ –“ (KSA 5, 142, 9–14). Vgl. dazu auch Goethes eige-ne Notizen über seine Unterredung mit Napoleon am 2. Oktober 1808 und Be-richte von Zeitgenossen über dieses Ereignis (Goethe: Begegnungen und Ge-spräche, Bd. VI, 1999, 536–545).352, 23–26„Wenn sich nun in unsern Gesichtszügen, fügt er hinzu, die Spurüberstandenen Leidens, durchgeführter Thätigkeit nicht auslöschen lässt, so istes kein Wunder, wenn alles, was von uns und unserem Bestreben übrig bleibt,dieselbe Spur trägt“.]Hier setzt N. das Zitat aus Goethes kleiner SchriftAntikund modernfort (vgl. NK 352, 19–23). Bei Goethe heißt es direkt anschließend:„Wenn sich nun in unseren Gesichtszügen die Spur überstandenen Leidens,durchgeführter Thätigkeit nicht auslöschen läßt, so ist es kein Wunder, wennalles was von uns und unserem Bestreben übrig bleibt, dieselbe Spur trägt und
98Schopenhauer als Erzieherdem [sic] aufmerksamen Beobachter auf ein Daseyn hindeutet, das in einerglücklichsten Entfaltung so wie in der nothgedrungensten Beschränkung sichgleich zu bleiben und wo nicht immer die Würde, doch wenigstens die Hartnä-ckigkeit des menschlichen Wesens durchzuführen trachtete“ (Goethe: Sämmt-liche Werke in vierzig Bänden, Bd. 30, 1857, 465). Vgl. auch HA 12, 173.352, 27Bildungsphilister]N. versteht das Kompositum ‚Bildungsphilister‘ kei-neswegs nur als Spezifikation des Simplex ‚Philister‘. Das zeigen seine Begriffs-definitionen: „Das Wort Philister ist bekanntlich dem Studentenleben entnom-men und bezeichnet in seinem weiteren, doch ganz populären Sinne denGegensatz des Musensohnes, des Künstlers, des ächten Kulturmenschen. DerBildungsphilister aber [...] unterscheidet sich von der allgemeinen Idee der Gat-tung ‚Philister‘ durch Einen Aberglauben: er wähnt selber Musensohn und Kul-turmensch zu sein; ein unbegreiflicher Wahn, aus dem hervorgeht, dass er garnicht weiss, was der Philister und was sein Gegensatz ist: [...] Er fühlt sich, beidiesem Mangel jeder Selbsterkenntniss, fest überzeugt, dass seine ‚Bildung‘gerade der satte Ausdruck der rechten deutschen Kultur sei“, glaubt sogarselbst „der würdige Vertreter der jetzigen deutschen Kultur zu sein und machtdem entsprechend seine Forderungen und Ansprüche“ (KSA 1, 165, 7–26). – Inden von N. publizierten Werken kommt der Begriff ‚Bildungsphilister‘ nachUB I DS (KSA 1, 165, 6) noch fünfmal vor, davon dreimal in den unmittelbarfolgenden Schriften UB II HL (KSA 1, 326, 13–14) und UB III SE (352, 27; 401,24–25) und zweimal mit ausdrücklichem Bezug auf UB I DS inMenschliches,Allzumenschliches II(KSA 2, 370, 3–4) und inEcce homo(KSA 6, 317, 16). –Einen Prioritätsanspruch erhebt N. im Hinblick auf den Begriff ‚Bildungsphilis-ter‘, wenn er in der Vorrede zuMenschliches, Allzumenschliches IIsich selbst„die Vaterschaft des jetzt viel gebrauchten und missbrauchten Wortes ‚Bil-dungsphilister‘“ zuschreibt (KSA 2, 370, 2–4). Sogar in seiner SpätschriftEccehomovertritt er im Rückblick auf seineUnzeitgemässen Betrachtungenmit kon-kretem Bezug auf UB I DS noch die Ansicht: „das Wort Bildungsphilister istvon meiner Schrift her in der Sprache übrig geblieben“ (KSA 6, 317, 16–17). Die-ser Prioritätsanspruch N.s ist nicht berechtigt. Hierzu und zum Einfluss desromantischen Philisterbegriffs auf das Wort ‚Bildungsphilister‘ vgl. NK 165, 6(UB I DS) und NK 326, 13–14 (UB II HL).Ursprünglich stammt der Begriff des ‚Philisters‘, wie N. selbst konstatiert,aus der Studentensprache. Nach GrimmsDeutschem Wörterbuchist der Philis-ter „ein nüchterner, pedantischer, beschränkter, lederner mensch ohne sinnfür eine höhere und freiere auffassung“, mithin ein Spießbürger (DeutschesWörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 13, 1827). DasDeutsche Wörter-buchnennt auch Belege aus Werken Goethes und Heines (vgl. ebd.). Die Vor-stellung der Bildungsbeflissenheit ist durchaus auch mit dem älteren Philister-
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 35299Begriff konnotiert, doch bezeichnet dieser eher den Typus des konservativenBiedermanns. Allerdings deutet schon die romantische Verwendung des Be-griffs teilweise auf den für die Gründerzeit typischen fortschrittsoptimistischenliberalen Bürger voraus, den N. mit dem Wort ‚Bildungsphilister‘ bezeichnet.Vor dem Hintergrund der pejorativen Vorstellungen vom ‚Philister‘ ver-sucht N. Schopenhauer und sich selbst als Genies zu etablieren. Dabei schließter auch an die schon im Sturm und Drang verbreitete Antithese von ‚Genie‘und ‚Gelehrtem‘ an. – Bereits Schopenhauer verwendet den Begriff ‚Philister‘wiederholt pejorativ, besonders ausführlich in denAphorismen zur Lebensweis-heit, aber auch in der SchriftUeber die Universitäts-Philosophie, die N. inUB III SE explizit nennt (413, 418). Bei der Hervorhebung der negativen Bedeu-tungsvalenzen des Begriffs ‚Philister‘ orientiert sich N. an Schopenhauers Auf-fassung. Das erhellt auch daraus, dass er außerdem den von Schopenhauerkontrastiv zu ‚Philister‘ gebrauchten Begriff ‚Musensohn‘ aus dessen Definitionübernimmt. Allerdings ist der Begriff ‚Bildungsphilister‘ bei N. stärker kultur-kritisch konnotiert.Schopenhauer thematisiert den Typus des Philisters auch in seinenApho-rismen zur Lebensweisheitim Kapitel II „Von Dem, was Einer ist“. Hier betonter, „daß der Mensch, welcher, in Folge des streng und knapp normalen Maaßesseiner intellektuellen Kräfte,keine geistige Bedürfnisse hat,eseigent-lich ist, den ein der deutschen Sprache ausschließlich eigener, vom Studenten-leben ausgegangener, nachmals aber in einem höheren, wiewohl dem ur-sprünglichen, durch den Gegensatz zum Musensohne, immer noch analogenSinne gebrauchter Ausdruck als denPhilisterbezeichnet“ (PP I, Hü 364).Schopenhauer definiert den ‚Philister‘ als einen Menschen „ohne geistigeBedürfnisse“, derinfolgedessen auch „ohne geistigeGenüssebleibt [...].Kein Drang nach Erkenntniß und Einsicht, um ihrer selbst Willen, belebt seinDaseyn, auch keiner nach eigentlich ästhetischen Genüssen [...]. Wirkliche Ge-nüsse für ihn sind allein die sinnlichen: durch diese hält er sich schadlos“(PP I, Hü 365). Geselliger Zeitvertreib reicht „gegen die Langeweile nicht aus,wo Mangel an geistigen Bedürfnissen die geistigen Genüsse unmöglich macht.Daher auch ist dem Philister ein dumpfer, trockener Ernst, der sich dem thieri-schen nähert, eigen und charakteristisch. Nichts freut ihn, nichts erregt ihn,nichts gewinnt ihm Antheil ab. Denn die sinnlichen Genüsse sind bald er-schöpft; die Gesellschaft, aus eben solchen Philistern bestehend, wird baldlangweilig [...]. Allenfalls bleiben ihm noch die Genüsse der Eitelkeit, nach sei-ner Weise, welche denn darin bestehn, daß er an Reichthum, oder Rang, oderEinfluß und Macht, Andere übertrifft“ (PP I, Hü 365). Menschen von überlege-ner Intellektualität erregen laut Schopenhauer „seinen Widerwillen, ja, seinenHaß [...]; weil er dabei nur ein lästiges Gefühl von Inferiorität, und dazu einen
100Schopenhauer als Erzieherdumpfen, heimlichen Neid verspürt, den er aufs Sorgfältigste versteckt, indemer ihn sogar sich selber zu verhehlen sucht [...]. Ein großes Leiden aller Philis-ter ist, daßIdealitätenihnen keine Unterhaltung gewähren, sondern sie,um der Langenweile zu entgehn, stets derRealitätenbedürfen“ (PP I,Hü 366).Diese charakteristische Verbindung von geistiger Mediokrität mit Phlegma,Missgunst und Ressentiment, durch die Schopenhauer den Philister gekenn-zeichnet sieht, weist zum einen auf N.s Definition des ‚Bildungsphilisters‘ vo-raus, in der eine bornierte Selbstzufriedenheit stärker akzentuiert ist als beiSchopenhauer, zum anderen auf N.s spätere Konzepte des Herdenmenschenund des Ressentiments. – Zum Gegensatz zwischen Genie und Philister vgl.WWV II, Kap. 31, Hü 453. Weitere Belege zum ‚Philister‘ bei Schopenhauer:WWV II, Kap. 38, Hü 507; PP I, Hü 384; PP II, Kap. 1, § 21, Hü 20; PP II, Kap. 23,§ 283, Hü 567. In seiner SchriftUeber die Universitäts-PhilosophieverwendetSchopenhauer auch den pejorativen Begriff ‚Philisterei‘ (PP I, Hü 158, 164) –etwa wenn er die Gefahr betont, dass man „den philosophischen Hörsaal ineine Schule der plattesten Philisterei umschafft“ (PP I, Hü 164). Vgl. auch PP II,Kap. 9, § 123, Hü 258 und WWV II, Kap. 12, Hü 136. Den „ekelhaften Hegeljar-gon“ macht Schopenhauer dafür verantwortlich, dass „die platteste, philister-hafteste, ja niedrigste Gesinnung an die Stelle der edlen und hohen Gedanken“tritt (PP I, Hü 177).352, 34 – 353, 8Nun hatte der arme Schopenhauer auch so eine geheime Schuldauf dem Herzen, nämlich seine Philosophie mehr zu schätzen als seine Zeitgenos-sen; und dazu war er so unglücklich, gerade durch Goethe zu wissen, dass erseine Philosophie, um ihre Existenz zu retten, um jeden Preis gegen die Nichtbe-achtung seiner Zeitgenossen vertheidigen müsse; denn es giebt eine Art Inquisiti-onscensur, in der es die Deutschen nach Goethe’s Urtheil weit gebracht haben;es heisst: unverbrüchliches Schweigen.]Eigentlich bezeichnet der Begriff ‚Inqui-sition‘ Untersuchungsorgane bestimmter Institutionen (z. B. der katholischenKirche), welche die Einhaltung von Vorschriften überwachen und über Ab-weichler Sanktionen verhängen. Besondere Bekanntheit erlangten die Inquisi-tionsprozesse gegen religiöse ‚Häretiker‘. – Indem N. hier „unverbrüchlichesSchweigen“ als „eine Art Inquisitionscensur“ charakterisiert, zitiert er (wieauch in 353, 17) aus Schopenhauers SchriftUeber den Willen in der Natur: „Ach-selträgerei und Augendienerei sind an der Tagesordnung, Tartüffiaden werdenohne Schminke aufgeführt, ja Kapuzinaden ertönen von der den Wissenschaf-ten geweihten Stätte: das ehrwürdige Wort Aufklärung ist eine Art Schimpfwortgeworden, die größten Männer des vorigen Jahrhunderts, Voltaire, Rousseau,Locke, Hume, werden verunglimpft, diese Heroen, diese Zierden und Wohlthä-ter der Menschheit [...]. Litterarische Faktionen und Brüderschaften auf Tadel
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 352101und Lob werden geschlossen, und nun wird das Schlechte gepriesen und aus-posaunt, das Gute verunglimpft, oder auch, wieGoethesagt, ‚durch einunverbrüchliches Schweigen sekretirt, in welcher Art vonInquisitionscensur es die Deutschen weit gebracht haben‘(Tag- und Jahreshefte, J. 1821)“ (Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik,Hü 16–17). – Schopenhauer zitiert in dieser Passage nicht präzise aus autobio-graphischen Aussagen in GoethesTag- und Jahresheftenvon 1821. Hier äußertsich Goethe folgendermaßen über das BuchSpanien und die Revolutioneinesvielgereisten Autors: „Seine Art zu schauen und zu denken sagt dem Zeitgeistnicht zu; daher sekretiert dieser das Buch durch ein unverbrüchliches Schwei-gen, in welcher Art von Inquisitionszensur es die Deutschen weit gebracht ha-ben“ (Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. MünchnerAusgabe, Bd. 14, 1986, 304).Außerdem spielt N. hier auch auf andere Aussagen Schopenhauers an, diesein Leiden an mangelnder öffentlicher Resonanz und an fehlender Anerken-nung für sein Werk offenbaren. An späterer Stelle von UB III SE greift N. dieseThematik nochmals auf (406, 9 – 407, 4). – In der SchriftUeber die Universitäts-Philosophieäußert sich Schopenhauer folgendermaßen über missgünstige Zeit-genossen: „je mehr Verdienst seine Sache hat, desto mehr wird sie, nicht ihreBewunderung, sondern ihren Groll erregen; desto determinirteren passivenWiderstand werden sie ihr entgegenstellen, also mit desto hämischerem Schwei-gen sie zu ersticken suchen [...], damit nur die ihnen verhaßte Stimme der Ein-sicht und Aufrichtigkeit nicht durchdringe“ (PP I, Hü 202). Schopenhauer be-trachtet sich selbst als ein Opfer dieser „Taktik des passiven Widerstandes“ (PP I,Hü 200): Denn „durch die gänzliche Nichtbeachtung meiner Werke haben sie anden Tag zu legen vermeint, was ich sei (wiewohl sie gerade dadurch an den Taggelegt haben, was sie sind)“ (PP I, Hü 200). Die Begriffe „Nichtbeachtung“ und„Schweigen“ verwendet in diesem Kontext auch N. (353, 5, 8).Ein solches Verhalten als probate Strategie zur „Unterdrückung“ bedeuten-der Leistungen wurde laut Schopenhauer schon vom „altenSeneka“[sic] di-agnostiziert: Er spricht in seinenEpistulae moralesvom „silentium, quodlivorindixerit“, also vom Schweigen, das der Neid auferlegt (PP I, Hü 160). Vgl. auchPP I, Hü 152, 160, 171, 175, 196. Die Strategie philosophischer Konkurrenten, diedarauf zielt, die Wirksamkeit seines Werkes durch beharrliches Schweigen zuboykottieren, bezeichnet Schopenhauer als ‚Sekretieren‘ (PP I, Hü 196): Seinervon der Norwegischen Societät der Wissenschaften am 26. Januar 1839 ge-krönten PreisschriftUeber die Freiheit des Willensbegegnete man laut Scho-penhauer „mit dem passiven Widerstande [...]: sie ist aufs strengste sekretirt“und wird „comme non avenue angesehn“ wie „alle meine Werke. Meine Phi-losophie interessirt eben die Herren nicht: das kommt aber daher, daß die
102Schopenhauer als ErzieherErgründung der Wahrheit sie nicht interessirt“ (PP I, Hü 196). Vgl. ergänzendNK 353, 17 (auch zum Ausdruck ‚Sekretieren‘).353, 10Makulatur]1. beim Druckvorgang schadhaft gewordener und fehler-hafter Bogen, wieder einzustampfender Fehldruck, 2. Altpapier. Aus dem Kon-text geht hervor, dass N. hier letzteres meint.353, 17„legor et legar“]Lateinisches Wortspiel mit Gegenwarts- und Zukunfts-bezug: Ich werde gelesen, und ich werde gelesen werden. Dieses selbstbewuss-te Diktum Schopenhauers zitiert N. aus der zweiten Vorrede der SchriftUeberden Willen in der Natur(Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik, Hü XIII):Nachdem Schopenhauer jahrzehntelang unter dem Mangel an öffentlicherResonanz gelitten hatte, erlebte er gegen Ende seines Lebens noch seine wach-sende Bekanntheit. Dadurch sah er sich veranlasst, über die Philosophieprofes-soren, die er für seine Gegner hielt, wortreich zu triumphieren. Im Anschlussan eine Bemerkung zum aktuellen Publikumsinteresse „an der Philosophie“versetzt sich Schopenhauer mit ironischem Gestus in die Mentalität seiner ver-meintlichen Widersacher: „Nichtsdestoweniger habe ich den Philosophiepro-fessoren eine betrübte Nachricht mitzutheilen. Ihr Kaspar Hauser [...], den sie,beinahe vierzig Jahre hindurch, von Licht und Luft so sorgfältig abgesperrtund so fest eingemauert hatten, daß kein Laut sein Daseyn der Welt verrathenkonnte, – ihr Kaspar Hauser ist entsprungen! ist entsprungen und läuft in derWelt herum; – Einige meinen gar, es sei ein Prinz. – Oder, in Prosa zu reden:was sie über Alles fürchteten, daher mit vereinten Kräften und seltener Stand-haftigkeit, mittelst eines so tiefen Schweigens, so einträchtigen Ignorirens undSekretirens, wie es noch nie dagewesen, über ein Menschenalter hinaus, glück-lich zu verhüten gewußt haben, – dies Unglück ist dennoch eingetreten: manhat angefangen, mich zu lesen, – und wird nun nicht wieder aufhören. Legoret legar: es ist nicht anders. Wahrlich schlimm und höchst ungelegen; ja, einerechte Fatalität, wo nicht gar Kalamität. Ist Dies der Lohn, für so viel treue,traute Schweigsamkeit? für so festes, einträchtiges Zusammenhalten? Bekla-genswerthe Hofräthe!“ (Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik, Hü XII–XIII). – Von der Strategie des Schweigens oder ‚Sekretierens‘ als probatem Mit-tel, um philosophische Leistungen und ihre Urheber jahrzehntelang zu unter-drücken, ist mehrfach auch in Schopenhauers SchriftUeber die Universitäts-Philosophiedie Rede: vgl. PP I, Hü 152, 196 und weitere Belege in NK 352, 34 –353, 8.InEcce homogreift N. in autobiographischem Kontext auf SchopenhauersDiktum zurück, um es grimmig umzukehren: „Wiekönnteich, mitdiesemGefühle der Distanz, auch nur wünschen, von den ‚Modernen‘, die ich kenne –,gelesen zu werden! – Mein Triumph ist gerade der umgekehrte, als der Scho-
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 353103penhauer’s war, – ich sage: ‚non legor, non legar‘.“ (KSA 6, 299, 5–9.) Zuvorbetont N. in diesemEcce-homo-Kapitel „Warum ich so gute Bücher schreibe“die eigene, die Rezeption seiner Werke behindernde ‚Unzeitgemäßheit‘: „Ichselber bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum geboren“ (KSA 6,298, 7–8).Obwohl N. das lateinische Diktum Schopenhauers inEcce homonur in ne-gierter Form auf sich selbst beziehen will, lässt sich feststellen, dass die Zu-kunftsorientierung seines programmatischen Ideals der Unzeitgemäßheit nichtnur in UB III SE, sondern in allen vierUnzeitgemässen Betrachtungenvon Auf-fassungen Schopenhauers maßgeblich geprägt ist. Entsprechendes gilt für daskomplementäre Verhältnis einer so verstandenen Unzeitgemäßheit zur kriti-schen Gegenwartsdiagnose. Im 20. Kapitel „Ueber Urtheil, Kritik, Beifall undRuhm“ derParerga und Paralipomena IIargumentiert Schopenhauer mit analo-ger Grundtendenz: Während die „Werke gewöhnlichen Schlages [...] mit demGeiste der Zeit, d h. den gerade herrschenden Ansichten, genau verbundenund auf das Bedürfniß des Augenblicks berechnet“ sind, trifft dies auf die „au-ßerordentlichen Werke“ nicht zu, „welche bestimmt sind, der ganzen Mensch-heit anzugehören und Jahrhunderte zu leben“; denn diese sind „bei ihrem Ent-stehn, zu weit im Vorsprung, eben deshalb aber der Bildungsepoche und demGeiste ihrer eigenen Zeit fremd. Sie gehören diesen nicht an, sie greifen inihren Zusammenhang nicht ein, gewinnen also den darin Begriffenen kein In-teresse ab. Sie gehören eben einer andern, einer höhern Bildungsstufe undeiner noch fern liegenden Zeit an“ (PP II, Kap. 20, § 242, Hü 504). Die Konse-quenzen für die Rezeption erläutert Schopenhauer so: „Die ausgezeichnetenGeister dringen selten bei Lebzeiten durch; weil sie im Grunde doch bloß vonden ihnen schon verwandten ganz und recht eigentlich verstanden werden“;daher „wird die Reise zur Nachwelt durch eine entsetzlich öde Gegend zurück-gelegt“ (PP II, Kap. 20, § 242, Hü 505). Bei N. wie bei Schopenhauer ist die mitdem Ideal der Unzeitgemäßheit verbundene Zukunftsorientierung wesentlichauch biographisch motiviert: durch das Leiden an fehlender Resonanz der ei-genen Werke in der Gegenwart.353, 20–23so quälte ihn die Sorge, sein kleines Vermögen zu verlieren und viel-leicht seine reine und wahrhaft antike Stellung zur Philosophie nicht mehr fest-halten zu können]Schopenhauer lebte als Privatgelehrter vom Erbe des Vaters(vgl. in UB III SE auch 409, 5–13). Die Bedeutung ökonomischer Unabhängig-keit nach dem Modell antiker Philosophen betont Schopenhauer in seinerSchriftUeber die Universitäts-Philosophie: „Das Geldverdienen mit der Philoso-phie war und blieb, bei den Alten, das Merkmal, welches den Sophisten vomPhilosophen unterschied. Das Verhältniß der Sophisten zu den Philosophenwar demnach ganz analog dem zwischen den Mädchen, die sich aus Liebe
104Schopenhauer als Erzieherhingegeben haben, und den bezahlten Freudenmädchen“ (PP I, Hü 164). Indiesem Sinne argumentiert N. auch in 411, 24–27: „Freiheit und immer wiederFreiheit: dasselbe wunderbare und gefährliche Element, in welchem die grie-chischen Philosophen aufwachsen durften.“ Schopenhauer erklärt in seinerSchriftUeber die Universitäts-Philosophiedezidiert: „Der Wahrheit ist die Atmo-sphäre der Freiheit unentbehrlich“ (PP I, Hü 161). „Das wirkliche Philosophie-ren verlangt Unabhängigkeit“ (PP I, Hü 206).353, 32Vereinsamung]Die Einsamkeit ist bei Schopenhauer ein wichtiges Mo-tiv. Auch in N.s Werken und Briefen spielt die Einsamkeit eine besondere Rolle.InMenschliches, Allzumenschliches Ischreibt N. bezeichnenderweise in einemText mit dem Titel „Von denFreunden“: „wievereinsamt ist jederMensch!“ (KSA 2, 263, 5). In derFröhlichen Wissenschaftfindet sich ein Gedichtmit dem TitelDer Einsame(KSA 3, 360). Und eine nachgelassene Notiz N.s ausdem Sommer 1888 lautet: „einsame Tage, / ihr wollt auf tapferen Füßen gehn!“(NL 1888, 20 [78], KSA 13, 563).Schopenhauer bezeichnet die Einsamkeit wiederholt als das Los aller her-vorragenden Geister. Im Kapitel „Paränesen und Maximen“ derAphorismen zurLebensweisheitschreibt er: „Ganz erselbst seyndarf Jeder nur so lange erallein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit:denn nur wann man allein ist, ist man frei. Zwang ist der unzertrennliche Ge-fährte jeder Gesellschaft, und jede fordert Opfer, die um so schwerer fallen, jebedeutender die eigene Individualität ist. Demgemäß wird Jeder in genauerProportion zum Werthe seines eigenen Selbst die Einsamkeit fliehen, ertragen,oder lieben. Denn in ihr fühlt der Jämmerliche seine ganze Jämmerlichkeit, dergroße Geist seine ganze Größe, kurz, Jeder sich als was er ist. Ferner, je höherEiner auf der Rangliste der Natur steht, desto einsamer steht er, und zwar we-sentlich und unvermeidlich“ (PP I, Hü 447). Analog: WWV I, § 39, Hü 240. DieLiebe zur Einsamkeit betrachtet Schopenhauer sogar als Indikator für den in-tellektuellen Wert eines Menschen. Vor allem betont er den Hang des Genieszur Einsamkeit. Geistige Eminenz führe notwendigerweise zur Ungeselligkeit.Schopenhauer konstatiert, „daß das Genie wesentlich einsam lebt. Es ist zuselten, als daß es leicht auf seines Gleichen treffen könnte, und zu verschiedenvon den Uebrigen, um ihr Geselle zu sein“ (WWV II, Kap. 31, Hü 446). – DerEinsamkeitstopos, auf den Schopenhauer zurückgreift, ist zugleich auch einwesentlicher Bestandteil der romantischen Genieästhetik.354, 1–3die Philosophie eröffnet dem Menschen ein Asyl, wohin keine Tyranneidringen kann, die Höhle des Innerlichen, das Labyrinth der Brust]Hier verbindetN. das Zitat aus einem Gedicht Goethes mit der Anspielung auf das berühmte‚Höhlengleichnis‘, das Platon in einem erkenntnistheoretischen Kontext seiner
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 353–354105Politeiaentwirft. Zum Status des ‚Höhlengleichnisses‘ in der Platonischen Phi-losophie vgl. ausführlich NK 376, 2. – In UB III SE findet sich das Motiv derHöhle mehrmals, etwa in 354, 2, in 354, 26 und in 359, 30 sowie (besondersdeutlich als Anspielung auf Platons ‚Höhlengleichnis‘) in 356, 13–15. Spätergreift N. implizit auch in derFröhlichen Wissenschaftauf Platons ‚Höhlen-gleichnis‘ zurück (vgl. KSA 3, 467, 5–9). InAlso sprach Zarathustraentwirft N.im Anschluss an Platons Allegorie auch selbst Höhlenausgänge: Seinen Prota-gonisten Zarathustra lässt er aus einer Höhle vom Berg zu den Menschen he-rabsteigen, um ihnen seine Botschaft zu verkünden.Die letzte Strophe in Goethes GedichtAn den Mondlautet in der früheren(vermutlich am 11. August 1777 entstandenen) Fassung: „Was den Menschenunbewußt / Oder wohl veracht / Durch das Labyrinth der Brust / Wandelt inder Nacht“ (Goethe: FA, Bd. 1, 235). In der späteren Fassung des Ersten Weima-rer Jahrzehnts lautet die Schlussstrophe so: „Was von Menschen nicht ge-wußt, / Oder nicht bedacht, / Durch das Labyrinth der Brust / Wandelt in derNacht“ (ebd., 302). Die von N. nur zwei Zeilen später thematisierte „Gefahr derEinsamen“ (354, 5) klingt auch in Goethes GedichtAn den Mondan und er-scheint in V. 12 der späteren Version sogar explizit: „In der Einsamkeit“ (ebd.,301). Zum Faszinosum wird das „Labyrinth des Daseins“ in FW 322, wo N. als„die tiefsten“ Denker diejenigen betrachtet, die „in sich wie in einen ungeheu-ren Weltraum“ hineinsehen (KSA 3, 552, 12–16).354, 13–16Sie wissen, diese Einsamen und Freien im Geiste, – dass sie fortwäh-rend irgend worin anders scheinen als sie denken: während sie nichts als Wahr-heit und Ehrlichkeit wollen]Diese Formulierung antizipiert den für N. später sowichtigen Typus des ‚freien Geistes‘. Als Strategie gegen die kulturelle Depra-vation seiner Gegenwart formuliert er in UB III SE die Aufgabe, „die freien Geis-ter und die tief an unsrer Zeit Leidenden mit Schopenhauer bekannt zu ma-chen“ (407, 7–8). – Außerdem bringt er hier Freiheit und Wahrheit in eineKorrelation, die an die SchriftUeber die Universitäts-Philosophiedenken lässt:Hier betrachtet Schopenhauer „die Atmosphäre der Freiheit“ als conditio sinequa non für die „Wahrheit“ (PP I, Hü 161). Vgl. ergänzend NK 346, 12–14.354, 20–21eine Wolke von Melancholie auf ihrer Stirne]Zwar bezieht N. dieseMetapher im näheren Kontext generell auf die „Einsamen und Freien im Geis-te“ (354, 13–14), aber implizit ist immer auch konkret Schopenhauer mitge-meint. – Dass die Melancholie schon seit Aristoteles geradezu topisch mit demGenie verbunden wird, betont (unter Rekurs auf Cicero) bereits Schopenhauerin derWelt als Wille und Vorstellung(WWV II, Kap. 31, Hü 438). Vgl. das Zitatin NK 352, 6–12. Analoge Aussagen finden sich im 2. Kapitel derAphorismenzur Lebensweisheit. Hier gibt Schopenhauer eine physiologische Erklärung derMelancholie: „Abnormes Übergewicht der Sensibilität wird Ungleichheit der
106Schopenhauer als ErzieherStimmung, periodische übermäßige Heiterkeit und vorwaltende Melancholieherbeiführen. Weil nun auch das Genie durch ein Übermaß der Nervenkraft,also der Sensibilität bedingt ist; so hat Aristoteles ganz richtig bemerkt, daßalle ausgezeichnete und überlegene Menschen melancholisch seien“ (PP I,Hü 346–347). Im Anschluss an das griechische Zitat aus den pseudo-aristoteli-schenProblemata(30, 1) fährt Schopenhauer fort (PP I, Hü 347): „Ohne Zweifelist dieses die Stelle, welche Cicero im Auge hatte, bei seinem oft angeführtenBericht: Aristoteles ait, omnes ingeniosos melancholicos esse (Tusc. I, 33).“Schopenhauer selbst schafft in derWelt als Wille und Vorstellungeinenkonkreten autobiographischen Bezug, indem er die negative Reaktion der Zeit-genossen auf seine pessimistische Weltanschauung so beschreibt: „Man hatgeschrieen über das Melancholische und Trostlose meiner Philosophie [...]“(WWV II, Kap. 46, Hü 666). Auch wenn Schopenhauer dieses Negativetikett an-schließend in Frage stellt, indem er gerade den Pessimismus seiner Philoso-phie als realistisch, die Optimisten hingegen als naiv betrachtet, steht hier zu-gleich doch auch die traditionelle Verbindung von Genialität und Melancholieseit der Antike im Hintergrund (vgl. dazu NK 352, 6–12). Zur Thematik der Geni-alität bei Schopenhauer vgl. NK 358, 29–33 und NK 386, 21–22.354, 25–26Sie kommen aus ihrer Höhle heraus]Vgl. NK 354, 1–3.355, 8–10Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden Denker,welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt]Diese existenti-elle Problematik exemplifiziert N. wenig später durch Kleist (355, 27 – 356, 11).Vgl. dazu NK 355, 29 – 356, 8.355, 17–19Zwar soll [...] seit der That dieses stillen Gelehrten auf allen geistigenGebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht glauben.]Hier spielt N. auf die ‚Kopernikanische Wende‘ an, die Kant durch die von ihmin derKritik der reinen Vernunftentworfene Erkenntnistheorie eingeleitet hat.Kant vertritt hier die Auffassung, dass sich die Gegenstände nach der Erkennt-nis richten müssen (nicht umgekehrt). N.s Vorbehalt bezieht sich an dieserStelle nicht auf das revolutionäre Potential der Kantischen Lehre selbst, diedurch die Suspendierung des traditionellen Wahrheitsbegriffs Zeitgenossenwie (vorgeblich) Heinrich von Kleist fundamental zu „erschüttern“ vermochte(355, 33), sondern lediglich auf deren Depravation in inferioren Köpfen: Die„populäre Wirkung“ der Kantischen Philosophie hält N. für problematisch,wenn sie lediglich „in der Form eines zernagenden und zerbröckelnden Skepti-cismus und Relativismus“ (355, 22–24) Ausdruck findet oder gar zu einem„müssigen Scepticismus“ degeneriert (419, 24–25).Gerade bei „den thätigsten und edelsten Geistern“ (355, 25) bewertet N. dienachhaltige Wirkung der Kant-Lektüre positiv: So habe Kleist eine existentielle
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 354–355107„Erschütterung und Verzweiflung an aller Wahrheit“ erlitten (355, 27). Aller-dings vermutet N., dass „nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig einge-griffen“ hat (355, 15–16). Sein Urteil über die Bedeutung Kants zeigt Affinitätenzu Schopenhauers Feststellung in der SchriftUeber die Universitäts-Philoso-phie: „Kant ist vielleicht der originellste Kopf, den jemals die Natur hervorge-bracht hat“ (PP I, Hü 181). In der Kantischen Transzendentalphilosophie siehtSchopenhauer „die wichtigste Lehre, welche seit 2000 Jahren aufgestellt wor-den“ ist (PP I, Hü 180, 181). Für einen fatalen Irrtum hält er die Anmaßung der„drei Sophisten“ (PP I, Hü 195, 179) Fichte, Schelling, Hegel und ihrer Anhän-ger, „Kants mühsälige Vorarbeit“ durch die eigenen Werke überboten zu haben(PP I, Hü 179). Diese Hybris führte laut Schopenhauer zur Verdrängung Kants,einer „Weltepoche in der Philosophie“ (PP I, Hü 191), und damit zum „Rück-schritt vom größten Fortschritt, den jemals die Philosophie gemacht“ hat (PP I,Hü 182). Dieser „philosophische Skandal“ der „letzten 50 Jahre“ (PP I, Hü 191)ist nach Schopenhauers Überzeugung durch die Universitäten und die akade-mische Philosophie überhaupt erst möglich geworden. Zur Bedeutung Kantsvgl. ergänzend auch PP I, Hü 197–200.355, 24Skepticismus und Relativismus]Während der absolute Skeptizismusjede Möglichkeit einer verlässlichen Erkenntnis der Wirklichkeit negiert undauch die sinnliche Wahrnehmung als Basis von Erfahrung in Frage stellt, be-zweifelt der relative Skeptizismus lediglich die Erkenntnismöglichkeiten in be-stimmten Bereichen, etwa in der Theologie oder in der Ethik. Die Vertreter desRelativismus setzen die Möglichkeit von Erkenntnis jeweils nur innerhalb be-stimmter Rahmenbedingungen voraus, die sich auch durch den historischenNormenwandel verändern können. Unter diesen Prämissen negieren sie abso-lute Geltungsansprüche sowohl in der theoretischen als auch in der prakti-schen Philosophie. Kant setzt in seiner Transzendentalphilosophie die skepti-sche Methode ein, um die Vernunft von jedem Dogmatismus zu befreien und‚Kritik‘ im Sinne einer fundierten Unterscheidung zu ermöglichen.355, 29 – 356, 8„Vor Kurzem [...] wurde ich mit der Kantischen Philosophiebekannt [...]. – Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen,wahrhaft Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint. Ist’s das Letztere, so ist dieWahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles Bestreben,ein Eigenthum zu erwerben, das uns auch noch in das Grab folgt, ist vergeblich. –Wenn die Spitze dieses Gedankens dein Herz nicht trifft, so lächle nicht übereinen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt.Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken und ich habe keines mehr.“]N.zitiert hier (mit Kürzungen und nicht ganz korrekt) aus einem Brief, den Hein-rich von Kleist am 22. März 1801 an seine Braut Wilhelmine von Zenge richtete.
108Schopenhauer als ErzieherDieses bekannte Dokument hat die sogenannte ‚Kantkrise‘ Kleists zum Thema.Einleitend erklärt Kleist, er habe den „beiden Zwecken, Wahrheit zu sammeln,u Bildung mir zu erwerben, diekostbarstenOpfer“ gebracht, da ihm diese Ziele„so heilig“ waren. Vor diesem Hintergrund betont er dann seine existentielleErschütterung durch die Einsicht in die fundamentalen erkenntnistheoreti-schen Konsequenzen der Kantischen Transzendentalphilosophie: „Vor kurzemward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt – uDir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mittheilen, indem ich nicht fürchtendarf, daß er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich. Auchkennst Du das Ganze nicht hinlänglich, um sein Interesse vollständig zu be-greifen. [...] Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so wür-den sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken,sindgrün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dingezeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen,sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht ent-scheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob esuns nur so scheint. Ist das letzte, soistdie Wahrheit, die wir hier sammeln,nach dem Tode nicht mehr – u alles Bestreben, ein Eigenthum sich zu erwer-ben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich – Ach, Wilhelmine, wenndie Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einenAndern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Meineinziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr –Seit diese Überzeugung, nämlich, daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist,vor meine Seele trat, habe ich nicht wieder ein Buch angerührt“ (Kleist: Briefe,1997, 205).Einen Tag später, am 23. März 1801, schreibt Kleist in diesem Sinne auchan seine Schwester Ulrike von Kleist: „Der Gedanke, daß wir hienieden vonder Wahrheit nichts, gar nichts, wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nen-nen, nach dem Tode ganz anders heißt, u daß folglich das Bestreben, sich einEigenthum zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ganz vergeblich ufruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligthum meiner Seele erschüt-tert – MeineinzigesuhöchstesZiel ist gesunken, ich habe keines mehr. Seitdemeckelt mich vor den Büchern, ich lege die Hände in den Schoß, und suche einneues Ziel, dem mein Geist, froh-beschäfftigt [sic], von Neuem entgegenschrei-ten könnte. Aber ich finde es nicht“ (ebd., 207–208). Allerdings leitet Kleistdiese Schilderung durch eine Bemerkung ein, die zugleich bereits eine gewisseDistanz zu der von ihm als existentiell dargestellten Problematik signalisiert:„Es scheint, als ob ich eines von den Opfern der Thorheit werden würde, derendie Kantische Philosophie so viel auf das [sic] Gewissen hat“ (ebd., 207).In der Kleist-Forschung wurden unterschiedliche Positionen zur sogenann-ten ‚Kantkrise‘ Kleists im Frühjahr 1801 formuliert: Einerseits nahm man tat-
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 355109sächlich eine existentielle ‚Kantkrise‘ mit Bezug zum erkenntnistheoretischenPerspektivismus oder zur moralphilosophischen Skepsis an und entwickelteauf dieser Basis Hypothesen, welche Werke (u. a. von Kant, Fichte und Rein-hold) als akute Ursachen für Kleists intellektuelle Krisensituation fungiert ha-ben könnten (vgl. Greiner 2009, 206–208). Andererseits jedoch wurde die ver-meintliche ‚Kantkrise‘ Kleists durch eine Analyse seiner Briefe in Zweifelgezogen und als bloße Inszenierung des Autors selbst verstanden, der sich vonseinen wissenschaftlichen Studien bereits Monate vor der behaupteten ‚Kant-krise‘ abgewandt habe und dies keineswegs aufgrund von erkenntniskritischenReflexionen, sondern aus pragmatischen Vorbehalten gegen berufliche Festle-gungen und jedwede Einengung durch ein wissenschaftliches Spezialistentum.So habe Kleist für seine Neuorientierung durch die Entscheidung für dieSchriftsteller-Existenz dann lediglich eine Legitimation durch eine anerkannteAutorität gesucht und in diesem Zusammenhang anders motivierte innere Pro-zesse bloß suggeriert (vgl. dazu Jochen Schmidt 2003, 12–16). Zum Perspektivis-mus bei N. vgl. Claus Zittel, NH 2000a, 299–301.Dass N. im vorliegenden Kontext die Argumentation Kleists nicht hinter-fragt, hängt auch mit seiner eigenen Darstellungsstrategie zusammen: Über dieerkenntnistheoretischen Implikationen der Kant-Rezeption weist N.s Deutungder brieflichen Äußerungen Kleists hinaus. Denn sie dient ihm hier auch dazu,eine existentielle Bedeutung der Philosophie zu propagieren, deren „Sinn“ derMensch jeweils an seinem „heiligsten Innern“ prüfen soll (356, 9–11) – so N. inAnlehnung an Kleists Formulierung. Insofern erhebt N. die sogenannte ‚Kant-krise‘ Kleists zum Paradigma einer ‚natürlichen‘ Reaktion auf philosophischeGedanken (356, 9). Zugleich repräsentiert Kleist für N. die „Verzweiflung ander Wahrheit“, die „Gefahr“ für „jeden Denker, welcher von der KantischenPhilosophie aus seinen Weg nimmt“ (355, 8–10). In seiner SchriftUeber dieUniversitäts-Philosophiespricht bereits Schopenhauer dem „AlleszermalmerKant“ (PP I, Hü 182) eine singuläre Bedeutung zu und bezeichnet die KantischeTranszendentalphilosophie mit Nachdruck als „die wichtigste Lehre“ der letz-ten zwei Jahrtausende (PP I, Hü 180).InMenschliches, Allzumenschlicheskritisiert N. die Philosophen, weil sie inihren Reflexionen die historische Dimension vernachlässigen. Den „Mangel anhistorischem Sinn“ bezeichnet N. dort als den „Erbfehler aller Philosophen“(KSA 2, 24, 24–25), die sich seines Erachtens vorschnell auf „eine Analyse“ des„gegenwärtigen Menschen“ festlegen, dessen Charakteristika sie „als eine ae-terna veritas“ hypostasieren (KSA 2, 24, 17–20). Insofern attestiert N. den tradi-tionellen Philosophen eine prekäre Unbelehrbarkeit: „Sie wollen nicht lernen,dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen gewordenist; während Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnissver-
110Schopenhauer als Erziehermögen sich herausspinnen lassen“ (KSA 2, 24, 29–32). Diese Einschätzungkann auch als Kritik an der Kantischen Transzendentalphilosophie verstandenwerden. Entschieden beanstandet N. die Tendenz der Philosophen zu Projekti-onen, die von „ewigen Thatsachen“ und„absoluten Wahrheiten“ ausge-hen (KSA 2, 25, 12–13). Er selbst hingegen konstatiert: „Alles aber ist geworden“(KSA 2, 25, 11–12) und zieht daraus die methodische Konsequenz: „Demnach istdashistorische Philosophirenvonjetzt ab nöthig und mit ihm die Tu-gend der Bescheidung“ (KSA 2, 25, 13–15). Vgl. auch NK 374, 32 – 375, 1.356, 11–17was uns, nach Kant, gerade Schopenhauer sein kann – der Führernämlich, welcher aus der Höhle des skeptischen Unmuths oder der kritisirendenEntsagung hinauf zur Höhe der tragischen Betrachtung leitet, den nächtlichenHimmel mit seinen Sternen endlos über uns, und der sich selbst, als der erste,diesen Weg geführt hat.]In dieser Aussage über Schopenhauer kombiniert N.Anspielungen auf Platon und Kant. Die in UB III SE mehrfach (354, 2; 359, 30)vorkommende Reminiszenz an das berühmte ‚Höhlengleichnis‘ (vgl. auchNK 354, 2–3) im 7. Buch von PlatonsPoliteia(514 a – 519 d) tritt hier besondersmarkant hervor: erstens durch die Vorstellung des „skeptischen Unmuths“ aufSeiten der Höhlenbewohner, die von den Dingen der Außenwelt lediglich dievon einer Lichtquelle auf die Höhlenwände geworfenen Schatten wahrneh-men, und zweitens durch die Erwähnung des Führers, der sie aus der Höhlehinausgeleiten will, um ihnen eine adäquate Erkenntnis der Dinge zu vermit-teln, und dabei mühselige Überzeugungsarbeit leisten muss. (Zum Platoni-schen ‚Höhlengleichnis‘ und seiner symbolischen Bedeutung für Platons Ide-enlehre vgl. NK 376, 2.) Die Relation zwischen den wirklichen Dingen und ihrenbloßen Schatten analogisiert Platon gleichnishaft mit dem Verhältnis zwischenden Ideen als Urbildern einerseits und deren bloßen Abbildern in Gestalt derEinzelphänomene in der konkreten sinnlich erfahrbaren Welt andererseits. –Auf diesem Dualismus basiert auch Platons Korrespondenztheorie, in derWahrheit als Übereinstimmung von Abbild und Urbild verstanden wird. Daeine derartige Korrespondenz oder Adäquation eine Quantifizierbarkeit derWahrheit impliziert (im Sinne mehr oder weniger deutlicher Erkenntnis derIdeen in Gestalt realer Abbilder), ist die Platonische Korrespondenz- bzw. Ab-bildtheorie mit dem in der Kantischen Philosophie vorausgesetzten qualitati-ven Gegensatz von Wahrheit und Falschheit nicht kompatibel.Mit der Vorstellung der „kritisirenden Entsagung“ spielt N. auf die metho-dischen Konsequenzen von Kants Erkenntniskritik an. Und mit dem „nächtli-chen Himmel mit seinen Sternen endlos über uns“ paraphrasiert N. den „Be-schluß“ am Ende von KantsKritik der praktischen Vernunft: „Zwei Dingeerfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung undEhrfurcht [...]: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 356111mir“ (AA 5, 61). Später finden sich auch inAlso sprach ZarathustraReminis-zenzen an diese berühmte Formulierung Kants: In einer klaren und „hellge-stirnt[en]“ Nacht (KSA 4, 195, 5) richtet Zarathustra eine Adhortatio an sichselbst: „Du aber, oh Zarathustra, wolltest aller Dinge Grund schaun und Hin-tergrund: so musst du schon über dich selber steigen, – hinan, hinauf, bis duauch deine Sterne nochunterdirhast! / Ja! Hinab auf mich selber sehn undnoch auf meine Sterne: das erst hiesse mir meinGipfel“(KSA 4, 194, 27–31). –Auf Platons ‚Höhlengleichnis‘ als allegorisches Denkmodell nimmt N. späterimplizit auch in derFröhlichen WissenschaftBezug, indem er den erkenntnis-theoretischen Gehalt religionskritisch funktionalisiert: „Gott ist todt: aber sowie es die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höh-len geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auchnoch seinen Schatten besiegen!“ (KSA 3, 467, 5–9).Im vorliegenden Kontext von UB III SE vollzieht N. zugleich eine Umdeu-tung der philosophischen Tradition: indem er Schopenhauer als den Führer„aus der Höhle des skeptischen Unmuths oder der kritisirenden Entsagung“beschreibt, der seine Leser hinauf „zur Höhe der tragischen Betrachtung“ gelei-tet habe. Den historischen Horizont der Antike und der Aufklärung überschrei-tet N., wenn er philosophische Konzepte Platons und Kants in dieser Weisedurch Schopenhauers Werk überboten sieht. Schopenhauer selbst betrachtetePlaton und Kant als seine Lehrer. In der Vorrede zur ersten Auflage derWeltals Wille und Vorstellunghebt er die „Schule des göttlichenPlato“hervor undempfiehlt seinen Lesern „eine gründliche Bekanntschaft“ mit „KantsPhiloso-phie“ (WWV I, Hü XII) als der „wichtigsten Erscheinung, welche seit zwei Jahr-tausenden in der Philosophie hervorgetreten ist“ (WWV I, Hü XI). Zur span-nungsreichen Relation zwischen Platon-Rezeption und Kant-Rezeption inSchopenhauers Philosophie, die systematische Probleme zur Folge hat, vgl.Neymeyr 1996a, 252–263.Räumt N. im vorliegenden Kontext von UB III SE bezüglich „der tragischenBetrachtung“ noch Schopenhauer die Priorität ein, so reklamiert er diesenavantgardistischen Status später (mit veränderten Implikationen) ausschließ-lich für sich selbst: InEcce homospricht er sich „das Recht“ zu, sich „selberals den erstentragischen Philosophenzuverstehn“ (KSA 6, 312, 24–25).N. definiert sich selbst als „den äussersten Gegensatz und Antipoden einespessimistischen Philosophen. Vor mir giebt es diese Umsetzung des Dionysi-schen in ein philosophisches Pathos nicht: es fehlt dietragische Weis-heit“(KSA 6, 312, 26–29). Dass sich N. durch die Abgrenzung vom „pessimisti-schen Philosophen“ nachdrücklich von Schopenhauer distanziert, zeigt seineBehauptung, dass „Schopenhauer [...] nicht begreifenwollte“,„daß die Tra-gödie eintonicumist“, „wenn er die Gesammt-Depression als tragischen
112Schopenhauer als ErzieherZustand ansetzt“ (NL 1888, 15 [10], KSA 13, 410). Mit dieser These wirft N. sei-nem früheren Lehrer über einen bloßen Irrtum hinaus sogar eine Haltung ab-sichtlicher Erkenntnisverweigerung vor.356, 17–25Das ist seine Grösse, dass er dem Bilde des Lebens als einem Ganzensich gegenüberstellte, um es als Ganzes zu deuten; während die scharfsinnigstenKöpfe nicht von dem Irrthum zu befreien sind, dass man dieser Deutung näherkomme, wenn man die Farben [...] peinlich untersuche; vielleicht mit dem Ergeb-niss, es sei eine ganz intrikat gesponnene Leinewand und Farben darauf, diechemisch unergründlich seien. Man muss den Maler errathen, um das Bild zuverstehen, – das wusste Schopenhauer.]Mit seiner Forderung, der Philosophhabe die Lebenstotalität zu deuten, schließt N. an dieGeburt der Tragödiean.Hier ist vom „Gesammtbilde der Welt“ die Rede, dessen Erkenntnis den ‚ech-ten‘ Philosophen auszeichne, der „Weisheit“ statt bloß partikularistischer „Wis-senschaft“ biete (KSA 1, 118, 29–32). Die „einzelnen Wissenschaften“ benötigenals Basisorientierung ein „regulatives Gesammtbild“ (356, 29–31). Analoge The-sen formuliert Schopenhauer in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philoso-phie(PP I, Hü 170–171). Vgl. dazu NK 357, 7–11. – Die ästhetische Metapher vom‚Gemälde‘ oder ‚Bild‘ des Lebens verwendet N. in UB III SE mehrfach (356, 28–29; 357, 9; 361, 13; 367, 7). Sie findet sich bereits bei Schopenhauer, der in derWelt als Wille und Vorstellung IIerklärt: „Das Leben ist nie schön, sondern nurdie Bilder des Lebens sind es, nämlich im verklärenden Spiegel der Kunst oderder Poesie“ (WWV II, Kap. 30, Hü 428).Von der Metapher vom ‚Bild‘ des Lebens ausgehend, kontrastiert N. einintuitives Kunstverständnis, das er hier ausdrücklich Schopenhauer zuordnet,mit dem akribischen Positivismus derer, die Farbe und Leinwand chemischanalysieren wollen, durch ihre empirische Detailfixierung aber den Bezug zurTotalität des Kunstwerks verlieren. Allerdings übersieht N. dabei zweierlei:1. Obwohl auch Schopenhauer betont „Ein ächtes Kunstwerk darf eigentlichnicht, um genießbar zu seyn, den Präambel einer Kunstgeschichte nöthig ha-ben“ (PP II, Kap. 19, § 234, Hü 479), hält er die Kenntnis des zeitgenössischenkünstlerischen Kontextes durchaus für wesentlich, um malerische Innovatio-nen angemessen würdigen zu können (ebd.). 2. Die metaphysische Fundierungder Ästhetik bei Schopenhauer schließt empirische Interessen und positivisti-sche Prinzipien keineswegs aus. Anders als N. meint, empfiehlt Schopenhauerselbst in seinenParerga und Paralipomena IIsogar ausdrücklich chemischeFarbanalysen. Im Hinblick auf eine „Sammlung von Gemälden aus der altenNiederrheinischen Schule“, vor allem auf „Johann van Eyck“ als „ächtesGenie“ (PP II, Kap. 19, § 234, Hü 479), schreibt Schopenhauer: „Ihr Hauptver-dienst, jedoch nur beivan Eyckund seinen besten Schülern, besteht in dertäuschendesten Nachahmung der Wirklichkeit [...]; sodann in der Lebhaftigkeit
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 356–357113der Farben [...]: sie sind brennend und bringen die höchste Energie der Farbezu Tage [...]. Hätten doch Raphael und Correggio diese Farben gekannt! Abersie blieben ein Geheimniß der Schule und sind daher verloren gegangen. Mansollte sie chemisch untersuchen“ (PP II, Kap. 19, § 234, Hü 480–481). – Aller-dings findet sich in denParerga und Paralipomena IIan späterer Stelle aucheine Aussage Schopenhauers, die durchaus mit N.s Auffassung korrespondiert.Hier kritisiert Schopenhauer Präferenzen des großen Publikums „für denStoff“, indem er schreibt: „Diese Vorliebe für den Stoff im Gegensatz der Formist wie wenn Einer die Form und Malerei einer schönen hetrurischen Vase un-beachtet ließe, um den Thon und die Farben derselben chemisch zu untersu-chen“ (PP II, Kap. 23, § 274, Hü 538).357, 2begriffliche Scholastik]Die philosophisch-theologische Lehre der Scho-lastik wurde im Mittelalter an Universitäten und Schulen entwickelt, um diearistotelische Denktradition zu vermitteln. Von Christen- und Judentum beein-flusst, schuf die Scholastik ontologische Begriffe und theologische Systeme, indenen alles Seiende auf die Absichten eines Schöpfergottes zurückgeführtwird. – Schopenhauer geht in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philosophieauf die Scholastik ein, wenn er die Kontamination der Philosophie durch „spe-kulative Theologie“ kritisiert: „Gewiß aber ist, daß alle und jede Glaubensarti-kel, sie mögen nun offen und unverhohlen in die Philosophie hineingetragenseyn, wie Dies in der Scholastik geschah, oder durch petitiones principii, fal-sche Axiome [...], der Philosophie zum entschiedenen Verderb gereichen; weilall Dergleichen die klare, unbefangene, rein objektive Auffassung der Welt undunsers Daseyns, diese erste Bedingung alles Forschens nach Wahrheit, unmög-lich macht“ (PP I, Hü 204).357, 2–3das Loos der ungebändigten Dialektiker]Schon in derGeburt der Tra-gödiezieht N. gegen die Dialektik zu Felde (KSA 1, 94, 21–22; 95, 24–25; 101, 5–7); vgl. die Kommentare hierzu in NK 1/1. Die spezifischen Erkenntnisdefiziteder „ungebändigten Dialektiker“ betont N. selbst wenige Zeilen später, wenner gegen „das gelehrtenhafte Für und Wider“ in den Werken „aller Viertelsphi-losophen“ polemisiert, die „sofort auf die Stellen im Bau grosser Philosophiengerathen, wo das gelehrtenhafte Für und Wider, wo Grübeln, Zweifeln, Wider-sprechen erlaubt ist“ (357, 3–7). An ihnen beanstandet er, dass sie dabei denTotalitätsanspruch „jeder grossen Philosophie“ ignorieren, die auf die Vermitt-lung zwischen dem „Bild alles Lebens“ und dem Sinn individuellen Lebenszielt (357, 8–10). Vgl. auchMenschliches, Allzumenschliches II: Hier kritisiert N.in MA II 137 die „schlechtesten Leser“, die „wie plündernde Soldaten verfah-ren: sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzenund verwirren das Uebrige und lästern auf das Ganze“ (KSA 2, 436, 2–6). Die-
114Schopenhauer als Erziehersem problematischen Verhalten im Umgang mit der philosophischen Traditionstellt N. einen ganzheitlichen Ansatz gegenüber: eine existentielle Aneignungder Philosophie, die dem Menschen dazu verhelfen soll, die eigene Lebensrea-lität besser zu verstehen.357, 7–11Forderung jeder grossen Philosophie [...]: dies ist das Bild alles Le-bens, und daraus lerne den Sinn deines Lebens. Und umgekehrt: lies nur deinLeben und verstehe daraus die Hieroglyphen des allgemeinen Lebens.]N.s Per-spektive auf die vom Philosophen zu deutende Lebenstotalität folgt dem Prin-zip des hermeneutischen Zirkels, indem sie dialektische Vermittlungen zwi-schen individueller Existenz und Naturganzheit nahelegt, die das Verständnissowohl für den Gesamtzusammenhang des Lebens als auch für die Besonder-heit des Einzelwesens vertiefen. Mit dieser Korrelation schließt N. an Thesenan, die bereits Schopenhauer in seiner SchriftUeber die Universitäts-Philoso-phieformuliert: „Die wirklichen Denker haben aufEinsicht, undzwar ihrerselbst wegen, hingearbeitet [...]. Daher erwächst in ihnen [...] eine feste, zusam-menhängende Grundansicht, die zu ihrer Basis allemal dieanschaulicheAuffassung der Welt hat, und von der Wege ausgehn zu allen speciellen Wahr-heiten, welche selbst wieder Licht zurückwerfen auf jene Grundansicht“ (PP I,Hü 170–171).Die bereits von Schopenhauer gebrauchte ästhetische Metapher vom ‚Bild‘des Lebens (WWV II, Kap. 30, Hü 428), das der Philosoph durch sein intuitivesVerständnis des Wesens der Welt zu erfassen vermag, verwendet N. in UB III SEmehrfach (356, 28–29; 361, 13; 367, 7). Vgl. auch die dortigen Stellenkommenta-re. – Auch der Begriff der ‚Hieroglyphe‘ findet sich bereits bei Schopenhauerin einem analogen metaphorischen Zusammenhang. In denParerga und Parali-pomena IIschreibt er im Kontext erkenntnistheoretischer Reflexionen, die of-fensichtlich von der Kantischen Transzendentalphilosophie angeregt sind:Wenn der Mensch erkannt hat, dass „die Gesetze des Erkennens, Denkens undder Erfahrung“ nicht „rein objektiv, an und für sich und absolut vorhanden“sind, sondern umgekehrt „sein Intellekt [...] die Bedingung aller jener Gesetze“ist, dann „sieht er auch ein, daß die ihm jetzt klar gewordene Idealität desRaumes, der Zeit und der Kausalität Platz läßt für eine ganz andere Ordnungder Dinge, als die der Natur ist, welche letztere er jedoch als das Resultat,oder die Hieroglyphe, jener andern anzusehn genöthigt ist“ (PP II, Kap. 3, § 27,Hü 39).357, 18–19Er lehrt uns zwischen den wirklichen und scheinbaren Beförderungendes Menschenglücks unterscheiden]Differenzierungen dieser Art bilden einenSchwerpunkt von SchopenhauersAphorismen zur Lebensweisheit. Im Kapitel 1exponiert Schopenhauer die „Grundeintheilung“ seiner Schrift. Die Basis für
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 357115„den Unterschied im Loose der Sterblichen“ führt er auf „drei Grundbestim-mungen“ zurück (PP I, Hü 335): „1. Was Einer ist: also die Persönlichkeit, imweitesten Sinne. Sonach ist hierunter Gesundheit, Kraft, Schönheit, Tempera-ment, moralischer Charakter, Intelligenz und Ausbildung derselben begriffen.2. Was Einer hat: also Eigenthum und Besitz in jeglichem Sinne. 3. Was Einervorstellt:unter diesem Ausdruck wird bekanntlich verstanden, was er in derVorstellung Anderer ist, also eigentlich, wie er von ihnenvorgestellt wird.Es besteht demnach in ihrer Meinung von ihm, und zerfällt in Ehre, Rang undRuhm.“Schopenhauer versteht seineAphorismen zur Lebensweisheitals „Kunst,das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen“, und dispen-siert sich hier „von dem höheren, metaphysisch-ethischen Standpunkte“ seinerPhilosophie (PP I, Hü 333), die schon die Möglichkeit eines glücklichen Lebensnegiert, also mit einem eudaimonologischen Projekt nicht kompatibel ist (vgl.dazu auch NK 373, 4–15). Von den obigen „drei Grundbestimmungen“ (PP I,Hü 335) hält Schopenhauer die erste für die wichtigste. Über den „Menschen“schreibt er: „durch seine Individualität ist das Maaß seines möglichen Glückeszum Voraus bestimmt. Besonders haben die Schranken seiner Geisteskräfte sei-ne Fähigkeit für erhöhten Genuß ein für alle Mal festgestellt. [...] Sind sie eng,so werden alle Bemühungen von außen, Alles was Menschen, Alles was dasGlück für ihn thut, nicht vermögen, ihn über das Maaß des gewöhnlichen, halbthierischen Menschenglücks und Behagens hinaus zu führen [...]. Hieraus alsoist klar, wie sehr unser Glück abhängt von Dem, was wirsind, vonunsererIndividualität; während man meistens nur unser Schicksal, nur Das, was wirhaben,oder was wirvorstellen, inAnschlag bringt“ (PP I, Hü 338). ZuSchopenhauers divergenten Glückskonzepten vgl. Neymeyr 1996b.357, 27–28Es ist freilich ein Streben, welches [...] zur Resignation hinleitet]Hierzitiert N. affirmativ aus der Tragödientheorie, die Schopenhauer im DrittenBuch derWelt als Wille und Vorstellung IIentwirft: „Was allem Tragischen [...]den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt, ist das Aufgehn der Er-kenntniß, daß die Welt, das Leben, kein wahres Genügen gewähren könne,mithin unserer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tragischeGeist: er leitet demnach zur Resignation hin“ (WWV II, Kap. 37, Hü 495). Nachder Konzeption, die Schopenhauer unter Rekurs auf die indische Philosophieim Vierten Buch seines Hauptwerks entfaltet, kann der Mensch, wenn er sichvom Willen zum Leben abwendet, den Zustand „der freiwilligen Entsagung,der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenslosigkeit“erreichen (WWV I, § 68, Hü 448). Diese Konsequenzen aus Schopenhauers pes-simistischer Willensmetaphysik, die N. in UB III SE noch übernimmt, verwirfter später als lebensverneinenden „Resignationismus“. So entwickelt er im „Ver-
116Schopenhauer als Erziehersuch einer Selbstkritik“, den er 1886 der Neuausgabe derGeburt der Tragödievoranstellte, sein Konzept des Tragischen sogar in expliziter Abgrenzung vonSchopenhauer: „Wie dachte doch Schopenhauer über die Tragödie? ‚Was allemTragischen den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt – sagt er [...] –ist das Aufgehen der Erkenntniss, dass die Welt, das Leben kein rechtes Genü-gen geben könne, mithin unsrer Anhänglichkeitnicht werthsei: darin be-steht der tragische Geist –, er leitet demnach zurResignationhin‘. Oh wieanders redete Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir damals gerade dieserganze Resignationismus!“ (KSA 1, 19, 28 – 20, 4). Zum Konzept des Tragischenbei Schopenhauer und N. vgl. Neymeyr 2011.358, 1–4wie er aus dem Gefühl seiner Sündhaftigkeit sich hin nach dem Heiligensehnt, so trägt er, als intellectuelles Wesen, ein tiefes Verlangen nach dem Geniusin sich.]Hier schließt N. an Konzepte an, die Schopenhauer im Dritten undVierten Buch derWelt als Wille und Vorstellung Ientfaltet: „Bei weiter gebilde-tem Christenthum sehn wir nun jenen asketischen Keim sich zur vollen Blütheentfalten, in den Schriften der Christlichen Heiligen und Mystiker. Diese predi-gen neben der reinsten Liebe auch völlige Resignation, freiwillige gänzlicheArmuth, wahre Gelassenheit, vollkommene Gleichgültigkeit gegen alle weltli-chen Dinge, Absterben dem eigenen Willen und Wiedergeburt in Gott, gänzli-ches Vergessen der eigenen Person und Versenken in die Anschauung Gottes“(WWV I, § 68, Hü 457). – Den „Vorzug des Genius vor den Andern“ erblicktSchopenhauer darin, dass ihn der „Genuß alles Schönen, der Trost, den dieKunst gewährt, der Enthusiasmus des Künstlers [...] die Mühen des Lebens ver-gessen läßt“ und so „das mit der Klarheit des Bewußtseyns in gleichem Maßegesteigerte Leiden“ zu kompensieren vermag (WWV I, § 52, Hü 315). Dem Geni-us sei die „reine, wahre und tiefe Erkenntniß des Wesens der Welt [...] Zweckan sich [...].“ Daher fungiere sie für ihn – anders als „bei dem zur Resignationgelangten Heiligen“ – nicht als „Quietiv des Willens, erlöst ihn nicht auf im-mer, sondern nur auf Augenblicke vom Leben, und ist ihm so noch nicht derWeg aus demselben, sondern nur einstweilen ein Trost in demselben; bis seinedadurch gesteigerte Kraft, endlich des Spieles müde, den Ernst ergreift“(WWV I, § 52, Hü 316). Jean Améry sieht in N.s Vorstellung des ‚Genius‘ inUB III SE bereits „denÜbermenschen[...] präsent“ (Jean Améry [1975] 2004,397) und setzt voraus, dass N. sich selbst meint, „wenn er vom Genius redet“(ebd., 398), mithin letztlich „vom Übermenschen Nietzsche“ spricht (ebd., 399).Im vorliegenden Textzusammenhang erklärt N.: „Jeder Mensch pflegt insich eine Begrenztheit vorzufinden, seiner Begabung sowohl als seines sittli-chen Wollens“ (357, 33–34), die „ihn mit Sehnsucht und Melancholie erfüllt“und „ein tiefes Verlangen nach dem Genius in sich“ auslöst (358, 1–4). DieseAussagen instrumentalisiert Holm, um sie autobiographisch als implizites
Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 358117Selbstbekenntnis N.s zu lesen und seine verengende Lektüre dann polemischgegen N. selbst zu wenden: „Nietzsche sieht sich nicht im Stande produktivzu sein, wie sein Ideal es von ihm fordert. Er hat nicht komponiert wie diegroßen Komponisten und nicht gedichtet wie Goethe, Schiller, Beethovenoder Wagner“ (Holm 2016, 157). Holm beruft sich hier auf Overbeck (2011,65 f.). Darüber hinaus reproduziert er sogar zustimmend die despektierlicheMeinung des Dirigenten Wilhelm Furtwängler, der über N. folgendermaßenspekuliert: „Nietzsches Erfolg liegt darin, daß er, selbst im tiefsten unproduk-tiv, damit Schicksalsgenosse aller Unproduktiven wurde. Er hatte auf der ei-nen Seite die Forderungen des Produktiven, auf der anderen aber nichts, umsie zu rechtfertigen, nichts, womit er sich selbst und der Zeit entfliehen konn-te. So blieb er der Zeit ausgeliefert wie kein anderer und mußte leiden wiekein anderer. Das ist seine Größe, seine Art von Größe“ (Furtwängler 1996,217).358, 4–8Hier ist die Wurzel aller wahren Cultur; und wenn ich unter dieser dieSehnsucht der Menschen verstehe, als Heiliger und als Geniuswiedergeborenzu werden, so weiss ich, dass man nicht erst Buddhaist sein muss, um diesenMythus zu verstehen.]Nach Christentum, Islam und Hinduismus ist der vorallem in Asien sehr verbreitete Buddhismus die viertgrößte Weltreligion. DerUrsprung der buddhistischen Lehrtradition und Religion liegt in Indien, undetwa ein Viertel aller Buddhisten leben in China. Die Buddhisten berufen sichauf die Lehren des Siddhartha Gautama, der im 5. und möglicherweise nochim frühen 4. Jahrhundert v. Chr. in Nordindien lebte. Zur Abgrenzung vonmythischen Buddha-Gestalten, die nicht durch geschichtliche Dokumente be-zeugt sind, wird er als ‚historischer Buddha‘ bezeichnet. – Der Ehrentitel ‚Bud-dha‘ bedeutet im Sanskrit ‚Erwachter‘ und bezieht sich auf ein Erlebnis, dasals Bodhi (‚Erwachen‘) beschrieben wird. Nach der Lehre des Buddhismus istdamit eine fundamentale Einsicht in die Grundbedingungen allen Lebens ge-meint, aus der sich die Möglichkeit ergibt, das leidvolle Dasein zu überwinden.Eine Erlösung von dem existentiellen Leiden, das aus dem Lebenswillen desIndividuums resultiert, wird nach Auffassung der Buddhisten durch ethischwertvolles Verhalten möglich, das auf der intuitiven Erkenntnis eigener frühe-rer Wiedergeburten durch meditative Verinnerlichung basiere. Erforderlich seidazu ein mittlerer Weg zwischen den beiden Extremen Askese und Hedonis-mus. Charakteristisch für die Existenzform des Heiligen sei die Auslöschungdes ‚Willens‘ im Nirwana, im Nichts, so dass dann nur noch die äußere irdischeExistenz bis zum physischen Tod andauere. (Zu den Affinitäten zwischenSchopenhauer und N. hinsichtlich des Nihilismus vgl. Lütkehaus 2012, 301–316. Zum Spannungsfeld zwischen Askese und Hedonismus in der Schopen-hauer- und N.-Rezeption Thomas Manns vgl. Neymeyr 2020.) – Schopenhauer
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston
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