Home History 2 Kulturgeschichtlich-medizinhistorischer Rahmen
Chapter
Licensed
Unlicensed Requires Authentication

2 Kulturgeschichtlich-medizinhistorischer Rahmen

Become an author with De Gruyter Brill
https://doi.org/10.1515/9783110619041-002 2Kulturgeschichtlich-medizinhistorischer Rahmen Die kulturgeschichtliche Betrachtung des Iatromagiebegriffes konzentriert sich zu-nächst auf Ursprung und Entwicklung iatromagischer Motive sowie deren Verflech-tung mit traditionellen Formen der Heilkunde, deren rituell-religiöse Basis, ihren mythologischen Hintergrund sowie ihrer Veränderung bzw. Adaption in Aus-einandersetzung mit der Rationalisierung der Medizin und einer dementsprechen-den geistesgeschichtlichen Entwicklung. Die entscheidende Weichenstellung im antiken medizinischen Denken begegnet bereits innerhalb der frühesten Schriften des Corpus Hippocraticum (5. Jh. v.Chr. – 2. Jh. n.Chr.) mit ihrem Postulat einer wis-senschaftlichen Ausrichtung der Heilkunde unter Verzicht auf das bislang eng mit ihr verbundene religiös-theurgische Element (vgl. Kap. 2.6.1). An der nachfolgenden Rezeption dieser veränderten Medizinauffassung lässt sich jedoch beobachten, dass die ursprünglich in den Komplex der Heilkunde integrierten iatromagischen Motive keinesfalls verschwinden, sondern sich entweder in den Bereich der Volksheilkunde verlagern, oder sich innerhalb der christlichen Wunderheilungen mit ihren Reli-quien-kulten verselbständigen, oder aber auch mit der wissenschaftlich orientierten Medizin synkretistische Verbindungen eingehen. Die nachfolgende Erörterung so-wie die Textanalysen des zweiten Teils der Untersuchung (vgl. Kap. 4) werden diese Fokusverlagerung in ihren vielfältigen Erscheinungsformen dokumentieren. Rezeptionsgeschichtlich besetzt auch auf dem Gebiet der Heilkunde und Iatro-magie die byzantinische Antikenrezeption eine herausragende Position, indem sie entscheidende Fokussierungen vornimmt und motivische Symbiosen gestaltet, die dann wiederum bemerkenswerte Veränderungen innerhalb des medizinischen Den-kens bewirken (vgl. Kap. 3.1). Byzantinische Kompilationen des antiken medizini-schen Schrifttums basieren zwar zweifelsohne auf dem Corpus Hippocraticum und dessen Bearbeitung, Kommentierung, Ergänzung und Erweiterung vornehmlich durch Galen (129/30–199/201/215 n.Chr.)1, doch lassen viele dieser Texte zugleich auch eine deutlich praktische Ausrichtung und gerade im Bereich der Therapeutik sehr individuelle Abwägungen der einzelnen Überlieferungen erkennen. Der rezepti-ve Charakter wird um empirische Werte ergänzt, die auf äußerst sorgfältiger Dia-gnose und scharfer Beobachtung der Konstitution des einzelnen Patienten beruhen und in manchen Fällen sogar experimentell basiert sein können. Die jeweilige Aus-wahl und Redaktion der Quellenexzerpte und deren Aneinanderreihung zu einem kompilatorischen Gefüge beruht auf individuellem Denken und praxisorientierten Schwerpunktsetzungen. Diese rezeptiv-kompilatorische Vorgehensweise der byzan-|| 1 Vgl. Temkin 1973, 51–94; O. Temkin, ›On Second Thought‹ and Other Essays in the History of Medicine and Science (Baltimore/London 2002) 165–179 (Kap. 9: »Galenicals and Galenism in the History of Medicine«) sowie P. Bouras-Vallianatos, Galen in Byzantine medical Literature, in: Brill’s Companion to the Reception of Galen 2019, 86–110.
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

https://doi.org/10.1515/9783110619041-002 2Kulturgeschichtlich-medizinhistorischer Rahmen Die kulturgeschichtliche Betrachtung des Iatromagiebegriffes konzentriert sich zu-nächst auf Ursprung und Entwicklung iatromagischer Motive sowie deren Verflech-tung mit traditionellen Formen der Heilkunde, deren rituell-religiöse Basis, ihren mythologischen Hintergrund sowie ihrer Veränderung bzw. Adaption in Aus-einandersetzung mit der Rationalisierung der Medizin und einer dementsprechen-den geistesgeschichtlichen Entwicklung. Die entscheidende Weichenstellung im antiken medizinischen Denken begegnet bereits innerhalb der frühesten Schriften des Corpus Hippocraticum (5. Jh. v.Chr. – 2. Jh. n.Chr.) mit ihrem Postulat einer wis-senschaftlichen Ausrichtung der Heilkunde unter Verzicht auf das bislang eng mit ihr verbundene religiös-theurgische Element (vgl. Kap. 2.6.1). An der nachfolgenden Rezeption dieser veränderten Medizinauffassung lässt sich jedoch beobachten, dass die ursprünglich in den Komplex der Heilkunde integrierten iatromagischen Motive keinesfalls verschwinden, sondern sich entweder in den Bereich der Volksheilkunde verlagern, oder sich innerhalb der christlichen Wunderheilungen mit ihren Reli-quien-kulten verselbständigen, oder aber auch mit der wissenschaftlich orientierten Medizin synkretistische Verbindungen eingehen. Die nachfolgende Erörterung so-wie die Textanalysen des zweiten Teils der Untersuchung (vgl. Kap. 4) werden diese Fokusverlagerung in ihren vielfältigen Erscheinungsformen dokumentieren. Rezeptionsgeschichtlich besetzt auch auf dem Gebiet der Heilkunde und Iatro-magie die byzantinische Antikenrezeption eine herausragende Position, indem sie entscheidende Fokussierungen vornimmt und motivische Symbiosen gestaltet, die dann wiederum bemerkenswerte Veränderungen innerhalb des medizinischen Den-kens bewirken (vgl. Kap. 3.1). Byzantinische Kompilationen des antiken medizini-schen Schrifttums basieren zwar zweifelsohne auf dem Corpus Hippocraticum und dessen Bearbeitung, Kommentierung, Ergänzung und Erweiterung vornehmlich durch Galen (129/30–199/201/215 n.Chr.)1, doch lassen viele dieser Texte zugleich auch eine deutlich praktische Ausrichtung und gerade im Bereich der Therapeutik sehr individuelle Abwägungen der einzelnen Überlieferungen erkennen. Der rezepti-ve Charakter wird um empirische Werte ergänzt, die auf äußerst sorgfältiger Dia-gnose und scharfer Beobachtung der Konstitution des einzelnen Patienten beruhen und in manchen Fällen sogar experimentell basiert sein können. Die jeweilige Aus-wahl und Redaktion der Quellenexzerpte und deren Aneinanderreihung zu einem kompilatorischen Gefüge beruht auf individuellem Denken und praxisorientierten Schwerpunktsetzungen. Diese rezeptiv-kompilatorische Vorgehensweise der byzan-|| 1 Vgl. Temkin 1973, 51–94; O. Temkin, ›On Second Thought‹ and Other Essays in the History of Medicine and Science (Baltimore/London 2002) 165–179 (Kap. 9: »Galenicals and Galenism in the History of Medicine«) sowie P. Bouras-Vallianatos, Galen in Byzantine medical Literature, in: Brill’s Companion to the Reception of Galen 2019, 86–110.
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston
Downloaded on 14.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/9783110619041-002/pdf?licenseType=restricted&srsltid=AfmBOor7ui4fNpOcUrLA-xXBGH91DiGiXfICGdmB169aHliuzXlpIxJt
Scroll to top button