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4.3 Früher Tonfilm

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Handbuch Literatur & Film
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https://doi.org/10.1515/9783110558586-0214.3 Früher TonfilmDaisuke Yanagibashi1. Zwischen den Narrativen: Tonfilm als Progression oder Regression?In den ersten Jahren nach dem Aufkommen des Tonfilms standen sich im filmhis-torischen und medientheoretischen Diskurs zwei Lager frontal gegenüber. Sie kon-kurrierten miteinander um die Deutung des Stellenwerts, den dieses Ereignis in der frühen Filmgeschichte besaß: Die einen sahen im sprechenden Film einen künstleri-schen Fortschritt, denn der Traum der ‚Veredelung des Kientopps‘, den die Gebildeten seit der Kinodebatte um 1910 gehegt hatten, sollte damit endlich in Erfüllung gehen. Die anderen hielten die Implementierung des Tonfilms für einen störenden Eingriff von außen, der den Reifungsprozess des Films von einer schäbigen Jahrmarktdar-bietung zur verfeinerten Kunst abrupt unterbrach. Es war ihnen, als würden die bisherigen künstlerischen Bestrebungen der Filmmacher, allein mit Bildern eine subtile, inhaltlich zusammenhängende Diegese zu erzählen, auf einmal annulliert. Als müsste der Film nunmehr zu einem Abklatsch des Theaters regredieren.Der Tonfilm – Progression oder Regression? In den beiden Lagern der Filmdis-kussion zeigte derselbe historische Vorgang der Entstehung des Tonfilms jeweils ein anderes Gesicht. Die unterschiedliche Bewertung des frühen Tonfilms hing von der Einstellung zur Vorgeschichte des Films ab, mit anderen Worten: von der jeweiligen Erzählung, in die das Aufkommen des Tonfilms eingebettet wurde. Je nach der Art und Weise des emplotment sieht man in diesem Vorgang entweder das Schlüsselereignis eines kinematographischen Siegeszugs oder ein Menetekel, das einen bevorstehenden Untergang anzukündigen scheint. Die filmhistorische und filmtheoretische Debatte um den Tonfilm lässt sich insofern als ein Deutungs-streit um eine Erfolgs- oder eine Verfallsgeschichte betrachten, oder, um mit Hayden Whites „Poetik der Geschichte“ zu sprechen: um eine ‚Romanze‘ oder eine ‚Satire‘. Die eine Grundform, so White, deute auf „ein Drama vom Triumph des Guten über das Böse, der Tugend über das Laster, des Lichtes über die Finsternis und des end-lichen Sieges des Menschen über die Welt, in die er infolge des Sündenfalls ver-bannt war“. Die andere soll im Gegensatz dazu ein Drama mit der Erkenntnis dar-stellen, dass „das Bewußtsein und der Wille des Menschen angesichts der Aufgabe, die dunklen Mächte, den Tod endgültig zu überwinden, im Grunde unzulänglich seien“ (White 2015 [1973], 10, 22).Der Tonfilm, der nun mit Klang und Stimme wirkungsvoll zu erzählen ver-mochte, wurde auf diese Weise in der film- und medientheoretischen Analyse selbst
© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

https://doi.org/10.1515/9783110558586-0214.3 Früher TonfilmDaisuke Yanagibashi1. Zwischen den Narrativen: Tonfilm als Progression oder Regression?In den ersten Jahren nach dem Aufkommen des Tonfilms standen sich im filmhis-torischen und medientheoretischen Diskurs zwei Lager frontal gegenüber. Sie kon-kurrierten miteinander um die Deutung des Stellenwerts, den dieses Ereignis in der frühen Filmgeschichte besaß: Die einen sahen im sprechenden Film einen künstleri-schen Fortschritt, denn der Traum der ‚Veredelung des Kientopps‘, den die Gebildeten seit der Kinodebatte um 1910 gehegt hatten, sollte damit endlich in Erfüllung gehen. Die anderen hielten die Implementierung des Tonfilms für einen störenden Eingriff von außen, der den Reifungsprozess des Films von einer schäbigen Jahrmarktdar-bietung zur verfeinerten Kunst abrupt unterbrach. Es war ihnen, als würden die bisherigen künstlerischen Bestrebungen der Filmmacher, allein mit Bildern eine subtile, inhaltlich zusammenhängende Diegese zu erzählen, auf einmal annulliert. Als müsste der Film nunmehr zu einem Abklatsch des Theaters regredieren.Der Tonfilm – Progression oder Regression? In den beiden Lagern der Filmdis-kussion zeigte derselbe historische Vorgang der Entstehung des Tonfilms jeweils ein anderes Gesicht. Die unterschiedliche Bewertung des frühen Tonfilms hing von der Einstellung zur Vorgeschichte des Films ab, mit anderen Worten: von der jeweiligen Erzählung, in die das Aufkommen des Tonfilms eingebettet wurde. Je nach der Art und Weise des emplotment sieht man in diesem Vorgang entweder das Schlüsselereignis eines kinematographischen Siegeszugs oder ein Menetekel, das einen bevorstehenden Untergang anzukündigen scheint. Die filmhistorische und filmtheoretische Debatte um den Tonfilm lässt sich insofern als ein Deutungs-streit um eine Erfolgs- oder eine Verfallsgeschichte betrachten, oder, um mit Hayden Whites „Poetik der Geschichte“ zu sprechen: um eine ‚Romanze‘ oder eine ‚Satire‘. Die eine Grundform, so White, deute auf „ein Drama vom Triumph des Guten über das Böse, der Tugend über das Laster, des Lichtes über die Finsternis und des end-lichen Sieges des Menschen über die Welt, in die er infolge des Sündenfalls ver-bannt war“. Die andere soll im Gegensatz dazu ein Drama mit der Erkenntnis dar-stellen, dass „das Bewußtsein und der Wille des Menschen angesichts der Aufgabe, die dunklen Mächte, den Tod endgültig zu überwinden, im Grunde unzulänglich seien“ (White 2015 [1973], 10, 22).Der Tonfilm, der nun mit Klang und Stimme wirkungsvoll zu erzählen ver-mochte, wurde auf diese Weise in der film- und medientheoretischen Analyse selbst
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