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Linguistische Relativität im Recht?

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Georgia StefanopoulouLinguistische Relativität im Recht?1„Wer Deutsch spricht, spart mehr“ (Chen in Fiedler 2013), behauptet eine aktu-elle Studie des Yale-Ökonomen Keith Chen (2011), der das ökonomische Verhal-ten der von der Finanzkrise betroffenen Länder auf der Grundlage sprachlicher Strukturen erklären will. Die Studie differenziert zwischen zwei Gruppen von Sprachen. Sie identifiziert zum einen die Gruppe sog. „zukunftsloser“ Spra-chen2, in denen grammatikalisch nicht zwingend zwischen Gegenwart und Zukunft unterschieden werde und für die Ankündigung von zukünftigen Ereig-nissen auch das Präsens verwendet werden könne (Chen in Fiedler 2013; Bütt-ner 2012). Eine „zukunftslose“ Sprache sei neben Chinesisch und den skandina-vischen Sprachen auch das Deutsche (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). Im Deutschen kann man sagen „Morgen werde ich ein Auto kaufen“ oder „Morgen werde ich sparen“, aber man kann auch die Gegenwartsform wie in „Morgen kaufe ich ein Auto“ oder „Morgen spare ich“ verwenden (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). Diesen Sprachen gegenüber stehen für Chen solche Sprachen, in denen man über die Zukunft nur durch Verwendung des Futurs sprechen kön-ne.3 Zu dieser zweiten Gruppe gehörten unter anderem das Griechische, Portu-giesische und Spanische (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). In der Tat wären im Griechischen die Sätze „Morgen kaufe ich ein Auto“ oder „Morgen spare ich“ grammatikalisch falsch. Griechische Sprecher werden durch die grammatischen Strukturschemata ihrer Muttersprache gezwungen, deutlicher zwischen Gegen-wart und Zukunft zu unterscheiden, was nach Chen zu einem anderen Sparver-halten als jenem von deutschen Muttersprachlern führt (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). Da der Nutzen des heutigen Sparens erst morgen zu genießen sei, verlange das Sparen eine gewisse Überwindung des Wunsches zum kurzfristi-gen Ertrag (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). Ähnlich macht der Soziologe Armin Nassehi (2013: 22) auf den Zusammenhang zwischen Schulden und Zeit aufmerksam. Unsere Kultur weise eine Gegenwartsorientierung auf, die zu Schulden führe (2013: 22). Lust werde durch sofortige Verwirklichung der Wün-sche und Bedürfnisse befriedigt, statt durch Langsicht und Aufschub (Nassehi 2013: 22). Die Gegenwartsorientierung der griechischen Gesellschaft wird, folgt man der Studie von Chen, wegen der grammatischen Distanzierung der Zukunft || 1 Wichtige Hinweise verdanke ich Jochen Bung. 2 „futureless languages“ (Chen 2011: 1) 3 „strong future-time reference languages“ (Chen 2011: 1)
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

Georgia StefanopoulouLinguistische Relativität im Recht?1„Wer Deutsch spricht, spart mehr“ (Chen in Fiedler 2013), behauptet eine aktu-elle Studie des Yale-Ökonomen Keith Chen (2011), der das ökonomische Verhal-ten der von der Finanzkrise betroffenen Länder auf der Grundlage sprachlicher Strukturen erklären will. Die Studie differenziert zwischen zwei Gruppen von Sprachen. Sie identifiziert zum einen die Gruppe sog. „zukunftsloser“ Spra-chen2, in denen grammatikalisch nicht zwingend zwischen Gegenwart und Zukunft unterschieden werde und für die Ankündigung von zukünftigen Ereig-nissen auch das Präsens verwendet werden könne (Chen in Fiedler 2013; Bütt-ner 2012). Eine „zukunftslose“ Sprache sei neben Chinesisch und den skandina-vischen Sprachen auch das Deutsche (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). Im Deutschen kann man sagen „Morgen werde ich ein Auto kaufen“ oder „Morgen werde ich sparen“, aber man kann auch die Gegenwartsform wie in „Morgen kaufe ich ein Auto“ oder „Morgen spare ich“ verwenden (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). Diesen Sprachen gegenüber stehen für Chen solche Sprachen, in denen man über die Zukunft nur durch Verwendung des Futurs sprechen kön-ne.3 Zu dieser zweiten Gruppe gehörten unter anderem das Griechische, Portu-giesische und Spanische (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). In der Tat wären im Griechischen die Sätze „Morgen kaufe ich ein Auto“ oder „Morgen spare ich“ grammatikalisch falsch. Griechische Sprecher werden durch die grammatischen Strukturschemata ihrer Muttersprache gezwungen, deutlicher zwischen Gegen-wart und Zukunft zu unterscheiden, was nach Chen zu einem anderen Sparver-halten als jenem von deutschen Muttersprachlern führt (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). Da der Nutzen des heutigen Sparens erst morgen zu genießen sei, verlange das Sparen eine gewisse Überwindung des Wunsches zum kurzfristi-gen Ertrag (Chen in Fiedler 2013; Büttner 2012). Ähnlich macht der Soziologe Armin Nassehi (2013: 22) auf den Zusammenhang zwischen Schulden und Zeit aufmerksam. Unsere Kultur weise eine Gegenwartsorientierung auf, die zu Schulden führe (2013: 22). Lust werde durch sofortige Verwirklichung der Wün-sche und Bedürfnisse befriedigt, statt durch Langsicht und Aufschub (Nassehi 2013: 22). Die Gegenwartsorientierung der griechischen Gesellschaft wird, folgt man der Studie von Chen, wegen der grammatischen Distanzierung der Zukunft || 1 Wichtige Hinweise verdanke ich Jochen Bung. 2 „futureless languages“ (Chen 2011: 1) 3 „strong future-time reference languages“ (Chen 2011: 1)
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