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3. Entscheidung

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"Europäische" Religionsgeschichte
This chapter is in the book "Europäische" Religionsgeschichte
3Entscheidung3.1Zugehörigkeit durch Entscheidung – eine zoroastrische Perspektive Kurz nach 1900 fand die Französin Suzanne Brière in Paris ihre große Liebe: den indischen Parsen Ratanji Dadabhoy Tata, Spross einer bedeutenden Unternehmerfamilie in Indien, die weltweit mit Perlen und Seide handelte. 1902 machte sie aus der Amoure eine Lebensent-scheidung und heiratete ihren Geliebten.1 Damit eröffnete sie, ohne es zu ahnen, einen Reli-gionskonflikt, in dem sie, wie in einem Brennglas, das Thema des zentralen Kapitels dieses Buches aufschlug: Entscheidung als Grund einer Zugehörigkeit oder gar einer Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft. Denn die vermutlich katholisch getaufte Madame Brière, die inzwischen Sooni hieß, fand die Religion ihres Mannes, den Zoroastrismus, attraktiver als die Religion ihrer Herkunft, vielleicht nicht zuletzt, weil die Lehren Zarathustras im 19. Jahr-hundert immer noch als „Philosophia perennis“, als ewige Weisheit und als ältester Mono-theismus der Menschheit gelten konnten – aller historischen Kritik zum Trotz.2 Wie ernst sie ihre Entscheidung und ihre (in christlicher Terminologie:) „Konversion“ nahm, dokumen-tierte sie in ihrem letzten Willen: Man möge sie in einem parsischen „Turm des Schweigens“ niederlegen, in einem seit islamischer Zeit in Indien dokumentierten „Totenturm“, in dem der Leichnam den Geiern und dem Wetter überlassen wird, um die parsischen Reinheitsvor-schriften zu erfüllen. Damit begann ein Konflikt, der für die indische Religionsgeschichte des 20.  Jahrhun-derts eine hohe Bedeutung erhielt: um Entscheidung und Mitgliedschaft in einer Religions-gemeinschaft. Denn die Nutzung der scheinbar selbstverständlichen Freiheit, über die Mit-gliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft selbst zu entscheiden, löste in der parsischen Gemeinschaft einen erbitterten Streit aus: War es überhaupt möglich, Parsin zu werden, also in die parsische „Religion“ einzutreten? War man nicht Parsin von Geburt an und musste man es nicht durch Geburt sein? Der Fall erwies sich innerhalb der parsischen Gemein-schaft als unlösbar und traf auf eine seit Beginn des 20.  Jahrhunderts in Indien laufende Debatte über die Möglichkeit eines Religionswechsels. 1908 wurde er vor den Bombay High Court gebracht,3 wo ein Parse, Dinshaw Davar, und ein Brite, Frank Beaman, über die Frage befinden mussten, ob Madame Sooni geborene Brière das Recht hatte, in einem Totenturm niedergelegt zu werden, womit eine Antwort auf die Frage verknüpft war, ob man in den Zoroastrismus eintreten könne. In der britischen Tradition der Rechtsprechung in Indien, die grosso modo darauf hinauslief, lokales Recht möglichst zu tolerieren, gab das Votum des Parsen Davar den Ausschlag,4 als das Gericht gegen die europäische – und wie sich zeigen wird, christlich geprägte Option – und für das parsische Verständnis einer Zugehörigkeit ent-1 www.tatacentralarchives.com/history/biographies/03 %20rdtata.htm (12. 3. 2012). Rafael Walthert danke ich für den Hinweis auf die parsische Debatte; s. dazu ders.: Reflexive Gemeinschaft.2 Stausberg: Faszination Zarathushtra. 3 Paletsia: The Parsis of India, 229–251; Dhalla: Contra Conversion, 115–135; Walthert: Reflexive Gemeinschaft, 70 f. 4 Sharafi: Judging Conversion to Zoroastrianism.
© 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

3Entscheidung3.1Zugehörigkeit durch Entscheidung – eine zoroastrische Perspektive Kurz nach 1900 fand die Französin Suzanne Brière in Paris ihre große Liebe: den indischen Parsen Ratanji Dadabhoy Tata, Spross einer bedeutenden Unternehmerfamilie in Indien, die weltweit mit Perlen und Seide handelte. 1902 machte sie aus der Amoure eine Lebensent-scheidung und heiratete ihren Geliebten.1 Damit eröffnete sie, ohne es zu ahnen, einen Reli-gionskonflikt, in dem sie, wie in einem Brennglas, das Thema des zentralen Kapitels dieses Buches aufschlug: Entscheidung als Grund einer Zugehörigkeit oder gar einer Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft. Denn die vermutlich katholisch getaufte Madame Brière, die inzwischen Sooni hieß, fand die Religion ihres Mannes, den Zoroastrismus, attraktiver als die Religion ihrer Herkunft, vielleicht nicht zuletzt, weil die Lehren Zarathustras im 19. Jahr-hundert immer noch als „Philosophia perennis“, als ewige Weisheit und als ältester Mono-theismus der Menschheit gelten konnten – aller historischen Kritik zum Trotz.2 Wie ernst sie ihre Entscheidung und ihre (in christlicher Terminologie:) „Konversion“ nahm, dokumen-tierte sie in ihrem letzten Willen: Man möge sie in einem parsischen „Turm des Schweigens“ niederlegen, in einem seit islamischer Zeit in Indien dokumentierten „Totenturm“, in dem der Leichnam den Geiern und dem Wetter überlassen wird, um die parsischen Reinheitsvor-schriften zu erfüllen. Damit begann ein Konflikt, der für die indische Religionsgeschichte des 20.  Jahrhun-derts eine hohe Bedeutung erhielt: um Entscheidung und Mitgliedschaft in einer Religions-gemeinschaft. Denn die Nutzung der scheinbar selbstverständlichen Freiheit, über die Mit-gliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft selbst zu entscheiden, löste in der parsischen Gemeinschaft einen erbitterten Streit aus: War es überhaupt möglich, Parsin zu werden, also in die parsische „Religion“ einzutreten? War man nicht Parsin von Geburt an und musste man es nicht durch Geburt sein? Der Fall erwies sich innerhalb der parsischen Gemein-schaft als unlösbar und traf auf eine seit Beginn des 20.  Jahrhunderts in Indien laufende Debatte über die Möglichkeit eines Religionswechsels. 1908 wurde er vor den Bombay High Court gebracht,3 wo ein Parse, Dinshaw Davar, und ein Brite, Frank Beaman, über die Frage befinden mussten, ob Madame Sooni geborene Brière das Recht hatte, in einem Totenturm niedergelegt zu werden, womit eine Antwort auf die Frage verknüpft war, ob man in den Zoroastrismus eintreten könne. In der britischen Tradition der Rechtsprechung in Indien, die grosso modo darauf hinauslief, lokales Recht möglichst zu tolerieren, gab das Votum des Parsen Davar den Ausschlag,4 als das Gericht gegen die europäische – und wie sich zeigen wird, christlich geprägte Option – und für das parsische Verständnis einer Zugehörigkeit ent-1 www.tatacentralarchives.com/history/biographies/03 %20rdtata.htm (12. 3. 2012). Rafael Walthert danke ich für den Hinweis auf die parsische Debatte; s. dazu ders.: Reflexive Gemeinschaft.2 Stausberg: Faszination Zarathushtra. 3 Paletsia: The Parsis of India, 229–251; Dhalla: Contra Conversion, 115–135; Walthert: Reflexive Gemeinschaft, 70 f. 4 Sharafi: Judging Conversion to Zoroastrianism.
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