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Symphonie als Dichtung

Zur Genealogie der »Symphonischen Dichtung« Franz Liszts
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Wolfram Steinbeck Symphonie als Dichtung Zur Genealogie der »Symphonischen Dichtung« Franz Liszts 1 Die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts lässt sich schreiben als theoretische wie praktische Diskursgeschichte über die Zulässigkeit und Qualität musikali-scher Intermedialität, die Möglichkeiten und Grenzen intermedialer Referentia-lität von Musik auf die anderen Künste: Sprache, Malerei, Theater; oder anders gesagt: als ästhetische und kompositorische Auseinandersetzung um das ›Reinheitsgebot‹ in der Musik. Auslöser dieses Diskurses dürfte eine neue Qualität des Komponierens im ausgehenden 18. Jahrhundert in Europa sein. Dafür steht paradigmatisch ein ›modernisierter‹ Musiktypus vor allem im deutschsprachigen Raum: die reine, wortlose und amimetische Instrumentalmusik, die sich gegen die Jahrhunderte währende ästhetische Vorrangstellung der Vokalmusik zu behaupten und defi-nitiv durchzusetzen beginnt. Neben dem älteren Solo-Konzert gehören dazu vor allem die noch jungen Gattungen Klaviersonate, Streichquartett und Sinfonie. Zwar hatte noch 1782 in J. J. Rousseaus Dictionnaire de musique unter dem Eintrag »Sonate« der oft zitierte Ausruf »sonate, que me veux-tu?« wieder abge-druckt werden können, womit das Entsetzen französischer Musiker zum Schlag-wort zusammengefasst war, die Sonaten, Sinfonien etc. – Musik ohne Text also – nicht nur für »langweilig«, sondern sogar für eine »unnatürliche Geschmack-losigkeit« erklärt hatten.1 Auch in der deutschsprachigen Literatur konnte man Ähnliches noch in den 1790er Jahren lesen.2 Dem gegenüber jedoch stand der || 1 Jean-Jacques Rousseau: Sonate. In: Dictionnaire de musique. 2 Bde. Paris 1782, Bd. 2, S. 132f.: »Aujourd’hui que les Instrumens sont la partie la plus importante de la Musique, les sonatessont extrêmement à la mode, de même que toute espece de symphonie; le vocal n’en est gueres que l’accessoire [...]. Nous tenons ce mauvais gôut de ceux qui [...] nous ont obligé de chercher à faire avec les Instrumens ce qu’il nous est impossible de faire avec nos voix. [...] La Musique purement harmonique [also ohne Text und Vokalstimme] est peu de chose; pour plaire const-amment, & prévenir l’ennui, elle doit s’élever au rang des arts d’imitation«. 2 Vgl. z.B. den Artikel »Sonate« in: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. 4 Bde u. 1 Rg.-Bd. Leipzig 21792–97, Repr. Hildesheim 1967–70, Bd. 4 (1794), S. 424f. Zwar könne »in keiner Form bequemere Gelegenheit« gegeben werden, das »Vermögen« der

Wolfram Steinbeck Symphonie als Dichtung Zur Genealogie der »Symphonischen Dichtung« Franz Liszts 1 Die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts lässt sich schreiben als theoretische wie praktische Diskursgeschichte über die Zulässigkeit und Qualität musikali-scher Intermedialität, die Möglichkeiten und Grenzen intermedialer Referentia-lität von Musik auf die anderen Künste: Sprache, Malerei, Theater; oder anders gesagt: als ästhetische und kompositorische Auseinandersetzung um das ›Reinheitsgebot‹ in der Musik. Auslöser dieses Diskurses dürfte eine neue Qualität des Komponierens im ausgehenden 18. Jahrhundert in Europa sein. Dafür steht paradigmatisch ein ›modernisierter‹ Musiktypus vor allem im deutschsprachigen Raum: die reine, wortlose und amimetische Instrumentalmusik, die sich gegen die Jahrhunderte währende ästhetische Vorrangstellung der Vokalmusik zu behaupten und defi-nitiv durchzusetzen beginnt. Neben dem älteren Solo-Konzert gehören dazu vor allem die noch jungen Gattungen Klaviersonate, Streichquartett und Sinfonie. Zwar hatte noch 1782 in J. J. Rousseaus Dictionnaire de musique unter dem Eintrag »Sonate« der oft zitierte Ausruf »sonate, que me veux-tu?« wieder abge-druckt werden können, womit das Entsetzen französischer Musiker zum Schlag-wort zusammengefasst war, die Sonaten, Sinfonien etc. – Musik ohne Text also – nicht nur für »langweilig«, sondern sogar für eine »unnatürliche Geschmack-losigkeit« erklärt hatten.1 Auch in der deutschsprachigen Literatur konnte man Ähnliches noch in den 1790er Jahren lesen.2 Dem gegenüber jedoch stand der || 1 Jean-Jacques Rousseau: Sonate. In: Dictionnaire de musique. 2 Bde. Paris 1782, Bd. 2, S. 132f.: »Aujourd’hui que les Instrumens sont la partie la plus importante de la Musique, les sonatessont extrêmement à la mode, de même que toute espece de symphonie; le vocal n’en est gueres que l’accessoire [...]. Nous tenons ce mauvais gôut de ceux qui [...] nous ont obligé de chercher à faire avec les Instrumens ce qu’il nous est impossible de faire avec nos voix. [...] La Musique purement harmonique [also ohne Text und Vokalstimme] est peu de chose; pour plaire const-amment, & prévenir l’ennui, elle doit s’élever au rang des arts d’imitation«. 2 Vgl. z.B. den Artikel »Sonate« in: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. 4 Bde u. 1 Rg.-Bd. Leipzig 21792–97, Repr. Hildesheim 1967–70, Bd. 4 (1794), S. 424f. Zwar könne »in keiner Form bequemere Gelegenheit« gegeben werden, das »Vermögen« der
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