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„Schlusen“: Effi Briest und „die rechte Liebe“

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Allegorie
Ein Kapitel aus dem Buch Allegorie
„Schlusen“Effi Briest und „die rechte Liebe“ Barbara Vinken„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“Joh 8,7I.Dieser Aufsatz gehört in einen größeren Rahmen, in dem es mir um eine neue Einschätzung des realistischen Romans geht. Erich Auerbach bezog bekanntlich den Realismus im Roman zurück auf die humile Stillage der Evangelien. Daran anknüpfend versuche ich zu zeigen, in welcher Hinsicht der realistische Roman grundsätzlich allegorisch ist, in dem Sinne, dass er ex negativo auf die Evangelien bezogen bleibt. Ent-gegen allem Augenschein und auktorialen Beteuerungen, heißt das, gibt es für den Realismus des Romans keinen säkularen Raum der Geschich-te. Insofern erzählt der säkularste Roman immer nur eine Geschichte, die des Lebens und Sterbens Christi. Das allerdings tut er auf tausend verschiedene Weisen. Er tut es nämlich anders als die Evangelien, esote-risch. In die realistische Oberfläche des Erzählens bleibt der Verweis auf sie versteckt eingeschrieben, en détail und en passant. Die prinzipielle Form, welche die Allegorie im Roman deshalb annimmt, ist die der Iro-nie . Der realistische Roman zeigt nämlich, dass es die in den Evangelien froh verkündete Zeitenwende nicht gegeben hat; jedenfalls ist sie ohne Wirkung geblieben. „Und das Wort ist Fleisch geworden“(Joh 1,14) und es hat den Buchstaben , der tötet, durch den Geist belebt (2 Kor 3,6) – das ist nicht passiert. Das Versprechen einer Liebe stärker als der Tod (1 Kor 13; Röm 8,38–39), einer unerhörten Liebe – auch das ist leeres Versprechen geblieben. Insofern ist der realistische Roman das veritable Dysangelium. Deshalb gibt es so viele verkehrte Marienleben, verkehrte Christusleben in Romanen. Beginnen wir mit einer Allegorie des Lesens, mit den „Schlusen“. In den Schlusen nämlich gibt uns Fontane weniger eine Anweisung, wie
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

„Schlusen“Effi Briest und „die rechte Liebe“ Barbara Vinken„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“Joh 8,7I.Dieser Aufsatz gehört in einen größeren Rahmen, in dem es mir um eine neue Einschätzung des realistischen Romans geht. Erich Auerbach bezog bekanntlich den Realismus im Roman zurück auf die humile Stillage der Evangelien. Daran anknüpfend versuche ich zu zeigen, in welcher Hinsicht der realistische Roman grundsätzlich allegorisch ist, in dem Sinne, dass er ex negativo auf die Evangelien bezogen bleibt. Ent-gegen allem Augenschein und auktorialen Beteuerungen, heißt das, gibt es für den Realismus des Romans keinen säkularen Raum der Geschich-te. Insofern erzählt der säkularste Roman immer nur eine Geschichte, die des Lebens und Sterbens Christi. Das allerdings tut er auf tausend verschiedene Weisen. Er tut es nämlich anders als die Evangelien, esote-risch. In die realistische Oberfläche des Erzählens bleibt der Verweis auf sie versteckt eingeschrieben, en détail und en passant. Die prinzipielle Form, welche die Allegorie im Roman deshalb annimmt, ist die der Iro-nie . Der realistische Roman zeigt nämlich, dass es die in den Evangelien froh verkündete Zeitenwende nicht gegeben hat; jedenfalls ist sie ohne Wirkung geblieben. „Und das Wort ist Fleisch geworden“(Joh 1,14) und es hat den Buchstaben , der tötet, durch den Geist belebt (2 Kor 3,6) – das ist nicht passiert. Das Versprechen einer Liebe stärker als der Tod (1 Kor 13; Röm 8,38–39), einer unerhörten Liebe – auch das ist leeres Versprechen geblieben. Insofern ist der realistische Roman das veritable Dysangelium. Deshalb gibt es so viele verkehrte Marienleben, verkehrte Christusleben in Romanen. Beginnen wir mit einer Allegorie des Lesens, mit den „Schlusen“. In den Schlusen nämlich gibt uns Fontane weniger eine Anweisung, wie
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

Kapitel in diesem Buch

  1. Frontmatter I
  2. Inhalt V
  3. Vorbemerkungen der Herausgeberin IX
  4. Sektion I. Orte der Überkreuzungen/ Ortlosigkeit der Kreuzungen
  5. The Crossing Out of Egypt. Introductory Essay 3
  6. The Word and Allegory; or, Origen on the Jewish Question 31
  7. Die Auffaltung der ‚mysteria involuta‘. Ritual und Allegorese in Diagrammen zum Liturgiekommentar Lothars von Segni 67
  8. Allegories of International Order in Early Modern Europe 88
  9. Sektion II. Die Allegorie im Feld ihrer Konkurrenzbegriffe
  10. Allegorie: ‚Ostentation der Faktur ‘ und ‚Theorie‘. Einleitung 113
  11. ‚Enigmata‘ : Überlegungen zur Vielsinnigkeit der Allegorese. Kommentar zu Augustinus’ Kommentar von Korinther 13,12 136
  12. Gleichnisse , Typen, Hieroglyphen, Machtworte. Umschriften der Allegorie in der Bibelexegese des 18. Jahrhunderts 158
  13. Faltenfallen sichten. Betrachtungen zum Allegorischen angesichts von Karl Philipp Moritz’ Vorbegriff e zu einer Theorie der Ornamente 181
  14. Souveränität oder Allegorie. Zur Phänomenologie der theatralisch-allegorischen Einstellung in Walter Benjamins Trauerspielbuch 211
  15. Die Wiederkehr der Allegorie in der Ästhetik der Avantgarde. Baumgarten in der Vorgeschichte des New Criticism 244
  16. Allegorie und Gleichnis im Mann ohne Eigenschaften 273
  17. Cézanne und die Zeit des Stilllebens. Die Entfaltung des Œuvres als Allegorie der Gattungsgeschichte 303
  18. Sektion III. Politik der Allegorie
  19. Die Gegen-Öffentlichkeit der Allegorie. Einleitung 335
  20. Allegorie und Aisthesis. Zur Genealogie von Alteritätsagenturen 354
  21. Topopoetik der Herrschaft. Allegorische Ökonomien bei Spenser und Shakespeare 382
  22. Der Zuckerguss der Wahrheit. Zur Verbindung von Allegorie und Verstellung im Barock 414
  23. Gewalt der Allegorie/Allegorie der Gewalt. Corneilles Horace (1641) und der Funktionswandel des Allegorischen im Zeichen der Klassik 442
  24. Ästhetische Erziehung und die Politik der Allegorie. Rousseau – Schiller – Rancière 469
  25. „Schlusen“: Effi Briest und „die rechte Liebe“ 499
  26. Die Allegorie in der postkolonialen Literatur und Literaturtheorie 528
  27. Sektion IV. Entgrenzungen des Allegorischen: Kunst und Lebenswelt
  28. Entgrenzungen des Allegorischen. Einleitung 559
  29. Allegorie und Prophezeiung 567
  30. „Spielerisch in erdhafter Dingwelt“: Zu Allegorie und Ware bei Benjamin und Simmel 599
  31. Allegorische Dimensionen des Künstlerbuchs und des Buchobjekts. ‚Buchwerke‘ als Allegorien und Meta-Allegorien 625
  32. Allegorien des Profanen im Fremden in Pasolinis Werk nach 1968 651
  33. Schrift und Sediment. 674
  34. Bateau/Tableau/Drapeau. On Eran Schaerf ’s and Eva Meyer’s Pro Testing and the Contemporary Politics of Allegory 697
  35. Tafelteil 729
  36. Personenregister 785
  37. Sachregister 793
Heruntergeladen am 14.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/9783110333657-020/html?lang=de&srsltid=AfmBOophuB2StcUmbBAyfg495tfjxaNWH5yGByLyXJlEfr33DjABz1ZA
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