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Briefe an Bertolt Brecht, 1934

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123Jahrgang 1934Bernard von Brentano an Bertolt Brecht[Küsnacht bei Zürich] 3.1.19343.1.34Lieber Freund.Dank für Ihren Brief1, der ganz glatt ankam, man muss dies, denke ich genau kontrol-lieren. Ein Exemplar des Buches2 geht Ihnen noch zu. Dank im voraus, wenn Sie was dafür tun können. Ferner folgt ein neuer Artikel des Schwerdt.3Ihren Formulierungen über Diktatur4 stimme ich nicht ganz zu. Dieses Wort ist gegen-wärtig völlig sinnleer und muss neu hergestellt werden. Für die Diktatur der Klasse bin ich auch, aber nicht für die der Clique. Dass gegenwärtig die von gott und der welt verratenen und verlassenen Arbeiter nach Diktatur rufen, um es den gegenwärtigen Herren mit glei-cher Münze heimzuzahlen, ist sehr verständlich, aber ob es politisch ist, bezweifle ich sehr.„Die Demokratie, schrieb der alte Illitsch 1916 wird erst dann verschwinden können, wenn der siegreiche Sozialismus dem vollständigen Kommunismus weichen wird!“5 man muss dies alles wieder lesen.Dabei kann man wenig davon benutzen, aber es klärt den Kopf.Obendrein haben wir Zeit! Das Bündnis zwischen Hitler und dem gegenwärtigen ZK ist zu nützlich für H. Mir liegt ein deutsches Flugblatt vor (dessen Text übrigens auch in der Rundschau6 erschien). Dort proklamiert kein geringerer als das Politbüro des ZK der KP dass, wenn die Arbeiter an die Macht kommen, man folgendes tun wird: man wird die – Eisenbahnen enteignen! (wem eigentlich?) man wird die Verschuldung der Arbeiter (!) an – die Banken aufheben. man wird die staatlichen Niederlagen von Lebensmitteln gratis den Erwerbslosen übereignen (da es staatliche Niederlagen von L nur in Russland gibt wird 1Vgl. B. an Brentano, Ende Dezember 1933, GBA 28, S. 397f.2Berliner Novellen, Zürich 1934. Vgl. Brentano, 18.10.1933.3glicherweise der KPD-Politiker Paul Schwerdt (1899–1959). Brecht antwortete Brentano Ende Januar 1934, er habe den „in Aussicht gestellten Beitrag von Schwerdt [...] noch nicht bekommen“ (GBA 28, S. 410). Genaueres konnte nicht ermittelt werden.4„Durchsetzen“, meinte Brecht, „kann man den Sozialismus nur durch Diktatur; das Wort wollen die Bonzen nicht hören, seit alters, wie alle Diktatoren! In Wirklichkeit ist schon die wirklich angreifen-de, sich in die Produktion (nicht nur die Konsumtion) mischende Anwendung der Demokratie eine Diktatur, wenn die arbeitende Bevölkerung aus Arbeitern und Bauern besteht!“ (GBA 28, S. 397.)5In seinem Aufsatz „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ (1916) schrieb Wladimir Iljitsch Lenin: „Der siegreiche Sozialismus muß die volle Demokratie ver-wirklichen [...]. Allerdings ist die Demokratie eine Staatsform, die mit dem Absterben des Staates überhaupt ebenfalls verschwinden muß. Das aber wird erst dann eintreten, wenn der siegreiche Sozialismus dem vollständigen Kommunismus weichen wird.“ (W.I. Lenin, Werke, Bd. 22, Berlin 1960, S. 144f.)6Vgl. Anm. zu Brentano, 23.7.1933.

123Jahrgang 1934Bernard von Brentano an Bertolt Brecht[Küsnacht bei Zürich] 3.1.19343.1.34Lieber Freund.Dank für Ihren Brief1, der ganz glatt ankam, man muss dies, denke ich genau kontrol-lieren. Ein Exemplar des Buches2 geht Ihnen noch zu. Dank im voraus, wenn Sie was dafür tun können. Ferner folgt ein neuer Artikel des Schwerdt.3Ihren Formulierungen über Diktatur4 stimme ich nicht ganz zu. Dieses Wort ist gegen-wärtig völlig sinnleer und muss neu hergestellt werden. Für die Diktatur der Klasse bin ich auch, aber nicht für die der Clique. Dass gegenwärtig die von gott und der welt verratenen und verlassenen Arbeiter nach Diktatur rufen, um es den gegenwärtigen Herren mit glei-cher Münze heimzuzahlen, ist sehr verständlich, aber ob es politisch ist, bezweifle ich sehr.„Die Demokratie, schrieb der alte Illitsch 1916 wird erst dann verschwinden können, wenn der siegreiche Sozialismus dem vollständigen Kommunismus weichen wird!“5 man muss dies alles wieder lesen.Dabei kann man wenig davon benutzen, aber es klärt den Kopf.Obendrein haben wir Zeit! Das Bündnis zwischen Hitler und dem gegenwärtigen ZK ist zu nützlich für H. Mir liegt ein deutsches Flugblatt vor (dessen Text übrigens auch in der Rundschau6 erschien). Dort proklamiert kein geringerer als das Politbüro des ZK der KP dass, wenn die Arbeiter an die Macht kommen, man folgendes tun wird: man wird die – Eisenbahnen enteignen! (wem eigentlich?) man wird die Verschuldung der Arbeiter (!) an – die Banken aufheben. man wird die staatlichen Niederlagen von Lebensmitteln gratis den Erwerbslosen übereignen (da es staatliche Niederlagen von L nur in Russland gibt wird 1Vgl. B. an Brentano, Ende Dezember 1933, GBA 28, S. 397f.2Berliner Novellen, Zürich 1934. Vgl. Brentano, 18.10.1933.3glicherweise der KPD-Politiker Paul Schwerdt (1899–1959). Brecht antwortete Brentano Ende Januar 1934, er habe den „in Aussicht gestellten Beitrag von Schwerdt [...] noch nicht bekommen“ (GBA 28, S. 410). Genaueres konnte nicht ermittelt werden.4„Durchsetzen“, meinte Brecht, „kann man den Sozialismus nur durch Diktatur; das Wort wollen die Bonzen nicht hören, seit alters, wie alle Diktatoren! In Wirklichkeit ist schon die wirklich angreifen-de, sich in die Produktion (nicht nur die Konsumtion) mischende Anwendung der Demokratie eine Diktatur, wenn die arbeitende Bevölkerung aus Arbeitern und Bauern besteht!“ (GBA 28, S. 397.)5In seinem Aufsatz „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ (1916) schrieb Wladimir Iljitsch Lenin: „Der siegreiche Sozialismus muß die volle Demokratie ver-wirklichen [...]. Allerdings ist die Demokratie eine Staatsform, die mit dem Absterben des Staates überhaupt ebenfalls verschwinden muß. Das aber wird erst dann eintreten, wenn der siegreiche Sozialismus dem vollständigen Kommunismus weichen wird.“ (W.I. Lenin, Werke, Bd. 22, Berlin 1960, S. 144f.)6Vgl. Anm. zu Brentano, 23.7.1933.
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