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Friedrich Schleiermacher zwischen Reform und Restauration. Politische Konstellationen, theoretische Zugänge und das Berliner Stadtleben

  • Carsten Voswinkel
Published/Copyright: January 16, 2025

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Blumrich Elisabeth, Gerber Simon, Schmidt Sarah (Hg.), Friedrich Schleiermacher zwischen Reform und Restauration. Politische Konstellationen, theoretische Zugänge und das Berliner Stadtleben, Schleiermacher-Archiv, Band 36. Berlin, Boston: De Gruyter, 2023, XVI, 211 S., Gebunden, € 99,95, ISBN 978-3-11-105981-5.


Der zu besprechende Band versammelt die Beiträge eines interdisziplinären Symposiums der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aus dem Mai 2021 zu Friedrich Schleiermachers Wirken in seiner zweiten Berliner Zeit, vor allem in den 1810er Jahren. Das Stichwort ‚interdisziplinär‘ erweist sich als präzise Bezeichnung für die Bündelung ganz unterschiedlicher Perspektiven, die es unbedingt braucht, um dem Forschungsgegenstand Friedrich Schleiermacher gerecht werden zu können.

Bekanntlich hat Schleiermacher in seiner Konzeption der Wissenschaften den bereits aufeinander bezogenen spekulativen Grundwissenschaften der Physik und Ethik jeweils eine empirische Disziplin in Form der Naturkunde und Geschichtskunde als notwendiges Komplement zugeordnet und zwischen Ethik und Geschichtskunde eine Reihe sogenannter technischer und kritischer Disziplinen platziert, die zwischen Begriff und Geschichte vermitteln, woraus ein Zusammenhang aus wechselseitig aufeinander angewiesenen und aufeinander verweisenden Disziplinen entsteht.

Wie Begriff und Geschichte sind auch Schleiermachers wissenschaftliches Werk und sein Leben aufeinander bezogen. Die Herausgeber betonen eingangs, „wie eng Schleiermachers wissenschaftliche Werke und die Genese ihrer Systematik mit seinem konkreten Handeln als Wissenschafts- und Kirchenpolitiker, als Gemeindeleiter und Prediger, aber auch als Freund, Kollege und Familienmensch verzahnt sind“ (1). Der Aufgabe, dieser Konfiguration auf den Grund zu gehen und sie interdisziplinär aus verschiedenen Blickwinkeln und Fachrichtungen zu beleuchten, ist dieser Band gewidmet.

Dabei zeigt sich auf erfreuliche und höchst instruktive Art und Weise dieser Band selbst als Hybrid, der nicht nur Theorie und Praxis Schleiermachers theoretisch zu durchdringen sucht, sondern Anschauungsmaterial der Praxis darbietet im Hinblick auf die vielseitige und intensive Schleiermacherforschung dervergangenen Jahrzehnte, wie sie in Berlin und darüber hinaus an Schleiermacher-Forschungsstellen und Universitäten betrieben wird. Dabei ist unbedingt an die seit den 1970er Jahren laufende Arbeit an der Kritischen Gesamtausgabe zu denken (ein Überblick über die Stand Januar 2023 in fünf Abteilungen erschienenen 62 [!] Bände findet sich auf S. 197–199).

In vier Sektionen geht es um „Politische Konstellationen und theoretische Zugänge“, um „Kirchenpolitik und kirchliche Praxis“, um „Kunst und Kultur in Berlin“ und um „Netzwerke und Wege“. Einen zusammenfassenden Überblick der einzelnen Beiträge gibt die Einleitung von Elisabeth Blumrich, Simon Gerber und Sarah Schmidt (1–8). Im Folgenden sei in leicht veränderter Reihenfolge dargestellt, wie sich in und entlang der Beiträge die Charakteristik und Geschichte der Schleiermacherforschung sowie der fortwährende Bezug zwischen Theorie und Praxis, Forschung und Leben selbst anschaulich machen.

Dies nimmt seinen Beginn, wenn Akademiepräsident Christoph Markschies in seinem Grußwort (IX–XIII) darauf verweisen kann, dass Schleiermacher selbst dieser Akademie, freilich unter anderem Namen, einst als Präsident vorstand. In die Geschichte der Schleiermacherforschung, und ganz besonders der Kritischen Gesamtausgabe, eingeschrieben sind die Namen der im Jahr 2020 verstorbenen Editoren und Schleiermacherforscher Günter Meckenstock und Wolfgang Virmond, deren gedacht wird durch Andreas Arndt (XV–XVI), langjähriger Wegbegleiter und derzeitiger Projektleiter der Berliner Forschungsstelle.

Virtuos in der Verschränkung von Forschungsperspektiven, Kontextualisierung und Darstellung von Leben und Werk sind die ersten beiden Beiträge. Wolfgang Neugebauer (11–30) greift aktuelle geschichtswissenschaftliche Forschungsperspektiven auf „Schleiermachers“ Preußen auf, die angesichts der Vielstimmigkeit der Impulse und Bemühungen im preußischen Reformprozess Skepsis gegenüber der Fokussierung auf einzelne große Personen anmahnen. Aus dieser Polyphonie wird die nicht immer heitere Stimme Schleiermachers, der im Übrigen sowohl eine Theorie des großen Mannes und Staatsgründers entwirft als auch in seiner Staatstheorie den Beginn des legislativen Prozesses im Volk verortet, angehört. Sarah Schmidt (30–56) skizziert zunächst Schleiermachers theoretische Reflexion des Wissens, die nicht nur auf den Prozess der Wissensgewinnung blickt, sondern diesen zugleich als institutionalisierten, gemeinschaftlichen Vollzug in die Ethik einordnet. Dies wird historisch in die wissenschaftspolitischen Debatten seiner Zeit eingetragen, Schleiermachers eigenes Votum kommt zu Wort, bevor anhand der Causa de Wette der Streit um die Freiheit der Wissenschaft mit Schleiermachers prominenter Involvierung exemplarisch und konkret demonstriert werden kann.

Der selbst als Pfarrer praktisch tätige und langjährige Mitherausgeber der Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch Bernhard Schmidt (109–133) zeigt in Bezug auf die Musik Schleiermachers Verzahnung von theologischer Theorie und seiner kirchlichen Praxis an der Dreifaltigkeitskirche und gibt Einblick in Schleiermachers Geschmack, was das übrige Musikleben betrifft. In ähnlicher thematischer Richtung, nun auch interdisziplinär im Hinblick auf den Forschungsgegenstand, vergleicht Klaus Gerlach Schleiermachers Ansichten des Theaters mit denen Ifflands (135–145).

Die Berücksichtigung von Theorie und Praxis vor ihrem historischen Hintergrund setzt sich fort, stärker kommt im Folgenden noch die kontinuierliche Praxis der Schleiermacherforschung selbst zum Vorschein. Im Hinblick auf die fortlaufende Arbeit an der Kritischen Gesamtausgabe und auf die ebenso seit Längerem geführte Diskussion um die Stellung der Disziplin der Psychologie in Schleiermachers Wissenschaftssystem ist Andreas Arndts Beitrag (57–68) zu lesen, der seine frühere Einordnung der Psychologie als Komplement der rationalen Psychologie in der Dialektik im Gespräch mit der aus editorischer Tätigkeit erwachsenen Arbeit Dorothea Meiers zu Schleiermachers Vorlesungen über die Psychologie vertieft. Arnulf von Scheliha (93–105) führt anhand Schleiermachers Predigten über den christlichen Hausstand die sozialethisch interessierte Interpretation Schleiermachers weiter, die er unter anderem im Zusammenhang mit dem derzeit an mehreren Standorten betriebenen Großprojekt der Hybridedition der Vorlesungen Schleiermachers über Christliche Sittenlehre verfolgt.

Gleichsam zwischen der Tätigkeit als akademischer Theologe und kirchlicher Prediger steht Schleiermachers theologisch gesättigtes kirchenpolitisches Engagement für die Reform der preußischen Kirche, das Simon Gerber (71–91) in Schleiermachers Selbstauskunft in Form seiner Briefe, an deren noch laufender Edition Gerber selbst maßgeblich arbeitet, darstellt. Holden Kelm (147–164), der die kritische Ausgabe der Vorlesungen über die Ästhetik besorgt hat, bezieht ebendiese Ästhetik nun auf Schleiermachers Wirkungsstätte Berlin, konkret auf die Architektur des historischen Zentrums.

Wurde in den zuletzt genannten Beiträgen die bereits geleistete Forschung und Editionstätigkeit aufgegriffen, um sie in neue Kontexte einzuschreiben oder Diskurse zu intensivieren, zeigen die beiden letzten Beiträge aus der Sektion „Netzwerke und Wege“ die Möglichkeiten auf, die die (digitale) Edition mit sich bringt.

Mit „Bewegungsradius“ (169) zurückhaltend beschrieben, lässt die mit der Edition von Schleiermachers Tageskalendern betraute Elisabeth Blumrich (169– 181) anhand der Tageskalender Schleiermachers gesellige und nicht zuletzt läuferische Umtriebigkeit in Berlin vor dem geistigen Auge auferstehen. Welchen Wert gerade der Einsatz digitaler Tools, konkret die (Informations-)Visualisierung, für die Edition wie für die Forschung haben kann, zeigen in einem unbedingt zuzustimmenden Beitrag in Bezug auf Schleiermachers derzeit bearbeitete Briefkorrespondenz Lou Klappenbach, Frederike Neuber, Jan Wierzoch (183–195).

Entlang der Aktualisierung von Forschungsperspektiven, der Vertiefung und Anwendung von Forschungsresultaten und der Erneuerung der Forschungsmethoden durch die Digitalisierung zeigen die durchweg starken und in ihrer Multiperspektivität überaus erhellenden Beiträge nicht nur die angesprochene Vielschichtigkeit Schleiermachers, sondern darüber hinaus den Wert und Nutzen der kontinuierlichen, konzentrierten und kooperativen Erforschung Friedrich Schleiermachers.

Published Online: 2025-01-16
Published in Print: 2024-12-15

© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston, Germany

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Downloaded on 2.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/znth-2024-0020/html
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